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Die Speisekarte zu schreiben und dann die fertige Vorlage auf dem dicken grauen, fast transparenten Papier, das aussah wie aus einem Architekturbüro geklaut, in den nächsten Printshop zu bringen war jeden Morgen Eves Aufgabe. Während die Karte in Arbeit war, hatte Eve normalerweise nichts weiter zu tun, als in ein Village-Café auf der anderen Straßenseite zu gehen, einen Espresso zu trinken und einen Blick in die New York Daily News zu werfen. Das war für sie der einzige wirklich entspannte Moment des Tages. Heute Morgen jedoch begann ihre Entschlackungskur, und das hieß zweiundsiebzig Stunden keinen Kaffee. Außerdem wurde der Scanner im Printshop gerade gewartet, weshalb Mister Jamal, der Inhaber, erklärte, er werde die Speisekarten persönlich vorbeibringen, sobald sie fertig seien. Und aus irgendeinem Grund war heute die Daily News nicht gekommen. Was alles zusammen bedeutete, dass Eve nur etwa zehn Minuten außerhalb des Restaurants verbracht hatte statt wie sonst eine Stunde. Aber das machte ihr im Grund nichts aus. Es galt, eine Ladung Krebse zu töten, und das tat sie lieber auf die sanfte Art, indem sie die Tiere in kaltes Leitungswasser legte, statt sie, wie so viele Köche, lebendig zu kochen. Sie auf diese Weise zu töten dauerte länger, aber Eve konnte den Gedanken nicht ertragen, dass irgendeine Kreatur ihretwegen leiden musste. Sie hätte ja gar keine Krebse gekocht, aber Brad, ihr Mann, hatte darauf bestanden, mit dem nicht ganz von der Hand zu weisenden Argument, ein New Yorker Restaurant, das im Sommer keine Krebse führte, würde bald Pleite gehen.
Wenn sie diese Aufgabe vor sich hatte, war Eve immer still und in sich gekehrt, deshalb dachte sie zunächst, es hätte sie einfach niemand ins Restaurant zurückkommen hören. Aber da war keine Spur von Brad, ihrem Mann, und Lorraine, der Frühschichtbedienung, die morgens die Teppiche saugte, die Tische deckte und manchmal auch Reservierungen entgegennahm. Es sah ganz so aus, als seien die beiden irgendwohin verschwunden.
Eve versuchte, nicht drüber nachzudenken, und ging direkt in die Küche, wo die Kiste mit lebenden Krebsen immer noch auf dem Fußboden stand. Die flehend zwischen den Holzlatten hindurchgestreckten Scheren erinnerten sie wie immer an den Holocaust, an die Viehwaggons voller Juden, die quer durch Europa ratterten, zu den Vernichtungslagern. Was war sie, Eve, anderes als ein Küchen-Eichmann? Die Aussicht, drei Dutzend Krebse zu Tode zu befördern, und sei es auf ihre sanfte Art, machte sie gereizt und deprimiert. Das war alles Brads Schuld. Warum konnte er sie nicht selbst töten? Natürlich kannte sie die Antwort. Brad machte es nichts aus, Krebse zu töten, so wenig wie die Vorstellung, ihnen Pein zuzufügen. Er warf sie einfach in kochendes Wasser und verhöhnte sie, Eve, mit einem brutalen, verächtlichen Lachen wegen ihrer zimperlichen Grimassen und zugehaltenen Augen. Das konnte Eve nicht ertragen.
«Wenn du sie auf humane Art getötet haben willst, musst du's selbst machen», brüllte er dann. «Ich habe keine Zeit, den Dr. Kervorkian für eine Ladung gottverdammte Krebse zu spielen. Ich betreibe hier ein Restaurant und keine Tierklinik.»
Eve band sich die Schürze um und ließ den größten Topf mit kaltem Wasser voll laufen. Dann ging sie die Brechstange holen, um die Kiste aufzustemmen; Brad, der sich um den Weinkeller kümmerte, bewahrte das Ding normalerweise dort unten auf.
Kennen gelernt hatte sie ihren Mann, als sie beide am Golf gewesen waren. Major DeLillo, Panzerkommandant unter Major General Barry McCaffrey, hatte vor, aus der Army auszuscheiden, um das italienische Restaurant seines alten Vaters zu übernehmen. Doch zuerst brauchte er eine Frau, und da kam Eve, zu der Zeit Captain der Army, ins Spiel. Sie heirateten, nahmen ihren Abschied von der Army, machten für siebzehntausend Dollar am McIntosh College in Dover, New Hampshire, einen Lehrgang, der mit dem Cordon-Bleu-Diplom abschloss, und arbeiteten dann in dem Restaurant, bis sie es 1995, als Brads Vater starb, schließlich übernahmen. Rund vier Jahre lief alles bestens. Während Brad die Gäste begrüßte, Wein servierte, letzte Hand an Pastasaucen legte und Zabagliones zauberte, wie es ihn sein Vater gelehrt hatte, wirkte Eve in der Küche Wunder. Sie war eine exzellente Köchin geworden - das New York Magazine nannte ihren gegrillten Schnappbarsch den «besten von ganz Manhattan» und ihr Lachs-Carpaccio ein «transparentes Mirakel».
