Schweitzer Fachinformationen
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Seit ihrer Trennung war Ruth vor allem eines: in Eile. Auch jetzt war sie wieder eine halbe Stunde zu spät. Es regnete, sie stand an der Ampel und ließ sich nassspritzen von den Taxen, die beinahe im Sekundentakt über die Potsdamer Straße rauschten, doch keines hielt an. Die Taxischilder auf den Dächern der Limousinen waren ausgeschaltet, die Rückbänke alle schon besetzt.
Auf der anderen Straßenseite standen zwei Prostituierte, die sie vom Sehen kannte, sie strahlten eine Gelassenheit aus, um die Ruth sie beneidete. Als ein Doppeldecker der BVG direkt vor ihr vorbeifuhr und eine Wolke warmer Dieselluft unter ihren Filzmantel kroch, ging sie einen Schritt zurück und hielt unwillkürlich die Luft an. Nun fing sie auch schon so an. Sie suchte ihr Handy. In der Manteltasche. In der Hosentasche. Fand es zu ihrer eigenen Überraschung in der Brusttasche ihrer Bluse.
»Kate? Du, ich noch mal, die halbe Stunde reicht mir nicht. Es wird noch später. Kauf doch einfach schon mal die Karten, ja? Ich lad dich dann ein.«
»Ich dachte, Carlotte wär jetzt endlich da?«, sagte Kate.
»Ist sie ja auch. Aber ich krieg einfach kein Taxi.«
»Kein Wunder, bei dem Regen.«
»Da, endlich. Ich muss auflegen. Und, Kate? Es tut mir leid.«
Im Taxi wischte sie sich den Regen aus dem Gesicht und aus den Augen, schminkte den eben erst aufgetragenen Lidstrich ab und zog ihn neu nach, der Fahrer immerhin ließ sie in Ruhe.
Sie hatte Kate schon bei ihrem letzten Treffen warten lassen und sie bei ihrem vorletzten sogar versetzt. Es war nicht ihre Schuld, dass die beste Babysitterin, die sie finden konnte, zugleich die unzuverlässigste war. Sobald Carlotte in der Wohnung war, konnte Ruth entspannen. Dann nahm Carlotte die Kleine auf den Schoß und balgte und schmuste mit ihr und las ihr vor, bis sie schlief. Aber bis sie mal da war? Kurznachricht über Kurznachricht. Anrufe. Absagen. Absagen der Absagen. Und immer alles in letzter Minute.
Sie zahlte den Fahrer mit einem Schein, ohne sich das Restgeld herausgeben zu lassen, und lief ins Babylon, den Arm als Regenschutz vor das Gesicht gelegt. Das Foyer war menschenleer, ein ungewohnter Anblick, wo sich sonst die Menschenschlangen vom Kartenschalter zum Biertresen schoben und von dort weiter in den Kinosaal. Inmitten der Leere, an einem einzelnen Bistrotisch, saß Kate.
Sie winkte mit zwei Abreißkarten.
»Der Film hat vor zwanzig Minuten angefangen«, sagte sie zur Begrüßung. Sie sah dünn aus. Ihr Haar war in eine aufwändige Hochsteckfrisur gezwängt.
»Lassen sie uns nicht mehr rein? Es tut mir leid, Kate.«
»Doch, schon, aber es ist ein Almodóvar.«
»Kate, es tut mir leid. Was soll das heißen, ein Almodóvar?«
»Das ist Kunst, verstehst du, das guck ich doch nicht ab Minute fünfundzwanzig. Das ist kein Tatort.«
»Kate. Nun sei doch nicht so. Lass uns rein. Bitte. Und danach lad ich dich zu einem Pernod ein. Wie früher, ja?«
»Nein. Wir sind zu spät. Also, du. Aber gib mir jetzt bloß kein Geld für die Karten.«
Sie gingen dann nach nebenan, in die Teufelsbar, in deren Fensterfront sich die Kerzen zu immer wilder wuchernden Wachsbergen auftürmten. Die Scheiben selbst waren beschlagen, ein leichter Alkoholgeruch schlug ihnen entgegen, als sie das Halbdunkel betraten.
»Fenster oder Tresen?«
»Scheint mir eher ein Tresenabend zu werden.«
»Pernod?«
»Doppelt, ja.«
Sie bestellte und nahm Kate den nassen Mantel ab und hängte ihn an den Garderobenständer, fragte, ob Kate etwas essen wolle, sie lehnte ab, Ruth bestellte Oliven, wenigstens das.
»Sind bio«, sagte der Barmann, als er das Schälchen vor ihnen abstellte.
»Das ist mir so was von egal«, sagte Ruth.
Sie aß. Die Oliven schmeckten ranzig, was sie in ihrem Urteil über korrekt erzeugte Lebensmittel bestätigte. Wie sollte etwas frisch sein, wenn es so fürchterlich korrekt war? Da entschied sie sich lieber für inkorrekt und frisch. Korrekt und ranzig hatte sie in ihrer Ehe lange genug gehabt.
»Ich bin von der Praxis direkt zur Kita und von der Kita zu Netto, und an der Kasse hat Sisal dann einen Heulkrampf bekommen, weil wir die Cornflakes vergessen hatten. Hinter uns eine Riesenschlange. Am Ende hab ich gezahlt und mich noch mal angestellt für die Cornflakes, zu Hause hab ich dann Essen gemacht für Sisal, und dann hat auch noch Jann angerufen, und -«
»Ich hab ihn neulich auf Radio Eins gehört.«
»Mit der Stelle, wo er lallt?«, fragte Ruth.
»Nein, die haben sie rausgeschnitten. Er kam eigentlich ganz sympathisch rüber.«
»Ja. Weil's ne Wiederholung war. Von früher.«
Ruth überlegte, ob Kate absichtlich keine von den Oliven aß. Was wollte sie ihr damit sagen?
