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Der Verlust des Anstands
Drei Tage vorher
Centennial Park, Sydney
An ihrem letzten Tag als unverheiratete Frau versuchte Vivienne George, sich durch bloße Willenskraft in Luft aufzulösen.
Nach einem späten, aus dünner Suppe und gezwungener Unterhaltung bestehenden Abendessen hatte sich Geraldine, ihre Mutter, in ihr Ankleidezimmer zurückgezogen, um ihre festliche Garderobe für den großen Tag zurechtzulegen und sich schön zu machen.
Der große Tag für die Mutter der Braut, dachte Vivienne grimmig, als sie auf Zehenspitzen an der geschlossenen Tür vorbeiging. Eigentlich stand ihr Geraldines Tür kaum jemals offen. Sie stellte sich vor, wie ihre Mutter, die Haare auf Lockenwickler drehte, diverse Cremes und Salben auftrug und ihre Antifaltenpflästerchen anfeuchtete, um sie auf das Gesicht zu kleben, das sich erdreistete, ihr ihren großen Auftritt zu verderben. So viele Stunden Lebenszeit, geopfert für einige wenige Minuten der Selbstpräsentation.
Vivienne huschte weiter in den Salon, wo auf langen Tischen die Hochzeitsgeschenke aufgebaut waren, alle sortiert und in Geschenkpapier verpackt und mit von Mrs Howard Woollcott unterschriebenen Dankeskärtchen versehen.
Sie war noch nicht einmal verheiratet und hatte ihre eigene Identität bereits aufgegeben.
Langsam ging sie die Reihen der vornehm eingedeckten Tische hindurch, strich mit den Fingerspitzen über Silber, Gold und Bleikristall, über Muranoglas, schimmernde Perlmuttgriffe und goldgerändertes feinstes Porzellan. Sie kam sich fast vor wie von einem Piratenschatz umgeben, so intensiv funkelten und glitzerten alle diese Kostbarkeiten im Schein des edlen Kronleuchters an der kunstvoll gepressten Blechdecke.
Und warum hatte sie bloß das Gefühl, dass sie im Begriff war, alles zu verlieren, was ihr Leben lebenswert machte?
Panik stieg in ihr auf, in ihrem Kopf drehte sich alles so vehement, dass sie fürchtete umzukippen. Gläser klirrten, als sie sich an die Tischkante klammerte und auf das Abklingen des Schwindelgefühls wartete.
Diese Attacken - ihre »Anfälle« - traten immer häufiger auf und dauerten jedes Mal länger. Sie führe sich unmöglich auf, wenn sie sich so einen Anfall nehme, hatte ihre Mutter sie das letzte Mal scharf zurechtgewiesen. Sie hatte tatsächlich »sich einen Anfall nehmen« gesagt und nicht etwa »einen Anfall erleiden«.
Das sei unschicklich, hatte ihre Mutter gesagt.
Unschicklich? Viviennes Körper wehrte sich schlicht dagegen, Mrs Howard Woollcott zu werden. Könnten sie die Hochzeit denn nicht verschieben, bis sie sich absolut sicher sei? Doch ihre Mutter hatte ihr nur ihren schlanken Rücken zugedreht und Viviennes verzweifelter Bitte ihren eisernen Willen entgegengesetzt. Statt Verständnis hatte sie ihrer Tochter ein Fläschchen Dr. Williams' Pink Pills angeboten mit den Worten: »Für deine nervösen Kopfschmerzen.«
Es waren jedoch nicht Viviennes Kopfschmerzen, die Geraldine zu bekämpfen versuchte.
Diese Attacke nun war die bisher schlimmste. Vivienne fürchtete, sie werde stürzen. Sie tastete blind nach einem Stuhl, ließ sich darauf fallen und presste beide Hände an die Stirn.
»Alles gut«, murmelte sie zwischen kurzen, harten Atemstößen. »Alles in Ordnung. Das ist gleich wieder vorbei.«
Aber das stimmte nicht. Der morgige Tag war nur der Anfang. Danach würde es niemals vorbei sein; erst der Tod würde sie erlösen.
Ein leises Rascheln riss sie aus ihren Gedanken und den Worten, mit denen sie sich selbst gut zuredete, ein Rascheln, das nichts Beruhigendes hatte: Es war der Morgenmantel ihrer Mutter.
Langsam hob sie den Kopf. Obwohl sie wusste, was sie in den blassblauen Augen ihrer Mutter sehen würde - Kälte und Härte -, hoffte sie, wenn schon nicht auf Mitgefühl, dann wenigstens auf gütiges Verständnis.
Vielleicht musste es so sein, dass ihre bislang schlimmste Attacke Geraldine in nie gekannte, rasende Wut versetzte. Die Ränder ihrer fest zusammengepressten Lippen traten weiß hervor.
»Steh auf«, zischte sie durch aufeinandergebissene Zähne hindurch. »Ich werde mir das nicht länger mitansehen. Du bist eine gebildete junge Dame und heiratest in eine der vornehmsten Familien des Landes ein. Benimm dich gefälligst entsprechend.«
Vivienne begann zu keuchen.
»Steh. Auf.«
Vivienne stemmte sich vom Stuhl hoch, klammerte sich jedoch hinter ihrem Rücken an die Tischkante.
Mit gebieterisch wippenden Lockenwicklern durchquerte Geraldine den Raum. Der Duft von Arpège hüllte Vivienne ein wie eine Umarmung - die einzige, die sie jemals von ihrer Mutter bekommen würde. Sie blinzelte.