Doch ebenso transparent waren für Eve Brads ständige Weibergeschichten: Er konnte dem Anblick eines Serviererinnenhinterns im engen, kurzen schwarzen Rock so wenig widerstehen, wie er es lassen konnte, seine dämlichen Zaubertricks vorzuführen oder von der Torta di nocciole zu naschen. Eve hatte ihr Bestes getan, seine Schäkerei zu ignorieren, so wie sie es vielleicht ignoriert hätte, wenn ein guter Sommelier sich ab und zu beim Wein bedient hätte, und sie versuchte, das Problem praktisch anzugehen, indem sie nur Bedienungen einstellte, die sie für unattraktiv hielt. Doch es gehört zu den leidigen Tatsachen des Lebens, dass es immer ein Fehler ist, in Sachen erotische Anziehung die Reaktionen anderer prognostizieren zu wollen. Kuppelei erfordert ebenso viel Erfahrung und Übung wie die Zubereitung eines perfekten Monte bianco, und Abneigung vorherzusagen, ist manchmal nicht minder schwer. Die meisten Ehefrauen überschätzen den Geschmack ihrer Männer in Bezug auf andere Frauen. «Niemand auf der Welt», bemerkte H. L. Mencken, «hat je dadurch Geld verloren, dass er die Intelligenz der breiten Masse unterschätzte.» Rückblickend hätte Eve vielleicht hinzugefügt: «Oder deren Geschmack in Sachen Frauen.»
Eine Sekunde lang dachte sie, Brad müsse sich verletzt haben, und als sie zur Tür des Weinkellers eilte, durch die ein lautes Stöhnen drang, schlug ihr das Herz im Hals, weil sie sich sicher war, dass das, was sie so oft vorhergesagt hatte, nun endlich eingetreten war. Ein wackliger Turm aus Weinkisten, die auszupacken sie Brad schon so oft gedrängt hatte, musste auf ihn herabgestürzt sein. Doch dann, die Hand schon auf der Türklinke, hielt sie inne, als ein neuerliches Stöhnen, diesmal affirmativerer Natur, an ihr Ohr drang. Das Stöhnen einer Frau. Das war keine Pein, sondern etwas ganz anderes. Leise öffnete sie die Tür einen Spalt und guckte hinein.
Lorraine kniete auf einer Kiste Brunello di Montalcino, der ein 1990er und wohl der beste Wein auf ihrer Karte war. Lorraine war einen halben Kopf größer als Brad. Sie trug eine Brille und zu viel Make-up. In Eves Augen war Lorraines Nase zu mächtig, wie auch ihr Hintern, von dem Eve jetzt mehr als genug sah. Brad stand hinter ihr, mit heruntergelassener Hose, grunzte, als hätte er zu viele Gnocchi gegessen, und klatschte immer wieder mit der flachen Hand auf ihren nackten Arsch, als gälte es, sein Lieblingspferd anzutreiben. Ein Mädchen mit einem solchen Arsch führte Eves gesamte Bemühungen, sich fit zu halten und für ihren Mann hübsch zu bleiben, ad absurdum. Aber das war es nicht, was Eve am meisten verstörte. Und es war auch nicht der träumerische, fast schon ekstatische Ausdruck auf dem attraktiven Gesicht ihres Mannes. Brad genoss das Geschehen ganz offensichtlich. Aber da war noch etwas anderes. Was Eve am meisten verstörte, war, dass im Rhythmus der klatschenden Beckenstöße gegen Lorraines cremeweißes Hinterteil Brad deutlich und mantraartig wiederholte: «Ich lieb dich, lieb dich, lieb dich, lieb dich.»
Tränen in den Augen, schloss Eve leise die Tür und ging wieder nach oben ins Restaurant, wo sie mehrere Minuten bitterlich weinte. Doch so sollten sie sie nicht vorfinden, also wischte sie sich die Tränen weg, schnäuzte sich die Nase, goss sich ein Glas Grappa ein, kippte es mit wenig Genuss hinunter und ging dann in die Toilette, um ihr Make-up in Ordnung zu bringen, ehe sie darauf wartete, dass die beiden wieder heraufkamen.
Sie war eine hoch gewachsene, gut aussehende Frau in den Dreißigern, und das Gesicht, das ihr, von einer präraffaelitischen Flut kastanienbraunen Haars umflossen, aus dem Spiegel entgegenstarrte, war gar nicht übel. Ihre Nase hatte gleich unterhalb der Wurzel einen kleinen Höcker - Folge einer Karate-Trainingssession -, aber der war in keiner Weise hässlich; die meisten Leute fanden, dass er sie erst recht sexy machte. Ihre blauen, tränenfeuchten Augen sahen zwar aus, als hätte ihr jemand roten Cayennepfeffer hineingestreut, aber sie hatte ansprechende Züge, eine hohe Stirn, wenn auch mit den ersten Anzeichen von Missmutsfalten, die sie Brad verdankte, eine Haut, so weich und glatt wie Pistazieneis, und einen Mund, der, Brads Mund nicht unähnlich, so breit und so verlockend war wie ein Schnitz Charentais-Melone. Als sie Schritte in der Küche hörte, öffnete sie die Tür und sah Brad neben der Krebskiste hocken. Jenseits der Küchentür war Lorraine jetzt am Staubsaugen.
Er drehte sich um und sagte: «Hab dich gar nicht zurückkommen hören.» Und dann zu den Krebsen: «Ist wohl Zeit für euer Bad, Jungs. Aber soll euch Daddy baden, oder macht es Mommy?»
«Du Schwein.»
Brad erhob sich und sah sie an. Es gab da im Metropolitan Museum ein Gemälde von Bronzino, das Eve immer an Brad erinnerte: das Porträt eines jungen Mannes, gemalt im Jahr 1550. Bronzinos Modell hatte mehr Haare, vermutlich jedenfalls - wegen der spanischen Mütze war das schwer zu sagen. Ansonsten jedoch sah es aus wie eine jüngere Ausgabe von Brad. Die gleiche coole Lässigkeit. Die gleichen vollen, sinnlichen Lippen, die gleiche kräftige Nase. Die gleichen grazilen...
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