Schweitzer Fachinformationen
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DENUNZIAT
Weil das Polizeirevier fußläufig nur eine Minute entfernt liegt, sind der Lechner Sepp und sein grünes Geschwader blitzschnell angerückt, und ich habe endgültig die Gelegenheit verpasst, das Weite zu suchen. Nach einem kurzen Informationsaustausch mit dem Kronawitter verkündet der Polizeihauptmeister Lechner zu meinem Entsetzen, dass der Befehl »Niemand verlässt das Wirtshaus« aufrechterhalten wird, bis die Personalien jedes Einzelnen erfasst sind. Was in meinem Fall natürlich ein kompletter Schmarrn ist, weil mich ohnehin jeder von den Hiesigen kennt. Außerdem, was glaubt der Lechner, dass ich groß zu erzählen habe? Nichts anderes als die rund fünfzig weiteren Mitgefangenen. Wenn ich mir überlege, wie lange sich die Bestandsaufnahme durch die vier am Einsatz beteiligten Beamten, gemessen an der Zahl der zu befragenden Restaurantgäste, Stammtischler und des Personals, hinziehen kann, wird mir ganz schlecht. Da kann ich nur hoffen, dass die Höllmüllerin noch eine Weile mit dem Untersuchen der Leiche beschäftigt ist und mir dabei ihr Hinterteil entgegenreckt.
Ich stehe also weiterhin dumm rum und ringe mein Hungergefühl nieder. Das Betrübliche an der Situation ist, dass mein Bier leer ist und ich in diesem Durcheinander wahrscheinlich keine frische Halbe zeitnah ausgeschenkt bekomme. Doch als der Optimist, der ich bin, rede ich mir ein, dass es so lang nun auch wieder nicht dauern kann. Der Lechner schiebt um diese Uhrzeit bestimmt selbst schon reichlich Kohldampf, und seine Alte wird gern mal kratzbürstig, wenn er zum Abendessen auf sich warten lässt.
Geduld, Fellinger, Geduld! Ommm!
Auch unter den anderen Gästen wächst spürbar der Unmut. Verständlich. Die Leute wollen nicht länger in unmittelbarer Nähe eines Toten an ihren Tischen ausharren. Vor allem, da auf Geheiß des Sheriffs auch der Service eingestellt wird und nicht einmal mehr das Geschirr abgeräumt werden darf.
»Alles bleibt, wie es ist, bis wir eine Übersicht über die Sachlage haben!«, ordnet er an.
Nur die Abgebrühten und die Geizigen haben nach dem Vorfall überhaupt weitergegessen. Dem Großteil der Anwesenden ist der Appetit vergangen, und so hocken sie vor ihren kalt gewordenen Abendessen, auf das sich nun die Stubenfliegen stürzen, zu dieser Jahreszeit auf dem Land in besonders hoher Population vorhanden. Ich verstehe nicht, was der Zinnober soll, den unsere Exekutive hier veranstaltet. Das anmaßende Verhalten macht mal wieder deutlich, dass wir in einem Polizeistaat leben. Es wäre an der Zeit, dem Lechner diesen Umstand unter die Nase zu reiben. Im selben Atemzug schimpfe ich mich: selber schuld. Ich hätte reagieren müssen, bevor das grüne Aufgebot angerückt kam. Aber konnte ich ahnen, dass der Polizeihauptmeister gleich einen solchen Aktionismus an den Tag legt? Wahrscheinlich tut er das ja nur, weil es einen Urlauber erwischt hat und er deshalb partout nichts verkehrt machen will. Nicht dass er sich noch einen Rüffel vom Tourismusbeauftragen des Landkreises einfängt. Dass er dafür etliche andere Feriengäste verprellt, darauf kommt er nicht. Einschließlich der Einheimischen, die, da sie ebenfalls längst auf dem Trocknen sitzen, ihrerseits gerne heimgehen würden. Oder wenigstens ein Wirtshaus weiter, wo man noch bedient wird.
