Schweitzer Fachinformationen
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Heute ist ein besonderer Tag. Es ist neun Uhr morgens und ich stehe vor dem Spiegel, um mich für das Besondere vorzubereiten. Meine Haare sind frisch gewaschen und ordentlich gekämmt. Die Jeans habe ich brav ausgetauscht, schwarz gegen blau. Durch diejenige, die am wenigsten durchlöchert ist. Nur die Kriegsbemalung fehlt - und eine Strategie, wie ich diesen Tag unversehrt überstehen könnte. Wie das schon seit Wochen der Fall ist, bestimmt jemand anders darüber, wie und mit wem ich meine Stunden verbringe.
Es ist ja nicht so, dass sie mir die Zeit klauen. Sie zerstückeln sie bloss, verteilen sie in alle Ecken und notieren sich dann, wie ich damit umgehe.
Das Büro von Frau Dr. Jakob wirkt nüchtern und kühl - was mich nicht weiter erstaunt, schliesslich ist ihr präzis geschnittener Pagenschnitt und ihre gesamte Ausstrahlung so verspielt wie ein Queen's Guard, der vor dem Buckingham Palace Wache steht.
Einzige Ausnahme bildet ein übergrosses Gemälde an der Wand, das jeden Blick sofort auf sich zieht. Und obwohl ich mich schon öfters in diesem Raum aufgehalten habe, kann ich mich dem Bild nicht entziehen: Ein tellergrosser, brauner Fleck auf pinkfarbenem Hintergrund. Entweder stellt es einen Kuhfladen - oder eine Art schwebender Strohhut dar. Der Humor meiner zuständigen Psychiaterin ist bewundernswert. Als ob sie damit beweisen wollte, dass sie eben doch ein Mensch ist.
«Wissen Sie - ich mag Ihre Blogstorys». Mein Gegenüber weist mit der rechten Hand auf den freien Stuhl.
«Die Geschichten sind kreativ und äh . unberechenbar», sagt sie und ich weiss genau, dass jetzt was kommt.
Argwöhnisch betrachte ich meine Ärztin. Wie immer ist sie übertrieben elegant gekleidet, ihre schwarze Bluse so zugeknöpft wie ihre Einstellung zu querdenkenden Schreiberlingen.
«Aber?», frage ich, während ich mich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen lasse. Frau Dr. Jakob räuspert sich und hebt demonstrativ ein Bündel Notizen auf. Verdammt. Sergios Bezugsperson muss meinen Ausdruck kopiert haben, noch bevor er Sergio die Blogstory überreicht hatte.
«Eben gerade wurde mir Ihr aktueller Geschichtenentwurf gezeigt. Es tut mir leid, aber ich kann nicht zulassen, dass Sie unsere Klienten verunsichern oder gar in eine heikle Situation bringen.»
Dazu habe ich nichts zu sagen. Nein, Korrektur: Zu sagen hätte ich was, aber ich schlucke die Worte bewusst hinunter. So, wie ich das in den letzten Tagen gelernt habe.
«Es ist klar, dass Sie sich lieber mit Ihren Mitpatienten beschäftigen, anstatt sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Das ist nicht ganz ungefährlich: Sergio ist kein Patient, mit dem man seine Spässe treibt - wir sind für ihn verantwortlich. Auf keinen Fall darf er provoziert werden, insbesondere nicht in seinem Zustand.» Frau Dr. Jakob schaut mich eindringlich an. Was soll das heissen - in seinem Zustand. Wir alle sind hier schliesslich in einem Zustand.
«Natürlich nicht», lenke ich ein. «Die Story werde ich sowieso nicht veröffentlichen. Eigentlich suche ich bloss Möglichkeiten, meine überschäumende Fantasie loszuwerden.»
«Das finde ich gut. Wirklich. Doch - wie soll ich das erklären? Wir leben in der Realität.»
«Sind Sie sich da absolut sicher? Wer weiss das schon?»
«Frau Brautmüller .»
«Tinka, ich heisse Tinka! Allein ich bestimme, ob ich im echten Leben oder als Figur in einem Roman mitspiele. Das ist mir nun mal sympathischer und zwar nicht, weil ich verrückt bin, sondern weil ich es NUN MAL SO WILL.»
«Dieser Schreibzwang ist eine Flucht, wie Sie wissen. Andere Betroffene stürzen sich in die Kreation eines perfekt designten Kostüms, Sie schreiben eine Geschichte.»
«Genau. Und alle, die das nicht beherrschen, sind bloss neidisch! Im Leben ist es reine Glückssache, ob ich in einem Drama, einer Horrorgeschichte oder in einer Komödie lande. In der Fiktion hingegen - da steuere ich mich genau da hin, wo ich sein möchte.»
«Ihre Familie wartet im Besuchszimmer», seufzt die Ärztin ergeben. «Denken Sie an die gestrige Therapiestunde. Seien Sie nachsichtig. Sie freuen sich sehr, Sie zu sehen.»
«Ja, ist ja gut», antworte ich zähneknirschend.
«Dieser Austausch ist wichtig. Gerade habe ich Ihre Eltern und Ihre Schwester Sara über die Therapieentwicklung informiert und über die Schematherapie aufgeklärt. Es liegt nun an Ihnen, von der Psychoedukation zu erzählen und Ihren Angehörigen zu helfen, all dies zu verstehen. Wahrscheinlich lesen sie gerade die Broschüren, die auf den Tischen bereitliegen.»
