Schweitzer Fachinformationen
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ELAINE
Das Straßenschild wird sich in mein Gedächtnis einbrennen. Statt über den Pausenplatz eile ich dem Trottoir entlang, dem Wegweiser »Friedhof Fluntern« folgend. Ein Windstoß schubst mich vorwärts, reflexartig schiebe ich meine Hände in die Taschen meines Blazers. Gemäß Wetterprognose sind in der Region Zürich gegen Abend kräftige Sommergewitter zu erwarten. Wie passend, denke ich und blicke mich um, ob weitere Trauergäste aus dem Tram ausgestiegen sind und mir folgen - ich kann jetzt unmöglich mit jemandem reden. Mein Zorn ist noch nicht verraucht, und ich weiß nicht, wohin damit. Das geht nicht nur mir so. Seit dem tödlichen Unfall von letzter Woche herrscht im Schulhaus eine kollektive Schockstarre. Meine Schüler sind kaum wiederzuerkennen: Mit hängenden Köpfen schleichen sie ungewohnt wortkarg durch die Schulkorridore - als ob die jemand auf mute geschaltet hätte. Es ist tatsächlich eine Zumutung, im Alter von fünfzehn Jahren an die eigene Sterblichkeit erinnert zu werden.
Das Friedhofsareal drängt sich noch nicht in mein Blickfeld, sicherheitshalber schaue ich auf meine Armbanduhr: halb zwei. Normalerweise würde mir um diese Zeit Gegröle aus den einzelnen Klassenzimmern entgegenschlagen. Ich würde die Türklinke von Zimmer 28 berühren, und gewisse Schüler würden bei meinem Anblick in ihren Bewegungen innehalten, ihre Gesichter verziehen und sich widerstrebend auf ihre Stühle fallen lassen. Andere säßen bereits still über ihren Büchern. Viktor käme erst nach mir ins Zimmer gehuscht, und ich würde so tun, als merkte ich es nicht. Was würde ich dafür geben, nun lautes Geschrei statt des Gurrens friedhofseigener Tauben zu vernehmen. Ich presse die Lippen zusammen. Werden die Schüler es verkraften? Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben, als den leeren Stuhl im Klassenzimmer zu akzeptieren.
Notgedrungen ignorierte ich das leise Gefühl in mir, dass etwas nicht stimmte; denn Wahrnehmungen dieser Art geben auf einer Polizeidienststelle wenig her. Die verstohlenen Blicke, das Flüstern hinter vorgehaltener Hand und die damit verbundene stille Resignation einzelner Schüler habe ich zwar mitbekommen, speicherte die Summe dieser Eindrücke jedoch erst mal ab, ohne ihnen konkret nachzugehen. Mitten im durchgeplanten Schulalltag hat man als Lehrerin kaum Zeit für so was, zumindest nicht an gewissen Tagen: Wenn alles drunter und drüber läuft und man die verhassten Elterninfotage vorbereiten muss und zeitgleich noch vierundzwanzig Aufsätze korrigieren sollte. Insbesondere nicht, wenn im Mail-Postfach mal wieder eine einschüchternd formulierte Anfrage einer Mutter - in Kopie an die Schulleitung - auf Antwort wartet. Womöglich hätte ich gar nicht richtig hingehört. Man nimmt wahr, was man wahrnehmen will. Für Zwischentöne macht man keine Überstunden.
Doch ist eine der Schülerinnen nun tot.
Die innere Stimme in mir ist aktiviert und fragt: Wer trägt die Schuld?
Wie uns die Polizei mitgeteilt hatte, wurde das betroffene Waldstück bei der Felsenegg, wo Rebekka rund hundert Meter in die Tiefe stürzte, inzwischen für Fußgänger gesperrt und eine entsprechende Untersuchung eingeleitet. Was mich direkt zur nächsten Frage bringt: Will ich es denn wissen?
Ein durchdringender Vogellaut reißt mich aus meinen Gedanken und lässt mich zusammenzucken. Bestimmt kam der von den Zoogebäuden her, die aufgemalten Hufspuren am Boden weisen zumindest diese Richtung an.
Zu meiner Linken folgt bereits die Frontseite des Friedhofs. Während ich der Mauer entlanghaste, kehren meine Gedanken zur Hauptakteurin dieser Tragödie zurück: Rebekka. Beinah täglich hatte diese für ihr Alter ziemlich geistreiche Fragen in den Unterricht eingebracht. Als Lehrkraft sollte man unparteiisch sein, dieses Mädchen jedoch war mir ganz automatisch ans Herz gewachsen. Ausgerechnet sie war meine Lieblingsschülerin gewesen - inzwischen auf ein Häufchen Asche reduziert. Das ist derart grotesk, dass ich das einfach nicht auf die Reihe kriege. Immerhin, sie wird nun im Friedhof Fluntern bestattet - der letzten Ruhestätte von James Joyce. Ein kleiner Trost, an den ich mich klammere. Wie soll ich Rebekkas Familie bloß entgegentreten? Rebekka war fünfzehn . So leid mir ihre Eltern tun, ich kann nicht mit ihnen reden und fragen, wie es ihnen geht. Schweigend die Hand drücken und dann den Blick abwenden. Denn was sagt man zu Eltern, die ihr Kind indirekt durch einen verloren haben? Entschuldigen Sie bitte, es wird nicht wieder vorkommen.
Nein, wie hämisch! Nein, ich trage keine Schuld, ermahne ich mich selbst. Ich hatte die Route nicht allein ausgewählt. Gemeinsam mit sämtlichen beteiligten Lehrkräften wurde diese vor Monaten beschlossen. Und für einmal steht auch der Schulleiter entschlossen hinter uns und versuchte zu beschwichtigen: Wir Verantwortlichen hätten die Sorgfaltspflicht nicht verletzt, und entsprechend werde wohl auch der Prozess verlaufen.