Mitgefangen verfolge ich das Geschehen, als säße ich im Kino. Auf einmal steht die Höllmüllerin auf und nimmt mir damit die letzte Freude. Genervt schaue ich mich um. Die Mila steht verschüchtert mit ihren Kolleginnen im Zugang zur Küche. Da ist rein visuell im Moment auch nichts mehr zu holen. Der Ferdl hat sich zurück hinter seine Theke verzogen. Wie von einer unsichtbaren Last gebeugt, kaut er nervös auf seinen kaum mehr vorhandenen Nägeln herum, während er sich mit der anderen Hand an den Zapfhahn klammert, als suchte er Rückhalt bei seiner Vertragsbrauerei. Seine Bemühungen, die Gäste zu beruhigen, sind ordentlich nach hinten losgegangen. Nun gesellt sich der Lechner zu unserer Frau Doktor, und auch ich rücke zwei Schritt näher, damit ich hören kann, was sie zu bereden haben.
»Lungenembolie, aber ohne Garantie«, sagt sie. »Wenn du es sicher wissen willst, muss er in die Pathologie.«
»Frag den Schweinsbraten«, ruft der Toni erneut, wenn auch etwas verhaltener als bei seinem ersten Denunziat. Böse funkelt ihn der Löffelmacher an, aber eine zweite Schlägerei wird es aufgrund der polizeilichen Präsenz kaum geben. Ich kenne den Lechner ja schon mein ganzes Leben, bin in der Grundschule sogar neben ihm gesessen - zumindest so lang, bis uns die Frau Putzenberger als vermeintliche Störfaktoren der Klassenharmonie ausgemacht und auseinanderdividiert hat -, von daher weiß ich, wie er reagiert, wenn er reagiert. Und auf den Hinweis mit dem Schweinsbraten reagiert er zu meinem Unverständnis tatsächlich. Und zwar so heftig und schnell wie ein Allergiker auf Ambrosiapollen.
»Besteht diese Möglichkeit?«, wendet er sich an die Höllmüllerin.
»Also, ich kann ausschließen, dass er an einem Stück Fleisch oder Knödel erstickt ist. Ob er was von den Inhaltsstoffen nicht vertragen hat, kann ich weder bestätigen noch .«
»Inhaltsstoffe!«, schreit diesmal der Ferdl und begibt sich mit schwerem Schritt zu dem Grüppchen, das um den Toten rumsteht. »Die Inhaltsstoffe sind ja wohl tadellos«, faucht er und sucht meinen Blick. Die anderen tun es ihm gleich, und ich nicke.
»Keine Beanstandungen, weder in der Küche noch in der Kühlung oder im Lebensmittellager«, erkläre ich amtlich und fühle, wie mir der Ärger hochsteigt. Natürlich stehen noch ein paar abschließende Laboruntersuchungen aus, aber ich habe Erfahrung genug, um zu beurteilen, dass auch diese zu keinem besorgniserregenden Ergebnis führen werden. Zweifelt da etwa einer meine Kompetenz an?
»Und alles bio!«, unterstreicht der Kirchenwirt, als träte er in einem Werbespot auf. Fehlt gerade noch, dass er anfügt, dafür stehe er mit seinem guten Namen.
»Und wenn er eine Unverträglichkeit hatte?«, fragt der Lechner.
»Dann hätte er halt was sagen müssen, wenn er keine Semmelknödel essen darf«, zetert der Kirchenwirt und macht keinen Hehl daraus, dass Laktoseintolerante und Glutenverweigerer es bei ihm im Wirtshaus nicht leicht haben.