«Geht klar», sage ich, während ich aufstehe.
«Und löschen Sie endlich meinen Namen aus der Blogstory mit diesem elenden Frauenverführer! Das habe ich Ihnen schon das letzte Mal aufgetragen!», höre ich sie rufen, während ich die Tür ihres Büros schliesse.
Diese Psychofritzen ., nie kann man es ihnen recht machen. Sie sollte sich doch geschmeichelt fühlen, wenn ich sie in eine meiner Geschichten hineinwebe. Eigentlich war es als Drohung gedacht, aber das hat sie natürlich nicht gecheckt. Ziemlich anstrengend, wenn man als Patient den Ärzten erklären muss, wie das heutzutage läuft. Kopf-Kampfsport nenn ich das.
Es braucht achtundvierzig Schritte, bis man das Besuchszimmer am anderen Ende des Korridors erreicht. Gestern habe ich sie gezählt, die Schritte. Hocherhobenen Hauptes lief ich konzentriert über das dunkelrote Parkett. Siebenundvierzig, achtundvierzig. Schliesslich öffnete ich die Tür des Besuchszimmers so, als ob darin ein Geschenk auf mich warten würde. Wie eine brave Schülerin, die ihre Hausaufgaben pflichtbewusst erfüllt, stand ich im ansonsten menschenleeren Raum und tat, was man mir aufgetragen hat. Theatralisch trug ich dem Mobiliar vor, was ich in den letzten Wochen gelernt hatte: Meine Angewohnheit, mein Leben zu erfinden, anstatt es zu leben. Über den Zwang, Futter für meine Schreibsucht zu suchen, mich dabei anderer Leute Geschichten zu bedienen. All diese Dinge sind während der Therapie ans Tageslicht gekommen; insbesondere der Grund, warum ich das tue: Weil ich mich dank den Problemen anderer von meinen eigenen Sorgen ablenken kann.
So stand ich also da und starrte das Mobiliar an. Und reduzierte den Rest der Ansprache auf einen einzigen Satz: Es gibt fünfzig Dinge, die man zwingend tun muss, bevor man stirbt und eins davon ist, Psychologie zu studieren.
Während ich jetzt tief einatme und mich um eine positive attitude bemühe, mache ich den Holzfussboden erneut zum Laufsteg und denke an die vertrauten Gesichter, die mir bald entgegenblicken werden. Wie ein Model, dem der grosse Auftritt unmittelbar bevorsteht, versuche ich, meine Nervosität zu ignorieren. Meine Schritte verlangsamen sich, je näher ich dem Ziel entgegentrete. Vor der Tür bleibe ich zögernd stehen und richte ein letztes Mal mein Haar.
Eigentlich würde ich mich schon darüber freuen, meine Familie zu sehen. Die momentane Situation lässt mir jedoch kaum Spielraum für Hochgefühle; denn meine ältere Schwester wird unsere Eltern bald mit einem Enkelkind beglücken - während ich ihnen heute erklären muss, weshalb ich mich in einer psychiatrischen Klinik aufhalte.
Als ich eintrete, schauen sie mich derart ernst an, als ob wir uns zur Henkersmalzeit in einem Kellergewölbe treffen würden. Mit klopfendem Herzen betrachte ich meine Schwester, die sich gerade umständlich aus ihrem Stuhl erhebt. Saras Babybauch ist nicht zu übersehen.
Ich freue mich wahnsinnig.
Mein Blick schweift zu meinen Eltern und ich stelle fest, dass meine Mutter ziemlich abgemagert aussieht. Mein Vater wirkt wie immer geschäftsmässig, kontrolliert. Er ist das Gegenteil eines Hippies, könnte glatt im Vorstand einer Grossbank sitzen. Er steht auf und macht zwei Schritte auf mich zu, bleibt dann aber zögernd stehen.
«Katinka, wie geht es dir?», fragen sie alle. Stimmt, meinen Künstlernamen kennen sie noch nicht. Meine Schwester winkt mir lächelnd zu und schliesst dann kurz die Augen, als ob ihr schwindlig wäre. Schon setzt sie sich wieder hin. Dabei reicht ihr Bauch gefährlich nah an die Tischkante, sodass sie den Stuhl zurückschieben muss. Meine Mutter kommt mir entgegen, um mich zu umarmen. Geduldig lasse ich die Liebesbekundung zu, löse mich aber sogleich wieder von ihr. Meinem Vater klopfe ich kurz auf die Schulter und gehe dann zum Tisch. Schweigend ziehe ich einen Stuhl heran und setz mich neben meine Schwester.
«Du siehst gut aus!», lügt sie, wie sie mich von der Seite her betrachtet. Meinen Nude-Look findet sie bestimmt nicht schön. Selbst ist sie jedenfalls viel zu stark geschminkt und ihre schokoladenfarbene Haarmähne übertrieben kunstvoll hochgesteckt.
«Seit ich aus der Geschlossenen raus bin, ist es auszuhalten», erzähle ich. «Dank den bahnbrechenden Therapiemethoden lerne ich enorm viel über mich selbst. Die Ärzte wissen genau, wer ich bin und wie es in mir drin aussieht. Sie erkennen sogar, was ich tun muss, nicht mehr ich selbst zu sein.»
«Katinka .» Meine Eltern setzen sich mir gegenüber.
«Man nennt es nicht mehr so», wirft meine Schwester ein....
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