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Zeitungen sind vergänglich. Den ältesten Text, den ich für das vorliegende Buch vorgesehen hatte, den Artikel über Nasr Hamid Abu Zaid in der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 1993, konnte ich zu Hause nirgends finden, nicht einmal als Datei in meinem Computer. In der Annahme, dort sei der Artikel elektronisch erfaßt, wandte sich mein Lektor an die Frankfurter Rundschau - vergebens. Gut, dann gibt es doch sicher einen Keller, in dem ältere Jahrgänge der Zeitung lagern, glaubte der Lektor, und gegen ein entsprechendes Entgelt werde die entsprechende Ausgabe hervorgeholt. Nein, gibt es nicht, teilte die Redaktion mit: Die Frankfurter Rundschau, die bis vor wenigen Jahren zu den vier, fünf überregionalen Zeitungen im deutschsprachigen Raum gehörte, mit einem herausragenden Feuilleton und einer Auslandsberichterstattung, deren schierer Umfang heute kaum glaublich erscheint - sie verfügt heute nicht einmal mehr über ein Archiv. Schließlich begab sich eine Mitarbeiterin des Verlags in die Münchner Staatsbibliothek und fand in einem der Regale tatsächlich die große, staubbedeckte Kladde mit dem Jahrgang 1993. Als sie die Ausgabe vom 4. September aufschlug, war sie so geistesgegenwärtig, nicht nur den gesuchten Artikel über Abu Zaid abzuphotographieren, sondern auch die Titelseite: «Ukraine gibt Atomwaffen ab. Auch über die Schwarzmeerflotte Einigung mit Rußland erzielt». Dreißig Jahre später, im März 2022, herrschte in der Ukraine Krieg.
Mit fünfzehn Jahren habe ich begonnen, für die Siegener Lokalredaktion der Westfälischen Rundschau zu arbeiten. Von Ratssitzungen über Theateraufführungen und Rockkonzerte bis hin zu Demonstrationen gegen die geplante Stadtautobahn und die unvermeidlichen Schützenfeste gab es nichts, worüber ich nicht berichtet hätte. Seither habe ich immer weiter für Zeitungen geschrieben, anfangs häufiger, seit meinen ersten Buchveröffentlichungen eher sporadisch. Was habe ich aus den politischen Situationen gelernt, die ich beschrieben oder kommentiert habe? Wenn ich nur einen Punkt herausgreifen soll, wäre es dieser: Gelernt oder genauer gesagt: erfahren, ja, mit eigenen Augen gesehen habe ich, wie einzelne Ereignisse, die regional begrenzt zu sein scheinen, weit entfernt und Jahre später massive Eruptionen auslösen können. Wie in der Natur scheint auch in der Politik alles mit allem durch eine Kette von Ursache und Wirkung verbunden, die in ihrer Komplexität selten vorauszusehen ist, aber im nachhinein bisweilen erkennbar wird.
Ich erinnere mich, daß afghanische Bekannte 1989 behaupteten, die Berliner Mauer sei eigentlich von Afghanen zu Fall gebracht worden. Als Student schien mir das etwas weit hergeholt, aber als ich mich näher mit den Ereignissen beschäftigte, ging auch mir schnell auf, daß die Reformpolitik Michail Gorbatschows, die zur deutschen Einheit führte, kausal mit dem erfolgreichen Widerstand der Mudschaheddin zusammenhing - und also mit der Entscheidung des Kremls, 1979 in Afghanistan militärisch zu intervenieren. Oder: Hätte 1952 der demokratische Bewerber Adlai Stevenson die Wahl zum amerikanischen Präsidenten gewonnen, dann hätte ein Jahr später die CIA nicht in Teheran die demokratische Regierung Mossadegh gestürzt und wäre es 1979 nicht zur Islamischen Revolution und zur Besetzung der amerikanischen Botschaft gekommen - mit allem, was daraus für das Verhältnis zwischen dem Westen und der islamischen Welt folgte. Dabei hatte wohl nicht einmal Dwight D. Eisenhower selbst im Wahlkampf viel über Iran nachgedacht. Und so weiter und so fort bis hin zur Ukraine: 1993 wollte das Land seine Nuklearwaffen nicht nur im Vertrauen auf das russische Versprechen abgeben, seine Souveränität in den bestehenden Grenzen zu respektieren. Wie aus der Meldung auf der Titelseite der Frankfurter Rundschau vom 4. September 1993 hervorgeht, verlangte die Ukraine außerdem Sicherheitsgarantien des Westens. Ich glaube nicht, daß sich außerhalb der Fachwelt irgendwer noch an diese Forderung erinnert - ich selbst tat es jedenfalls nicht. Vielleicht wurde sie seinerzeit in den westlichen Hauptstädten nicht einmal ernstgenommen. Aber dreißig Jahre später weiß die ganze Welt, wie berechtigt die Forderung war. Sie seinerzeit zu erfüllen, hätte den Krieg womöglich verhindert, der nicht nur für die Ukraine verheerend ist, für Rußland, für ganz Europa, sondern weit entfernt in Ostafrika zu fürchterlichen Hungersnöten führen wird. Im schlimmsten Fall folgt aus der damaligen Weigerung, die Sicherheit der Ukraine zu garantieren, der Dritte Weltkrieg.