Aus der Nähe betrachtet, wurde Geraldines große Schönheit, die sie nur ungern an ihre Tochter weitergegeben hatte, lediglich durch feine Fältchen und einige silberne Haare in den glänzenden blonden Wellen beeinträchtigt - beides unvermeidliche Alterserscheinungen, die sich ohne ihre Erlaubnis eingestellt hatten.
Vivienne starrte ihre Mutter unglücklich an.
Geraldines Wangen wurden noch eine Spur verkniffener. »Du sollst aufhören, hab ich gesagt.«
Dann hilf mir! Ich brauche mehr Zeit zum Nachdenken, bevor ich mich bereit erkläre, auf mein Leben zu verzichten.
Vivienne griff sich an den Hals, dorthin, wo eigentlich ihre Stimme herkommen sollte, wäre da nicht die Panik, die ihr die Kehle zuschnürte.
Mach den Mund auf, befahl sie sich.
»Ich . bin nicht glücklich.«
»Sprich deutlicher!« Doch im Grunde ging es Geraldine nicht um Lautstärke oder Verständlichkeit, sondern darum, ihre Tochter zum Schweigen zu bringen.
»Ich bin nicht glücklich, Mutter.«
Geraldines Blicke huschten auf der Suche nach eventuellen Lauschern durch den Salon. »Nicht glücklich?« Ein ungläubiges Schnauben.
Vivienne schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich bin schrecklich unglücklich.«
»Undankbar, meinst du wohl! Du hast alles, was eine Frau sich nur wünschen kann, alles, wofür du erzogen worden bist.«
»Nein, nicht alles.«
Geraldine ließ den Blick über die Hochzeitsgeschenke schweifen. »Was denn noch?«
»Ich . weiß es nicht«, flüsterte Vivienne.
Ich weiß nur, dass ich es nie bekommen habe. Nicht von dir, nicht von dem Mann, den ich heiraten soll, nicht vom Leben selbst.
»Was redest du nur für einen Unsinn! Dir fehlt es an Klasse.« Geraldines Blick kannte keine Gnade. »Howard ist ein anständiger Mann.«
Das war er vermutlich. Vivienne fand nichts an ihm auszusetzen - empfand allerdings auch keine Spur von Zuneigung mehr für ihn.
»An seiner Seite wirst du alle erdenklichen Privilegien haben. Er wird dir eine sichere Zukunft bieten und deinen Kindern auch. Er wird dich zur Frau machen.«
»Aber ich liebe Howie nicht!«
»Was bist du nur für ein naives Ding! Sich verlieben kann jeder, aber nur sehr wenige haben Gelegenheit, in bessere Kreise einzuheiraten. Die Ehe ist eine taktische Entscheidung, bei der es auf Cleverness und Ehrgeiz ankommt. Und du hast dich für eine Zukunft entschieden, die jede andere in den Schatten stellt. Du wirst Howard mit der Zeit lieben lernen, so wie ich deinen Vater lieben lernte.«
Nein, mein Vater starb, bevor du solche Gefühle für ihn entwickeln konntest. Ist das alles, was ich zu erwarten habe - einen Mann zu überleben? Konservierte Schönheit?
Als könnte sie ihre Gedanken lesen, verzerrte sich Geraldines Gesicht höhnisch. Vivienne schlug die Augen nieder angesichts der Grausamkeit, die ihre Züge spiegelten.
Dennoch unternahm sie einen weiteren Versuch. »Ich kann Howard nicht heiraten, Mutter. Du kannst mich nicht .«
»Halt den Mund!«, zischte sie. »Du hast Lampenfieber, das ist alles. Du wirst morgen vor dem Altar stehen, das Ehegelübde ablegen, für die Fotografen lächeln und von allen Frauen in dieser Stadt beneidet werden! Das ist mein letztes Wort. Die Kosmetikerin kommt um sechs - also sieh zu, dass du ins Bett kommst.«
Sie rauschte hinaus, der Saum ihres Morgenmantels wirbelte um ihre Knöchel.
Vivienne unterdrückte einen gequälten Aufschrei und flüchtete auf die Dachterrasse.
Von hier oben betrachtet, funkelten die Lichter von Sydney in ihrer ganzen Pracht. Doch am Himmel leuchteten keine Sterne. Es hatte fast ununterbrochen genieselt, und der morgige Tag würde noch trostloser werden. Regen am Hochzeitstag sei ein gutes Omen, behauptete ihre Mutter. Und was kündigte eine wahre Flut von Tränen an?
Ein mit Wolle gefülltes Holzfass hatte den Platz ihrer Lunge eingenommen. Jedenfalls kam es Vivienne so vor. Sie presste eine Hand auf die Brust, wie um sich zu vergewissern, dass ihr Körper noch funktionierte und sie nach wie vor mit Sauerstoff versorgte.
Ihre sonst so unbekümmert flatternden Gedanken hatten sich in einen strudelnden Sog verwandelt. Warum hatte sie nicht früher versucht, die Verlobung aufzulösen? Wie hatte sie nur so dumm und feige sein können! Sie hatte so lange gegrübelt, dass sie den Zeitpunkt für einen Richtungswechsel verpasst hatte. Fünf vor zwölf war längst vorbei. Es war grausam, Howie in diesen fürchterlichen Schlamassel hineinzuziehen. Ihre Ehe würde eine Katastrophe werden, eine Lüge sein. Sie würde den Rest ihres Lebens eine Rolle spielen müssen, die sie schon jetzt verabscheute. Der Gedanke jagte ihr Angst ein.
Nein, sie würde die Sache auf keinen...
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