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Chacabuco hat eine traurige Geschichte. Die Stadt wurde gebaut, als ihre Zeit eigentlich schon abgelaufen war. Und doch war sie die größte ihrer Art: Siebentausend Menschen wohnten dort, mitten in der Atacama-Wüste. Die Bewohner des chilenischen Nordens nennen diese Einöde La Pampa, ein Begriff, der ursprünglich für die weiten Steppenlandschaften Argentiniens geprägt worden ist: eine endlose Ebene aus wogendem Gras. Auch die Pampa im Norden von Chile ist über Hunderte von Kilometern eintönig. Aber da ist kein Gras. Die Atacama-Wüste gilt als eine der trockensten Gegenden der Welt. Am Tag steigt die Hitze schnell über vierzig Grad, in der Nacht ist es empfindlich kalt, manchmal weit unter null Grad. Und kein Wasser weit und breit. Chacabuco war eine der größten sogenannten Oficinas. Wörtlich übersetzt heißt das eigentlich Büros, doch in den Oficinas der Atacama-Wüste wurden keine Akten gewälzt. Sie waren Produktionsdörfer für Salpeter und in der Zeit des großen Booms gab es 136 solche Siedlungen in der Wüste. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sind sie längst zu Geisterstädten geworden.
Chacabuco wurde in den Jahren 1922 bis 1924 von der britischen Firma The Lautaro Nitrate Co. Ltda. errichtet; damals war der Salpeterboom eigentlich schon vorbei. 1910 hatte die in Ludwigshafen ansässige Chemiefabrik BASF ein Patent für das Haber-Bosch-Verfahren angemeldet: Die Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch hatten eine in industriellem Maßstab einsetzbare Methode entwickelt, mit der aus den Elementen Stickstoff und Wasserstoff Ammoniak gewonnen werden konnte. Salpeter, der vorher als Stickstoff-Düngemittel genauso unabdingbar war wie als Bestandteil des damals üblichen Sprengstoffs, hatte eine billigere synthetische Konkurrenz bekommen, die zudem überall auf der Welt verfügbar war. So hatte Chacabuco von Anfang an eigentlich keine Zukunft, sondern nur eine Vergangenheit.
Die Produktion wurde mitten in einer schweren Salpeterkrise aufgenommen: Die billige sythetische Konkurrenz aus Deutschland war schon spürbar, zudem hatte mit dem Ende des Ersten Weltkriegs die Nachfrage nach Salpeter zur Herstellung von Schwarzpulver rapide nachgelassen. Die Hälfte der sechzigtausend Salpeterarbeiter in der Atacama-Wüste waren entlassen worden. Doch The Lautaro Nitrate Co. Ltda. hoffte, mit der neuen Megaoficina trotzdem Gewinne zu machen. Chacabuco war damals die modernste Produktionsstadt zur Salpetergewinnung. Mit der damals besten Auslaugmethode - dem nach dem britischen Erfinder James Shank benannten Shank-System - sollten die Effizienz gesteigert und die Kosten gesenkt werden. Auch unter sozialen Aspekten war Chacabuco vorbildhaft: Eine in sich geschlossene städtische Anlage zur Selbstversorgung, mit Krankenhaus, Theater, Tanzsaal und Kirche, mit Hotel und Schule, Kaufläden und Markthalle, mit Turnhalle, Schwimmbecken und Fußballfeldern. Die Anlagen waren für die Produktion von fünfzehntausend Tonnen Salpeter im Monat ausgelegt. Zu besten Zeiten wurden gerade acht- bis zehntausend Tonnen erreicht, die Nachfrage war zu schwach. Schon 1938 wurde die Produktion wieder eingestellt.
Chacabuco liegt rund hundert Kilometer nordöstlich der Hafenstadt Antofagasta, ein paar Kilometer abseits der Straße, die nach Calama führt. Schnell steigt man vom schmalen pazifischen Küstenstreifen hinauf auf die gut zweitausend Meter Höhe der Atacama-Ebene, die keine Sandwüste mit Dünen ist, sondern eine wellige rotbraune Landschaft aus Stein und festgebackener nackter Erde. Man sieht ihr bis heute an, dass sie industriell genutzt wurde: Über Hunderte von Kilometern ist der Boden aufgebrochen, als hätten Myriaden von riesigen Wühlmäusen die unwirtliche Gegend durchpflügt. Bisweilen schimmert die Erde weiß - das kann Salpeter sein oder auch Salz -, bisweilen auch grünlich, was eher auf einen hohen Kupfergehalt hindeutet. Man fährt an zerfallenen Siedlungen vorbei, ganze Reihen von Ruinen, von denen nur noch die Grundmauern aus Lehmziegeln stehen. Alles, was wiederverwertbar war, wurde schon vor Jahrzehnten abmontiert. Der Wind und die Erosion schleifen das, was stehen geblieben ist, langsam ab.
