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Irgendwann glaubte Liv Maria zu verstehen, dass die Ehe ihrer Eltern für die Menschen in ihrer Umgebung eine Quelle immer neuer Verwunderung war. Schon allein, dass ein Mädchen von der Insel mit einem Norweger zusammen war, ein Mädchen von hier mit einem Fremden. Dieser große und massige Mann mit diesem Strich in der Landschaft, dieser Koloss, der ständig in seine Bücher vertieft war, mit einer Cafébesitzerin - was konnten die beiden sich schon zu sagen haben? Auch Liv Maria wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie ihre Eltern bis spät in die Nacht über dieses und jenes flüstern hörte. Als kleines Mädchen setzte Liv sich oft geräuschlos oben auf die Treppe im Haus, um ihnen zuzuhören, ohne dass sie jemals den Sinn des Gesagten begriff, als würden ihre Eltern sich ganz selbstverständlich so leise unterhalten, dass sie nur zu verstehen waren, wenn man sich in ihrer Sichtweite befand. So blieb sie auf ihrer hölzernen Stufe sitzen, spitzte schweigend die Ohren und betrachtete ihre Schatten, die das Feuer an die Wand neben ihr warf, während ihr Flüstern sie einlullte - und dennoch erwachte sie am Morgen wie durch Zauber in ihrem ordentlich glatt gezogenen Bett, und weder ihr Vater noch ihre Mutter ließen je ein Wort darüber fallen. Das gehörte einfach zum Familienleben.
Die Überraschung, mit der die anderen auf ihre Eltern reagierten, wischte Liv Maria umstandslos beiseite. Für sie verstand sich ihre Verbindung von selbst. Ihr Vater war ein Leser, und ihre Mutter war eine Heldin. Ihr Vater liebte Geschichten, und ihre Mutter war eine Romanfigur. Jane Eyre, Molly Bloom, Anna Karenina und Mado Tonnerre in ihrem Café, so wie ihr Vater sie zum ersten Mal gesehen hatte an dem Tag, als er dort eingetreten war, um sich die Zeit bis zur Ankunft der Fähre zu vertreiben, die ihn auf das Festland zurückbringen sollte.
Thure Christensen war damals ein einfacher Matrose bei der Handelsmarine, ein Beruf, den er ohne echte Überzeugung ergriffen hatte. Er hatte an Bord eines Containerschiffs angeheuert wie in seinem eigenen Leben, als wollte er einer Metapher Wirklichkeit verleihen, bis er zu sich selbst fand. Er war eine Woche von Bergen aus unterwegs gewesen, dann hatte der Tanker einen Zwischenstopp in der bretonischen Stadt gegenüber der Insel eingelegt. Er hatte eine Fähre genommen, um sich die Insel anzusehen, und nachdem er die Dünen und Buchten entlanggewandert war, hatte er in dem Café-Restaurant-Lebensmittelladen, den die Familie Tonnerre seit jeher besaß, Liv Marias Mutter kennengelernt. Aber es war auch eine Waffenhandlung. Ich bat deine Mutter um eine Tasse Kaffee, und sie schob einige Schachteln beiseite, um an den Zuckerstreuer zu gelangen, und da habe ich gesehen, dass es Munitionsschachteln waren. Das ist Frankreich? Ich kam aus diesem winzigen Dorf in Norwegen, hatte keine Ahnung von der Welt, und das Erste, was ich von fremden Ländern erfuhr, war - anderswo verkauften die Leute in Kaffeehäusern Munition. Ich versuchte noch, die Unterschiede zu meinem eignen Land zu verstehen, und das Erste, was mir auffiel, waren: Kugeln und Porzellan und deine Mutter, die damals noch nicht deine Mutter war.
Liv Maria konnte sich perfekt Thure mit zweiundzwanzig Jahren vorstellen, wie er unschuldig auf seinem Holzhocker saß und auf seinen Kaffee wartete, und plötzlich stand Mado vor ihm, sonnengebräunt, mit ihren durchdringenden Augen und ihren braunen Haaren, erstarrt in der letzten Sekunde, in der er sie betrachtet, bevor er sich in sie verliebt. Ihr Vater hatte ihre Mutter an diesem Tag wie in einem Gemälde gesehen, umgeben von ihren Wahrzeichen - dem Porzellan des Familienbetriebs und den Kugeln für das wilde Heideland, Häuslichkeit und Krieg, Pallas Athene mit ihrer Eule und ihrem Schild. Und vielleicht hatte er undeutlich erkannt, was ihn mit dieser Frau erwartete - ein stürmisches Heim, ein wildes Glück und ein tragisches Ende, aber niemals Langeweile.
Ihr Vater hatte über ihre Mutter bei zwei Gelegenheiten Dinge gesagt, die Liv Maria nie vergessen hatte. Das erste Mal, als sie beide sie am Strand beobachteten, wie sie gebeugt im Sand nach Muscheln suchte: Der Unterschied zwischen deiner Mutter und den anderen Frauen - oder zwischen den Frauen, die ich in Namdalen kannte - ist der gleiche wie der zwischen einem gezüchteten und einem wild wachsenden Apfel. Schau sie an. Sie ist kleiner und härter, man braucht mehr Einfühlungsvermögen, um sie zu lieben. Aber sie ist so, weil nichts und niemand sie in die Knie zwingen kann. Sie schlägt die schwierigen Wege ein, es sind offenbar die einzigen, die sie kennt, und das ist alles. Das zweite Mal eines Abends, als sie alle drei den dreizehnten Hochzeitstag ihrer Eltern feierten - ihre Mutter war in die Küche gegangen, um kleine Löffel für den traditionellen kvaefjordkake zu holen, und ihr Vater hatte sich etwas zu Liv Maria vorgebeugt und ihr mit tränenverschleierten Augen zugeflüstert: Weißt du, ich hatte Glück, dass sie mich geheiratet hat. Ich war wirklich ein absoluter Niemand damals. Ich bin aus heiterem Himmel hier hereingeschneit, meine Hände waren leer, mein Herz war voll. Sie hätte jemand viel Besseren als mich finden können. Das wusste sie ganz genau. Sie hat mir alles beigebracht. Sie hat mir mein Kind geschenkt. Und dafür bin ich ihr ewig dankbar.
