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Summer
Dass es keine besonders gute Idee gewesen ist, Hals über Kopf meine Sachen zu packen, mich ins Auto zu setzen und loszufahren, merke ich nach etwa zweihundert Kilometern. Aber die wirklich bleierne Müdigkeit überfällt mich erst kurz vor Glasgow.
Zwölf Stunden Fahrt von London bis auf die Isle of Skye, und das im Alleingang! Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich hätte besser planen sollen. Zum Beispiel hätte ich einen Flug nach Inverness und einen Mietwagen buchen können - oder ein Hotelzimmer auf Skye reservieren, um sicherzugehen, dass ich auch irgendwo schlafen kann, wenn ich ankomme. Und natürlich wäre ein Telefonanruf oder eine E-Mail besser gewesen, als einfach unangekündigt bei den MacKenzies aufzutauchen, ohne eine wirkliche Vorstellung von dem, was ich dort eigentlich will. Aber ich war heute Morgen so verzweifelt und kopflos, dass ich an nichts anderes denken konnte, als London zu verlassen, und zwar so schnell wie möglich. Bloß weg und vor allem: Antworten finden.
Ich presse kurz die trockenen, brennenden Augen zusammen und trinke dann einen Schluck des Kaffees, den ich mir beim letzten Tankstopp geholt habe. Mittlerweile ist er kalt und schmeckt nach Pappe, aber wenigstens hält er mich halbwegs wach.
Wahrscheinlich wäre es am vernünftigsten, mir irgendwo ein Zimmer zu suchen und mich erst mal richtig auszuschlafen, um dann morgen frisch ausgeruht weiterzufahren. Aber irgendetwas treibt mich an, auch wenn ich weiß, dass es keinen Unterschied macht, ob ich einen Tag früher oder später ankomme.
Es ist ja nicht so, als würde mich jemand erwarten.
Die sanft geschwungenen, grünen Hügel der schottischen Highlands, durch die sich die Landstraße seit dem Loch Lomond schlängelt, wechseln sich mit dunkelblauen, spiegelglatten Seen ab, die in der Abendsonne schimmern. Eigentlich bin ich viel zu aufgewühlt, um die Schönheit der Landschaft wirklich aufzunehmen. Trotzdem stelle ich mir kurz vor, wie es gewesen wäre, wenn ich als Kind hier mit meiner Familie Urlaub gemacht hätte. Ich sehe meinen kleinen Bruder Owen und mich in Gummistiefeln über matschige Wiesen rennen, schottische Hochlandrinder und Schafe streicheln und abends vor dem Kamin unter einer dicken Wolldecke Bücher schmökern.
Aber natürlich hat es solch einen Urlaub nie gegeben. Meine Mutter Sophie und mein Stiefvater Alexander wollten im Frühling und Sommer lieber an die Côte d'Azur oder nach Dubai, und im Winter ging es zum Skifahren nach St. Moritz oder Courchevel. Nicht, dass ich mich darüber beschweren würde, aber ein ganz normaler Urlaub, in dem wir Kinder einfach hätten Kinder sein können, wäre auch mal schön gewesen. Entspannte Wochen ohne spießige Abendessen, die strengen Blicke des Hotelpersonals und das Vorzeigelächeln, das wir immer aufsetzen mussten.
Ich verdränge die negativen Gedanken und konzentriere mich wieder auf das, was vor mir liegt. Das Autofahren ist auf der kurvenreichen Straße auch so schon anstrengend genug.
Als ich Fort William am Ufer des Loch Linnhe erreiche, halte ich bei einem Fastfood-Restaurant, wo ich mir einen Burger und eine Portion Pommes kaufe. Nach der langen Fahrt brauche ich frische Luft, also esse ich auf dem Parkplatz, an die Motorhaube meines Wagens gelehnt. Das zitronengelbe Mini-Cabrio wirkt seltsam deplatziert neben dem verbeulten Pick-up-Truck, auf dessen Ladefläche zwei struppige Terrier sitzen und mich mit gespitzten Ohren beobachten. In meinem geblümten, knöchellangen Vivienne-Westwood-Sommerkleid und den rosa Ballerinas sehe ich vermutlich genauso fehl am Platz aus wie mein Wagen.
Der September hat London in der letzten Woche ein paar wunderschöne, milde Spätsommertage beschert, aber hier im Norden kann es nicht wärmer als fünfzehn Grad sein. Fröstelnd ziehe ich meine Strickjacke enger um den Körper und verfluche mich für meine unbedachte Kleiderwahl.
Dabei weiß ich natürlich, warum ich heute Morgen ausgerechnet nach diesem Kleid gegriffen habe:
Ich hatte Sehnsucht nach etwas Farbigem, Fröhlichem. Seit Owens Tod gibt es davon so wenig in meinem Leben.
Bei dem Gedanken an meinen kleinen Bruder fährt mir ein schmerzhafter Stich in die Brust, und von einer Sekunde auf die andere habe ich keinen Appetit mehr. Ich packe den halb aufgegessenen Burger in die Tüte zurück und werfe ihn, zusammen mit den Pommes, in den nächsten Mülleimer.
Die beiden Hunde hinter mir winseln verzweifelt, doch auch wenn sie mir leidtun, kann ich mir nicht vorstellen, dass Cheeseburger mit Ketchup, Tomate und Gurke das richtige Abendessen für sie wäre.