Wobei ich diejenige gewesen war, die nach der Rekognoszierung des Gebiets auf die Vorteile dieser Variante hingewiesen hatte: passabler Schwierigkeitsgrad, Schattenspender Wald, separater Saal im Restaurant beim Ausflugsziel, die Luftseilbahn in der Nähe öffentlicher Verkehrsmittel. Tagtäglich spazieren Hunderte von Wanderern auf diesem Pfad ohne Zwischenfälle. Warum also musste dieser fatale Unfall ausgerechnet während unserer Schulabschlussreise passieren?
Ich erreiche das Eingangstor zum Friedhof und lasse meinen Blick über die vereinzelt mit Blumen geschmückten Gräber schweifen. Merkwürdig, wie das Gras hier ganz normal wächst und blüht. Dabei liegt nichts Geringeres als der Tod darunter. Wie ich über das Kopfsteinpflaster gehe, sehe ich die Friedhofskapelle, in der die Trauerfeier stattfinden soll. Kaum ein Laut dringt zu mir durch, lediglich ein dumpfes Gemurmel aus dem Gebäude. In der Kapelle mache ich einige mir bekannte Gesichter aus, doch mir ist nicht nach Begrüßungsfloskeln. Strammen Schrittes gehe ich mit ernster Miene an einzelnen Trauergästen vorbei und reihe mich in die Bank zuäußerst ein. Gerade noch rechtzeitig, der Pfarrer hebt nun ein Bündel Papiere aus seiner Tasche und räuspert sich laut, blättert konzentriert durch die Seiten. Zu meiner Linken erblicke ich Viktor, der als einziger Schüler neben zwei Lehrern und dem Schulleiter sitzt. Seine Körperhaltung wirkt seltsam starr, wie steif gefroren. Rebekkas engste Klassenkameradinnen, Laura und Anna, blicken synchron betrübt und tuscheln nicht wie üblich. Laura wühlt in ihrer Handtasche, bemerkt mich nicht. Sie trägt eine übertrieben elegante Bluse, und ihr braunes, langes Haar ist streng nach hinten gekämmt, was sie erwachsener als ihre Mitschülerinnen erscheinen lässt.
Argwöhnisch betrachte ich die Gruppe und finde es seltsam, die sonst unerträglich quirligen Schüler hier in dieser ehrfurchtsvollen Umgebung zu sehen, wo die Zeit stehen geblieben scheint. Ich lasse meinen Blick zurück in Viktors Richtung schweifen, dem inoffiziellen Außenseiter meiner Klasse. Mit ausdrucksloser Miene sitzt er da, in sicherem Abstand zu seinen Mitschülern. Diese sehe ich von meinem Platz aus nur von hinten. Eine bedrückende Stille breitet sich aus, alle warten unruhig auf den Beginn der Zeremonie. Wie ich versuche, mich innerlich zu sammeln, steigt erneut ein eigentümliches Gefühl in mir hoch. In dieser Geschichte fehlt ein relevantes Puzzlestück, von dem wir alle keine Ahnung haben. Irgendetwas ist zwischen den Mädchen vorgefallen. Rebekka hatte nicht mehr an ihren besten Freundinnen geklebt, und im Unterricht hatte sie unkonzentriert gewirkt. Würde Rebekka noch leben, wenn ich aufmerksamer gewesen wäre? Wenn ich Laura und Anna in die Schranken gewiesen hätte? Die Wahrheit ist, dass ich die Konfrontation bewusst gemieden habe, weil ich die ständigen Reibereien hormongesteuerter Teenager und deren Allüren leid war. Noch nie hatte ich den Klassenwechsel so sehr herbeigesehnt. Und jetzt ist es zu spät. Es sei denn . aber diesen Gedanken kann ich dem Schulleiter nicht anvertrauen. Der will das nicht hören, findet sowieso, dass Ellbogenkämpfe Lebensschule seien. Nie und nimmer würde er mir glauben, dass diese klitzekleine Möglichkeit im Raum steht, dass es . Absicht gewesen ist. Es ist bloß ein Gefühl; ein transparentes Fragezeichen, das seither durch meine Gedanken tanzt. Womöglich würde der Freybacher an meinem Verstand zweifeln und mir raten, mich zusammenzureißen. Während sich Laura, die Anführerin der Klasse, weiterhin in der Kunst der Zerstörung üben würde.
Was wäre, wenn Laura oder Anna tatsächlich etwas mit dieser Tragödie zu tun hätten? Viktor war am Tag der Schulabschlussreise krankgemeldet gewesen - hatte er etwas geahnt? Nur Anna und Laura hätten die Gelegenheit gehabt, Rebekka zu stoßen - sie konnten sich theoretisch gegenseitig ein Alibi geben. Doch was wäre das Motiv gewesen? Und bin ich wirklich die Einzige, die es wagt, das auch nur zu denken? Ohne Beweise bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen Verdacht zu verdrängen. Was sich auf meinen Schlaf auswirken wird, das weiß ich jetzt schon.
Leider gibt es noch keine Selbsthilfegruppe für Lehrer mordender Schüler.
Schnell schüttle ich die absurden Gedanken ab und richte meinen Blick nach vorn, zum Pfarrer hin. Dieser beginnt die Trauerrede mit lauten, klaren Worten, wirft mit jedem Satz neue Adjektive in die Menge: aufgeschlossen, beliebt, talentiert sei es gewesen, dieses Mädchen, welches viel zu früh aus dem Leben gerissen wurde.
Verstohlen bemerke ich, wie manche Gäste der Trauergesellschaft zu weinen beginnen. Einzelne Schluchzer lassen mich zusammenzucken, doch bleibe ich selber...
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