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«Der Engländer da, bei Ernestina», sagte sie und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung eines Pärchens, das in einer Ecke des luxuriös ausgestatteten Klubs beisammensaß. «Der erinnert mich an Sie, Señor Hausner.»
Doña Marina kannte mich nicht besser als jeder andere auf Kuba, oder vielleicht doch, weil uns mehr als bloß eine nette Bekanntschaft verband: Doña Marina besaß das größte und beste Bordell in ganz Havanna.
Der Engländer war groß, hatte hängende Schultern, blassblaue Augen und ein trauriges Gesicht. Er trug ein kurzärmeliges blaues Leinenhemd, eine graue Baumwollhose und blitzblanke schwarze Schuhe. Ich hatte das Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben, in der Floridita Bar oder vielleicht in der Lobby des Hotel Nacional. Aber mehr als der Engländer interessierte mich in diesem Moment die neue, halbnackte chica auf seinem Schoß, die sich gelegentlich an seiner Zigarette bediente, während er vergnügt ihre kolossalen Brüste in den Händen wog, als versuchte er, den Reifegrad zweier Pampelmusen einzuschätzen.
«Inwiefern?», fragte ich und musterte mich in dem großen Wandspiegel, auf der Suche nach einer Gemeinsamkeit zwischen uns, abgesehen von der Hochachtung vor Ernestinas Brüsten, auf denen sich deutlich die großen dunklen Brustwarzen abzeichneten.
Das Gesicht, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte, war breiter als das des Engländers, das Haar voller, aber beide waren wir um die fünfzig und vom Leben gezeichnet. Möglicherweise dachte Doña Marina, dass unsere Mienen nicht nur gelebtes Leben verrieten, sondern auch eine Spur von schlechtem Gewissen und Komplizenschaft erkennen ließen, als hätte keiner von uns beiden das getan, was er hätte tun müssen oder, schlimmer noch, als lebte jeder von uns mit einer geheimen Schuld.
«Sie beide haben die gleichen Augen», sagte Doña Marina.
«Ach, Sie meinen, sie sind blau», sagte ich, obwohl ich ahnte, dass sie das wahrscheinlich ganz und gar nicht meinte.
«Nein, das ist es nicht. Sie und Señor Greene sehen die Menschen auf eine bestimmte Art und Weise an. Als würden Sie in sie hineinblicken. Wie ein Spiritist. Oder vielleicht wie ein Polizist. Sie haben beide diesen durchdringenden Blick, als würden Sie jeden Menschen sofort durchschauen. Das kann einen richtig verunsichern.»
Es war kaum vorstellbar, dass Doña Marina sich von irgendwas oder irgendwem verunsichern ließ. Sie wirkte immer so entspannt wie eine Eidechse auf einem sonnenwarmen Felsen.
«Señor Greene, also?» Es überraschte mich nicht, dass Doña Marina keinen Hehl aus seiner Identität machte. Die Casa Marina war keines der Häuser, die man lieber unter falschem Namen betrat. Im Gegenteil, man brauchte Referenzen, um überhaupt eingelassen zu werden. «Vielleicht ist er ja Polizist. Würde mich nicht wundern, bei den großen Füßen.»
«Er ist Schriftsteller.»
«Was schreibt er denn?»
«Romane. Western, glaube ich. Er hat mir erzählt, dass er unter dem Namen Buck Dexter schreibt.»
«Nie von ihm gehört. Lebt er auf Kuba?»
«Nein, in London. Aber er kommt immer vorbei, wenn er in Havanna ist.»
«Ein Weltenbummler, was?»
«Ja. Anscheinend ist er gerade auf der Durchreise nach Haiti.» Sie lächelte. «Fällt Ihnen noch immer keine Gemeinsamkeit auf?»
«Nein, eigentlich nicht», erklärte ich mit Nachdruck und in der Hoffnung, dass sie das Thema wechseln würde.
«Wie lief es heute mit Omara?»
Ich nickte. «Gut.»
«Sie gefällt Ihnen, ja?»
«Sehr.»
«Sie ist aus Santiago», sagte Doña Marina, als würde das alles erklären. «Meine besten Mädchen kommen aus Santiago. Sie sehen von allen Mädchen auf Kuba am afrikanischsten aus. Darauf scheinen die Männer zu fliegen.»
«Da will ich nicht widersprechen.»
«Ich glaube, das hat damit zu tun, dass schwarze Frauen im Gegensatz zu weißen Frauen ein Becken haben, das fast so breit ist wie bei einem Mann. Ein anthropoides Becken. Und ehe Sie mich fragen, woher ich das weiß, ich war mal Krankenschwester.»
Das passte ins Bild. Doña Marina legte großen Wert auf Gesundheit und Hygiene, und zum Personal in ihrem Haus am Malecón gehörten zwei ausgebildete Krankenschwestern, die mit allem fertigwurden, vom Tripper bis zum Herzinfarkt. Es hieß, man hätte in der Casa Marina bessere Chancen, einen Herzstillstand zu überleben, als in der Universitätsklinik von Havanna.
«Santiago ist der reinste Schmelztiegel», fuhr sie fort. «Jamaikaner, Haitianer, Dominikaner, Bahamaer - eine karibische Stadt. Und natürlich gibt es nirgendwo auf Kuba mehr Rebellion. Jede Revolution beginnt in Santiago. Vielleicht liegt es daran, dass die Leute, die dort leben, alle auf die eine oder andere Art miteinander verwandt sind.»
Sie steckte eine Zigarette in eine kleine bernsteingelbe Zigarettenspitze und zündete sie mit einem hübschen Tischfeuerzeug an.