Chacabuco ist im Vergleich zu diesen Geistersiedlungen fast noch eine richtige Stadt. Von außen sieht man zunächst nur die einfriedende Mauer, einen Schornstein und das Dach des Theaters, das am besten erhaltene Gebäude der Stadt. Bühne und Zuschauerraum sind noch intakt, nur die Stuhlreihen sind längst abgebaut. In den ehemaligen Räumen der Technik ist in ein paar verlassenen staubigen Vitrinen eine kleine Ausstellung aufgebaut: derbe Arbeitskleidung, Spitzhacken und anderes Werkzeug. Verblassende Plakate zeigen, dass durchreisende Ensembles hier früher Sherlock-Holmes-Krimis und Liebesdramen gegeben haben. Um den Platz vor dem Theater reihen sich Tanzsalon, Markt und Warenlager - große Hallen, die meisten mit Arkadengängen. Sie werden heute vom harten Wüstenlicht durchflutet, weil die Dächer abgetragen wurden. Im Nordwesten des Platzes liegt die Wohnsiedlung der Arbeiter: lange Reihenhäuser mit schlichten Dreizimmerwohnungen für die Familien und für die Junggesellen einzelne Zimmer, in denen einst Stockbetten standen. Die meisten dieser Straßenzüge sind so zerfallen, dass Schilder dringend raten, die Gebäude wegen der Einsturzgefahr nicht zu betreten. Nur am nordwestlichen Rand rund um den ehemaligen Fußballplatz sind die Arbeiterwohnungen noch so gut wie intakt. Der Trakt ist nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 ein Jahr lang als Lager für tausendachthundert politische Gefangene genutzt worden.
Die Produktionsanlagen waren im Osten. Ein hoher schlanker Schornstein steht dort, lange Reihen aus Holzgestellen, tiefe gemauerte Becken, schwere Walzen aus rostendem Metall. Das Gerippe eines Lastwagens aus den 30er-Jahren ist vor dieser Szenerie zusammengebrochen. Da ist niemand, der erklären würde, wie hier früher gearbeitet wurde. In Chacabuco wohnt heute nur noch ein Mensch: ein etwas schrulliger älterer Mann, der hier als politischer Gefangener inhaftiert war und es sich zur Aufgabe gemacht hat, die zerfallende Stadt zu bewachen.
Haroldo Quinteros kann erzählen, wie es damals war. Er ist der älteste noch lebende Arbeiter, der Jahre in einer Oficina verbracht hat: 1914 geboren, im August oder - wie er sagt - »als der erste Weltkrieg gerade ausgebrochen war«. Er stammt aus San Fernando, einem Dorf südlich der Hauptstadt Santiago, und kam 1936 in den Norden. »Vier Tage dauerte das mit dem Zug von Santiago bis nach Iquique«, einer Stadt, die zwischen Pazifik und Wüste eingeklemmt ist. »Damals gab es noch keine Straße in den Norden, nur Dampfschiffe oder den Zug.« Haroldo Quinteros ist in einer Landarbeiterfamilie aufgewachsen, sieben Jungs und fünf Mädchen. Das Leben war hart, im Winter gab es oft nicht genug zu essen. Er war Pate eines Mädchens, dessen Vater damals in einer Salpetermine arbeitete. »Der schrieb mir, ich solle doch kommen. Die Arbeit sei hart, aber gut und die Verpflegung hervorragend. So habe ich mich auf das Abenteuer eingelassen.« Sein Vater, ein konservativer Mann, habe ihn noch gewarnt: Es gebe immer wieder Streiks in den Oficinas, und die würden mitunter gewaltsam niedergeschlagen. Der Vater sprach von vielen Toten. Der Sohn aber vertraute dem Freund.
Während der Weltwirtschaftskrise und in den Jahren danach war die Salpeterindustrie am Boden gelegen. Jetzt schien es, als rapple sie sich langsam wieder auf. Die Zeit der Massenentlassungen war vorbei, es wurden wieder Arbeiter gesucht. Haroldo Quinteros kam in die Oficina Iris, ganz im Osten der Atacama-Wüste und fast schon am Fuß der Anden. »Es war wie ein kleines Städtchen, so fünftausend Einwohner.« Ein Drittel davon Arbeiter, der Rest Familienangehörige, dazu Bäcker, Metzger und was man sonst noch so alles brauchte. Iris gehörte einem britischen Konzern; »die meisten Oficinas gehörten Engländern oder Deutschen, ein paar auch Spaniern oder Franzosen. Den Chilenen waren die Investitionen zu gewaltig.«
Am liebsten sitzt Haroldo Quinteros heute in der Laube hinter seinem Häuschen am Rand von Iquique. Hier lässt sich die Hitze des Sommers ertragen, hier kann er sich in seine geliebten Gedichtsammlungen vertiefen. Er hat für sein Alter ein erstaunliches Gedächtnis, kann noch Kindergedichte rezitieren, die ihm seine Mutter beigebracht hat, als er noch nicht einmal lesen und schreiben konnte. Aber auch lange Balladen, die von der Ausbeutung draußen in der Pampa erzählen, von heroischen Arbeitern, vom Streik und vom Sieg. Er ist, seit er in die Oficina Iris kam, Gewerkschafter; er stand politisch immer links. In seinem Wohnzimmer hängt ein großes Poster von Salvador Allende, zum hundertsten Geburtstag des Volksfrontpräsidenten. Der war sechs Jahre älter als er, und würde er heute noch leben, er müsste dem alten Quinteros...
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