Kate sah sie nicht einmal mehr an.
»Und sonst, Sisal? Kann schon lesen?«
»Ich wollte heute eigentlich nicht von Sisal reden«, sagte Ruth.
»Du willst von nichts anderem reden. Nun sag schon, liest sie? Goethe? Heidegger?«
»Kate, hör auf damit. Lass uns einfach Pernod trinken.«
»Ich mag sie trotzdem. Ist ja nicht ihre Schuld.«
»Nicht ihre Schuld, dass sie so eine schreckliche Mutter hat?«
»Das wird doch heute nichts mehr, Ruth. Ruf mich an, wenn du mal einen Abend lang Zeit hast. Zeit haben? Zuhören? Weißt du noch, was das ist?«
»Kate, bleib. Wenn du jetzt aufstehst!«
»Dann was? Dann war's das? Weißt du was? Seit du da raus bist, in dieses fürchterliche Oderkaff, war's das doch längst. Seit du mit Jann bist. Mit Sisal oder Nichtsisal hat das alles gar nichts zu tun. Verstehst du? Ich brauche kein Kind!«
Sie wusste nicht, ob der türkische Barmann sie belauscht und sich beeilt hatte, oder ob es ein Zufall war, jedenfalls standen im nächsten Moment zwei doppelte Pernods vor ihnen, in den schönen Originalgläsern, mit Eiswürfeln und einer beschlagenen Karaffe kalten Wassers. Der Anisduft stieg ihr sofort in die Nase, stieg auch Kate sofort in die Nase, sie verharrte, bereits im Stehen, musterte den Pernod, musterte ihre beste Freundin, lächelte, musste einfach lächeln, setzte sich und stieß mit Ruth an. Ruth atmete durch. Wenn sie auch Kate noch verlor, war sie am Ende.
»Wie geht es denn dir?«, fragte sie. Da fing Kates Kinn auf einmal so seltsam an zu zittern, Tränen stiegen ihr in die Augen. Ruth beugte sich zu ihr, wollte sie in den Arm nehmen, doch da klingelte ihr Telefon.
Carlotte. Mist.
»Tut mir leid. Muss ich ran. - Ja? Carlotte?«
»Sie hat sich im Bett übergeben. Es ist alles braun. Die Laken, das Kissen. Es tut mir leid, aber sie will dich sehen.«
Ruth blickte Kate an, die sich die Tränen aus den Augen wischte, und sagte in den Hörer, sagte Kate ins Gesicht:
»Ist gut. Ich bin in einer halben Stunde bei euch.«
»Wär besser«, sagte Carlotte. »Sie sagt, sie hat den ganzen Abend nur Eis gegessen? Stimmt das? Eis zum Abendessen?«
Ruth legte auf.
»Sag nichts jetzt«, sagte Kate. »Sag jetzt einfach mal nichts.«
Später am selben Abend war Ruth schließlich in Sisals Armen eingeschlafen. Und Sisal in ihren. Sie hatte den warmen, kleinen Schlafatem des Kindes auf ihrer Wange gespürt, die nachtschlaffen Fingerchen in ihrer Hand, und sie hatte sie angeschaut, immer nur angeschaut, die geschlossenen Augen mit den feinen Wimpern, den blassen Mund. Sobald sie zu Hause angekommen war, hatte sich Sisals Übelkeit in Luft aufgelöst und war durch den Schornstein geflogen.
»Geht das denn?«
»Was denn, mein Bienchen?«
»Dass Bauchweh fliegt?«
»Hast du denn noch Bauchweh?«
»Nein.«
»Na, dann ist es wohl weggeflogen.«
»Aber wir haben gar keinen Schornstein. Nur Papa hat einen.«
»Dann ist es eben durch das Fenster geschlüpft.«
»Obwohl es zu ist?«
»So ein bisschen Bauchweh, das passt schon noch durch.«
Sie fürchtete sich schon heute vor dem Tag, an dem ein Einschlafen mit Sisal nicht mehr möglich war. An dem sich Sisals junge Glieder nicht mehr willfährig mit den ihren verflechten ließen. Immerhin war Sisal ein Mädchen. Das würde den Tag hinauszögern. Doch eines Tages würde auch Sisal sagen: »Mama, das ist peinlich.« Oder gleich: »Mama, du stinkst.« Sie wusste nicht, wann sie das letzte Mal ohne ihre Tochter entspannt eingeschlafen war. Wenn Sisal bei Jann war, konnte Ruth gar nicht schlafen, sondern guckte sich müde. Netflix. Die Mediatheken. Sie entspannte dann nicht, sondern erstarrte und dämmerte irgendwann weg, während Netflix in zehn, neun, acht Sekunden von allein die nächste Folge vor ihren geschlossenen Lidern abspielte.
Als die Weckfunktion des Handys sie aus dem Schlaf riss, lag kein Kleinkind neben ihr im Bett, sondern ein kleiner, warmer Stein. Komplett bewegungslos. Wecken unmöglich. Sie rollte auf Sisals Seite hinüber, auf Janns Seite, wie sie sie immer noch nannte, und nahm Sisal fest in den Arm. Keine Reaktion. Sie streichelte ihr die langen, blonden Haare aus der Stirn. Leichtes Nasekräuseln. Sie küsste Sisal auf den Mund. Energisches Wegdrehen des Kopfes, Embryohaltung.
»Binnomüde.«
»Guten Morgen, mein Bienchen.«
»Nobisschenschlafn.«
»Wir müssen aufstehen. Die Kita.«
»Mh-mh.«
Das Handy klingelte ein zweites Mal. Schon...
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