Die Höllmüllerin hebt abwehrend die Hände. »Gemessen an dem, was er gegessen hat, halte ich eine derart heftige Reaktion auf die Lebensmittel für sehr fraglich. Dafür fehlen mir auch ein paar typische Anzeichen. Allerdings .« Sie hält für drei Sekunden inne und schaut kritisch in die Runde. Dann beugt sie sich vor und begutachtet, was noch auf dem Teller liegt, in das der Herr vor einer guten halben Stunde gefallen ist. Ich sehe, wie sie die Nase rümpft und schnuppert. »Nein, ich lege mich auf nichts fest, bedauere, meine Herren!«
»Da brauchst du gar nicht dran hinriechen«, mault der Ferdl. »Der Schweinsbraten ist einwandfrei. Sag's ihnen, Fellinger!«, fordert der Wirt mich erneut auf. Aber ich bin lieber still. Beäuge stattdessen die Höllmüllerin, wie sie für einige weitere Sekunden mit ihrer hübschen Nase über den Essensresten kreist, und mustere dann die Gesichter der Umstehenden.
»Fühlt sich von den hier Anwesenden sonst noch jemand unwohl?«, fragt der Lechner laut.
Als hätte er nur auf diese Aufforderung gewartet, hebt ein Glatzkopf mittleren Alters die Hand, der an der Stirnseite der Gaststube unterm Butzenglasfenster sitzt. Der Anblick seiner kränklichen, anorektischen Statur weckt mein Mitleid. Hat ihm doch der unangenehme Zwischenfall in unmittelbarer Nähe zu seinem Tisch sicherlich gänzlich den Appetit verdorben, den er so nötig bräuchte.
»Schlecht ist es ihm!«, prescht die rundliche Dame neben ihm vehement vor, so als wäre der bedauernswerte Mann nicht mehr selbst in der Lage, sich zu artikulieren. Dabei quetscht sie die knochige Hand ihres Begleiters, dessen Finger schon ganz blutleer sind. Augenscheinlich hat sie ihn dazu gezwungen, sich und seine Unpässlichkeit zu erkennen zu geben. Das ist eine von den Resoluten, die nichts dem Zufall überlassen, das erkenne ich auf Anhieb. Erst recht nicht, falls diese Geschichte eine Sache für die Versicherung wird. Oder für einen Anwalt.
»Wenn Sie uns die ganze Zeit auf einen Toten starren lassen, ist es ja auch kein Wunder, dass den Leuten übel wird«, kritisiert eine Urlauberin mit niederländischem Akzent und erntet zustimmendes Nicken von den durchweg hellblonden Leuten, die um sie herumsitzen.
»Wem's schlecht ist, der bekommt einen Schnaps aufs Haus«, lenkt der Ferdl ein, offenbar um das Wohl seiner Gäste besorgt.
»Jetzt, wo du's sagst«, meint der Toni, und auch seine Stammtischkumpane bekommen ganz glänzende Augen.
»Du hast doch gar nichts gegessen!«, faucht der Kirchenwirt.
»Du hast ja auch nicht gefragt, ob es wem vom Essen schlecht ist.«
»Von unserem Essen kann es einem gar nicht schlecht werden.« Der Löffelmacher hat zu seiner alten Haltung zurückgefunden. Allerdings, wie er ausschaut, um den Preis eines mittlerweile stark überhöhten Blutdrucks. Er fährt zu seinen Servierdamen um, die sich immer noch wie eine Schar verschreckter Hühner vor der Tür zur Küche herumdrücken. »Jetzt stehts nicht blöd rum, bringts denen einen Schnaps, die einen wollen!«, faucht er mit hochrotem Kopf. Dann wendet er sich an den Lechner. »Und ihr schauts, dass endlich fertig werdets, damit's weitergehen kann. Das ist ja für uns alle eine Zumutung, dass der Herr Hansen hier immer noch tot in der Gaststube rumliegt. Zefixhalleluja!«
Das bringt jetzt wiederum den Lechner auf. Wenn er nicht so einen Kraut von einem Vollbart im Gesicht hätte, würde man auch bei ihm die Wangen glühen...
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