Liv Maria wusste nicht genau, was am ersten Tag geschehen war, sie wusste weder, welche Verkettung von Zufällen und Entscheidungen ihren Vater dazu gebracht hatte, bei der Handelsmarine zu kündigen, noch, was ihre Mutter dazu bewogen hatte, auf ihrer beengten Insel und in ihrem so oft beklommenen Herzen diesem jungen Mann einen Platz einzuräumen, der noch nicht ihre Sprache sprach. Was sie hingegen wusste, war, dass sie selbst zwei Jahre später, im Frühling 1970, auf der Insel zur Welt gekommen war. Ihre jungen Eltern hatten sie Liv genannt, ein Vorname, der auf Norwegisch Leben bedeutet, und Maria, weil es auf der Insel Tradition war, Jungen wie Mädchen den Namen der Madonna als Vornamen zu geben, um sie vor dem Ertrinken zu beschützen.
Der Geruch des Halses ihres Vaters, seiner Hände, ein sehr intimer Geruch nach feuchtem Sand und Holzspänen und Gewürzen. Die Kleidung ihres Vaters. Sein Rasierzeug im Badezimmer, seine Holzwerkzeuge im Schuppen. Die Winkel, die Sägen, die Scheren, der Splintentreiber und die Feilen. Leinöl und Terpentin. Sein Schnurrbart. Seine porzellanblauen Augen, sein norwegischer Akzent. Er ähnelte ein wenig Flaubert, war aber viel schöner, fand Liv Maria. Sie hatte es ihm einmal gesagt, mit genau diesen Worten, die die richtigen waren, aber ihr Vater hatte bedauernd den Kopf geschüttelt. So etwas kannst du nicht sagen, Liv Maria. Es ist immerhin Gustave Flaubert.
Ihr Vater war ein Leser, und er hatte auch seine einzige Tochter zu einer Leserin gemacht. Ihre Mutter lehrte sie Härte und Schweigen, ihre Onkel lehrten sie Fischen und gutes Benehmen, aber ihr Vater hatte sie von früh an das Lesen gelehrt.
Als sie noch keine zehn Jahre alt war, setzte er sich abends zu ihr ans Bett, um ihr Die Liebe zum Leben, eine Erzählung von Jack London, vorzulesen. Auch Geschichten von Faulkner, Beckett, Hardy las er ihr vor, einem kleinen Mädchen. Er machte in seiner Auswahl keinen Unterschied zwischen Kinderbüchern und Büchern für Erwachsene, sodass es Liv Maria so vorkam, als existierte keine reale Grenze zwischen ihnen, weder zwischen diesen literarischen Kategorien noch zwischen diesen beiden Epochen des Lebens. Grimms Märchen waren schließlich sehr grausam, während Samuel Beckett, der wortkarge, pessimistische Dramaturg Beckett, in Murphy so bewegende Zeilen über Kekse geschrieben hatte - Passagen, von denen Liv Marias Vater zu Recht geahnt hatte, dass sie ein Kind ansprechen würden, weil die darin aufgeworfenen Fragen (in welcher Reihenfolge sollte man die Kekse essen und warum und was würde die Veränderung bewirken) einen Bezug zu seinem eigenen Alltagsleben hatten. Er nahm die Kekse vorsichtig aus dem Paket und legte sie mit der Oberfläche nach oben ins Gras, in der Reihenfolge, wie er ihre Essbarkeit einschätzte. Es waren die gleichen wie immer: ein Ginger, ein Osborne, ein Digestif, ein Petit Beurre und ein anonymer. Er aß immer den zuerst genannten Keks zuletzt, weil er ihn am liebsten mochte, und den anonymen zuerst, weil er es für sehr wahrscheinlich hielt, dass er am schlechtesten schmeckte. Die Reihenfolge, in der er die übrigen drei aß, war ihm gleichgültig und änderte sich unregelmäßig von Tag zu Tag.
Im Gras liegend, zog Murphy plötzlich in Erwägung, die Reihenfolge seines Keksverzehrs zu verändern, und rechnete aus, dass dann über einhundertzwanzig verschiedene Sequenzen möglich wären. Das war eine wertvolle Lektion über das Leben, diese Geschichte über Ordnung und Appetit, über Regelhaftigkeit und Wagemut, über den Hunger nach Neuem. Im Übrigen endete auch Jack Londons Roman mit einer Geschichte über Kekse, über Schiffszwieback, um genau zu sein, die der Trapper, nachdem er kurz vor dem Verhungern gewesen war, unter seinem Hemd, in seiner Koje und im Innern seiner Matratze auf dem Schiff hortete, auf dem er nach seinen Schicksalsschlägen Aufnahme gefunden hatte. Die Forscher auf dem Schiff durchstöberten heimlich seine Kabine, grinsten und meinten, er werde seinen Tick schon überwinden. Die letzten Zeilen der Erzählung lauteten: Und das tat er auch, noch ehe die Bedford in der Bucht von San Francisco vor Anker ging.
Auch daraus kann man...
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