«Wussten Sie zum Beispiel, dass Omara mit dem Mann verwandt ist, der sich in Santiago um Ihr Boot kümmert?»
Mir schwante allmählich, dass Doña Marina mit ihrer Plauderei auf etwas Bestimmtes hinauswollte, denn nicht nur Mr. Greene zog es nach Haiti, sondern auch mich. Allerdings hatte meine Reise eigentlich geheim bleiben sollen.
«Nein, wusste ich nicht.» Ich sah auf die Uhr, doch ehe ich verkünden konnte, dass es Zeit zu gehen sei, hatte Doña Marina mich schon in ihren privaten Salon bugsiert und bot mir einen Drink an. Und da sie von meinem Boot wusste, sollte ich mir wohl besser anhören, was sie zu sagen hatte. Also nahm ich dankend an.
Sie holte einen in der Flasche gereiften Rum und goss mir großzügig ein.
«Auch Mister Greene schätzt unseren Havanna-Rum», bemerkte sie.
«Ich finde, Sie sollten jetzt zur Sache kommen», sagte ich. «Sie nicht auch?»
Sie tat es.
So kam es, dass etwa eine Woche später eine junge Frau auf dem Beifahrersitz meines Chevys saß, als ich in südwestlicher Richtung auf Kubas meistbefahrenem Highway nach Santiago fuhr, ans andere Ende der Insel. Die Ironie entging mir nicht. Ich war drauf und dran, einem Geheimpolizisten zu entwischen, der mich erpressen wollte, und war dabei an eine Puffmutter geraten, die viel zu clever war, um mir offen zu drohen, mir aber einen Gefallen abverlangte, den ich ihr nur äußerst ungern tat: nämlich eine chica aus einer anderen casa in Havanna auf meinen «Angelausflug» nach Haiti mitzunehmen. Mit Sicherheit kannte Doña Marina Leutnant Quevedo und wusste auch, dass er von meinem kleinen Bootstrip keineswegs begeistert wäre. Was sie höchstwahrscheinlich nicht wusste, war, dass er gedroht hatte, mich nach Deutschland abzuschieben, wo ich wegen Mordes gesucht wurde, wenn ich mich nicht bereit erklärte, den Unterweltboss Meyer Lansky auszuspionieren, der mein Arbeitgeber war. Jedenfalls blieb mir kaum was anderes übrig, als ihrer Bitte nachzukommen, auch wenn ich auf eine derartige Beifahrerin liebend gern verzichtet hätte. Melba Marrero wurde nämlich im Zusammenhang mit dem Mord an einem Polizeihauptmann gesucht, und Doña Marina hatte Freunde, die Melba so schnell wie möglich von der Insel schaffen wollten.
Melba Marrero war Anfang zwanzig, allerdings gab sie sich gern älter. Ich vermute, sie wollte einfach ernst genommen werden, und vielleicht hatte sie ja Hauptmann Balart erschossen, weil er es nicht getan hatte. Wahrscheinlicher ist, dass sie ihn erschossen hatte, weil sie mit Castros kommunistischen Rebellen in Verbindung stand. Sie hatte kaffeebraune Haut und ein fein geschnittenes, knabenhaftes Gesicht mit einem angriffslustigen Kinn. In ihren dunklen Augen schien ständig ein Gewitter aufzuziehen. Ihr Haar war nach der italienischen Mode geschnitten - kurz und stufig mit ein paar zarten, ins Gesicht gekämmten Locken. Sie trug eine schlichte weiße Bluse, eine enge beige Hose, einen hellbraunen Ledergürtel und farblich passende Handschuhe. Sie sah aus, als würde sie gleich auf ein Pferd steigen, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie das Pferd vor Freude laut wieherte.
«Warum fahren Sie kein Cabrio?», fragte sie, als wir kurz vor Santa Clara waren, wo wir unseren ersten Zwischenstopp einlegen wollten. «Für Kuba braucht man ein Cabrio.»
«Ich mag keine Cabrios. Damit erregt man Aufmerksamkeit. Und ich bin nicht scharf drauf, Aufmerksamkeit zu erregen.»
«Aha, dann sind Sie wohl schüchtern, was? Oder haben Sie irgendwas ausgefressen?»
«Weder noch. Ich werde nur nicht gern beobachtet.»
«Haben Sie eine Zigarette?»
«Im Handschuhfach ist ein Päckchen.»
Sie öffnete mit einem kräftigen Fingerdruck die Klappe und ließ sie herunterfallen.
«Old Gold. Ich mag keine Old Gold.»
«Du magst mein Auto nicht. Du magst meine Zigaretten nicht. Was magst du eigentlich?»
«Wen interessiert das schon.»
Ich schielte zu ihr rüber. Ihr Mund schien sich permanent zu einem Fletschen verziehen zu wollen, und dieser Eindruck wurde durch die kräftigen weißen Zähne noch verstärkt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass irgendwer sie anfassen konnte, ohne dabei einen Finger zu verlieren. Sie seufzte, verschränkte die Hände und schob sie zwischen die Knie.
«Erzählen Sie mir Ihre Geschichte, Señor Hausner.»
«Ich habe keine.»
Sie zuckte die Achseln. «Aber bis Santiago sind es noch über tausend Kilometer.»
«Lies doch ein Buch.» Ich wusste, dass sie eins mithatte.
«Gute Idee.» Sie öffnete ihre Handtasche, nahm eine Brille und ein Buch heraus und fing an zu lesen.
Nach einer Weile gelang es...
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