Der Gedanke kam mir oft, als ich die Artikel für das vorliegende Buch zusammenstellte: Daß politische Entscheidungen, die man womöglich sogar als bedenklich markiert, gleichwohl in ihren Konsequenzen nicht absieht, lange Zeit später und ganz woanders dramatische Folgen haben. Manchmal allerdings können die Folgen auch viel früher eintreten, und das Seltsame ist: Jeder ist dann genauso überrascht. Ohne den fluchtartigen Rückzug des Westens aus Afghanistan wäre Rußland vermutlich nicht versucht gewesen, die Ukraine anzugreifen, in der Annahme, daß der Westen uneinig, müde, ängstlich, mit sich selbst beschäftigt und also zu keiner entschlossenen Reaktion fähig sein würde. Man ahnte wohl, daß die Bilder vom Kabuler Flughafen, wo Afghanen sich vergeblich an die amerikanischen Flugzeuge klammerten, weiteres Unheil nach sich ziehen würden, und zwar nicht nur für Afghanistan selbst. Nicht nur ich schrieb, daß die Herrschaft der Taliban auch im Westen spürbar sein würde, etwa durch neue Fluchtbewegungen, verbilligte Drogen, terroristische Rückzugsgebiete oder die weitere Stärkung Chinas. Aber daß nur wenige Monate später mitten in Europa Krieg herrschen würde - nein, das hat niemand auf der Rechnung gehabt, außer vielleicht im Kreml selbst. Und doch läßt sich im Rückblick ein Zusammenhang erkennen, der vom Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan 1979 über das Erstarken des islamischen Fundamentalismus und die Anschläge vom 11. September bis hin zu den Kriegen Amerikas im Nahen Osten, der Passivität des Westens in Syrien, der Flüchtlingskrise 2015 und schließlich zum Brexit, zu Trump und der Schwäche des Westens reicht, die China und Rußland immer selbstbewußter auftreten ließ. Im Grunde gilt das für alle Bereiche unseres sozialen Lebens, nur merken wir es nicht bereits, wenn wir die Zeitung von heute aufschlagen, und schon gar nicht, wenn wir lediglich die Nachrichten verfolgen oder im Netz die Topthemen anklicken. Man denke nur an den Klimawandel, den wir im Norden maßgeblich bewirken und der im Süden zu schweren Dürren führt, durch die wiederum Kriege ausbrechen und ganze Völker ihre Lebensgrundlagen verlieren - wenn nicht sogar physisch den Boden unter ihren Füßen wie in Bangladesch oder auf den Malediven. Was für eine Illusion, zu glauben, daß wir von den Entwicklungen um uns herum auf diesem immer kleiner werdenden Planeten abgeschottet wären - und wie ernüchternd, zu sehen, daß die Illusion mit jedem Wahlkampf von neuem gehegt wird, in dem es alle vier Jahre wieder nur um Deutschland, Deutschland, Deutschland geht.
Das vorliegende Buch bildet die maßgeblichen politischen Entwicklungen der vergangenen drei Jahrzehnte nicht repräsentativ oder gar gültig ab, schon weil die Themen, über die ich mich zu äußern vermag, nun einmal begrenzt sind. Hinzu kommt, daß ich, wie bereits angedeutet, in manchen Jahren häufiger für Zeitungen schrieb, dann wieder über Jahre kaum, weil mich die Bücher oder auch mal das Leben zu sehr in Beschlag nahmen. Zudem bestand bis zur Pandemie ein guter Teil meiner publizistischen Arbeit aus Reportagen. Je inflationärer die Meinungen von jedem zu allem wurden, seit es die Talkshows und das Internet gibt, desto stärker wurde mein Drang zu berichten. Die Reisen aber haben, auch wenn viele Reportagen zunächst als Zeitungstexte erschienen, fast immer zu eigenen, in sich abgeschlossenen Büchern geführt. Ebensowenig berücksichtigt habe ich die Feuilletons, Kritiken und literarischen Impressionen, die ich über die Jahre in Zeitungen veröffentlichte. Das vorliegende Buch beschränkt sich auf meine politischen Stellungnahmen. Unter ihnen habe ich die dreiunddreißig ausgewählt, die mir aus heutiger Sicht am bedeutsamsten erscheinen, sei es, weil sie unmittelbar nach der Veröffentlichung besonders starke Reaktionen hervorriefen, sei es, weil sie immer noch relevant sind oder durch die nachfolgenden Entwicklungen von neuen relevant geworden sind. Dabei habe ich in Einzelfällen auch Artikel berücksichtigt, die bereits in frühere Bücher eingegangen sind, in den vergriffenen Sammelband Strategie der Eskalation. Der Nahe Osten und die Politik des Westens, in den...
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