Zurück bei meinem Wagen, bleibe ich kurz stehen und atme ein paarmal tief durch. Östlich von mir thront majestätisch der Ben Nevis. Der höchste Berg Großbritanniens wird dramatisch angestrahlt vom Licht der langsam untergehenden Sonne. Obwohl sich ein paar Wolken gebildet haben, kann ich sehen, dass auf dem Gipfelplateau ein Rest Schnee liegt. Oder ist das schon der erste Schnee des Jahres?
Das Bild ist so schön, dass es mir in den Fingern kribbelt, meine geliebte Kamera herauszuholen, bevor mir einfällt, dass ich sie in der Eile nicht mitgenommen habe.
Nun, die Handy-Kamera tut es auch. Nachdem ich auf den Auslöser gedrückt habe, durchzuckt mich der irrationale Impuls, das Bild an Owen zu schicken. Aber natürlich geht das nicht. Ich werde Owen nie wieder ein Foto schicken können.
Ich schließe die Augen und kämpfe gegen die Trauer an, so wie ich es seit zwei Monaten tue. Schlucke die Tränen herunter. Atme ein paarmal tief durch. Versuche, mich zu entspannen.
Aber dann beginnt mein Handy, das ich immer noch in der Hand halte, zu klingeln. Ein Blick auf das Display verrät mir, dass es meine Mutter ist, und prompt krampft sich wieder alles in mir zusammen. Sie und mein Stiefvater haben mich in den letzten acht Stunden gefühlt im Zehn-Minuten-Takt abwechselnd angerufen, doch ich habe jeden einzelnen ihrer Anrufe ignoriert, denn ich kann und will gerade nicht mit ihnen sprechen.
Als ich mich auf den Fahrersitz fallen lasse, ist das Klingeln glücklicherweise wieder verstummt. Dafür geht kurz darauf eine Voicemail ein. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft mir die beiden heute schon auf den Anrufbeantworter gesprochen haben, aber weil ich weiß, dass ich mich irgendwann zu Hause melden muss, rufe ich die erste Nachricht ab. Sonst kommt meine Mutter noch auf den Gedanken, die Polizei zu alarmieren, um mich als vermisst zu melden.
»Summer, was soll das?«, höre ich die tiefe und vor Autorität triefende Stimme meines Stiefvaters über den Bluetooth-Lautsprecher meines Autos.
Er ist seit über zwanzig Jahren Inhaber und alleiniger Geschäftsführer von Harrison Real Estate Partners, einem der größten Immobilienentwickler Großbritanniens. Er ist daran gewöhnt, dass sein Wort Gesetz ist, und genauso klingt er auch.
»Wir sind noch nicht fertig mit unserem Gespräch, und dein kindisches Verhalten ist absolut inakzeptabel. Wir trauern alle, aber nach Owens Tod musst du Verantwortung übernehmen. Ich gebe dir fünf Minuten, um zurückzukommen und dich zu entschuldigen.«
Fast muss ich lachen. Die Nachricht stammt von heute Vormittag um halb elf. Es ist wohl nicht übertrieben, zu sagen, dass sein Fünf-Minuten-Ultimatum schon eine Weile abgelaufen ist.
Direkt im Anschluss wird die nächste Nachricht abgespielt, und dieses Mal höre ich die Stimme meiner Mutter. Im Gegensatz zu meinem Stiefvater hat sie in ihrem gemeinsamen Leben kaum etwas zu sagen, und das hört man ihr auch an. Sie ist hektisch, schrill und immer etwas angespannt.
»Ich habe keine Ahnung, was in dich gefahren ist, Summer Anne Boyle! Uns hier einfach so mitten im Gespräch sitzen zu lassen und wegzustürmen. Wir sind deine Eltern! Du schuldest uns ein Mindestmaß an Respekt! Und .«
Ich stoppe die Nachricht und überspringe ein paar weitere, weil ich ahne, dass sie sich von den ersten beiden nicht sonderlich unterscheiden werden.
In der letzten Voicemail, die gegen fünfzehn Uhr einging, hört sich die Stimme meines Stiefvaters noch wesentlich aufgebrachter und zorniger an als bei der ersten. Ich kann ihn förmlich vor mir sehen: Sein Gesicht hat eine dunkelrote Farbe angenommen, und die kleine Ader an seiner rechten Schläfe pocht - wie immer, wenn er wütend ist. Früher, als Kind, hat mir das schreckliche Angst gemacht, weil mit der pochenden Ader immer mindestens Hausarrest oder eine Taschengeldkürzung einherging und viel zu oft auch eine schallende Ohrfeige und verbale Erniedrigungen. Selbst heute, mit achtundzwanzig, verursacht mir die Erinnerung daran immer noch ein dumpfes Gefühl in der Magengegend.
»Wie alt bist du?«, knurrt mein Stiefvater. »Zwölf? Du bist eine Harrison, und ich erwarte, dass du dich entsprechend verhältst! Du meldest dich umgehend bei uns und kommst zurück in die Villa, damit wir unser Gespräch fortsetzen können.«
Obwohl ich weiß, dass er mich nicht sehen kann, schüttle ich den Kopf. Meine Mutter hat Alexander so kurz nach meiner Geburt geheiratet, dass ich mich später immer gefragt habe, wie sie sich so schnell über den Tod ihres ersten Mannes hat hinwegtrösten können. Aus meiner Mum wurde bei der Hochzeit Sophie Harrison, während ich Summer Boyle blieb.
Ich bin nicht wirklich unglücklich darüber, den Namen meines leiblichen Vaters behalten zu haben, der ein paar Monate vor meiner Geburt an einem Herzinfarkt gestorben ist. Für Alexander kam es nie infrage, mich zu adoptieren, und auch von diesem formellen Schritt abgesehen, hat er mich nicht annähernd wie eine Tochter...
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