Kapitel 2
Einen Monat später
»Leo hat angerufen«, sagt mein Bruder Cayden. Er spricht von einem Kumpel aus der Army, den wir als neuesten Angestellten bei Blackwell-Lyon Security gewinnen wollen. Cayden und ich stehen für Lyon, während unser Freund Pierce der Blackwell ist. »Er kommt eine Viertelstunde später.«
»Kein Problem. Ich habe gerade die Kundenliste und den Terminkalender auf den neuesten Stand gebracht. Jetzt bleibt noch Zeit, vor dem Meeting Kopien davon zu machen.«
»Hmm«, nickt er, während ich zum Aktenraum gehe, wo ein Monstrum von Kopierer steht, der alles macht außer Espresso und heiße Croissants.
Ich halte inne und werfe einen Blick zurück auf meinen merkwürdig finster wirkenden Bruder, dessen finstere Ausstrahlung noch betont wird durch die piratenhafte Augenklappe, die er trägt, seit er in Afghanistan verletzt wurde. »Gibt es ein Problem?«, frage ich, obwohl ich es besser wissen müsste. Denn durch diese eine Frage werde ich zweifellos die Büchse der Pandora öffnen, um die ich seit vier Wochen einen großen Bogen mache.
»Ich hab nichts gesagt«, erwidert er.
»Nein, hast du nicht. Aber verdammt laut gedacht.«
Er zuckt lässig die Schultern. »Ich hab ein Superhirn, Bruder. Kann ich was dafür, wenn meine Gedanken Berge versetzen können?«
Ich zeige ihm kurz den Mittelfinger und bin erleichtert, dass mir eine Unterhaltung erspart bleibt, auf die ich ganz und gar nicht scharf bin. Dann setze ich mich wieder Richtung Aktenraum in Bewegung.
»Ich hab mich nur gefragt, warum du nicht Kerrie bittest, die Kopien für das Meeting zu machen«, folgt mir seine Stimme. »Schließlich ist sie die Büroleiterin, und du kannst deine kostbare Zeit darauf verwenden, den Bericht über die Überwachung letzte Nacht zu schreiben.«
Ich ignoriere ihn - genau wie seine Unterstellung, dass ich Kerrie aus dem Weg gehe. Das tue ich nämlich nicht.
Na gut, das ist gelogen.
Ich gehe ihr aus dem Weg, aber aus gutem Grund. Denn wenn man einen über den Durst trinkt und dann während der Verlobungsfeier des eigenen Bruders mit seiner Ex-Freundin/Mitarbeiterin/Schwester des besten Freundes in einem Hauswirtschaftsraum herummacht, kann das schon mal ein bisschen problematisch werden. Hat man mir zumindest gesagt.
Aber es ist nicht nur das. Es geht auch um Effizienz. Als ich vor knapp zwei Minuten an der offenen Tür von Kerries Büro vorbeikam, saß sie nicht an ihrem Platz. Was heißt, es ist schlichtweg einfacher, selbst die Kopien zu machen, bevor ich in mein Büro zurückkehre, um den Bericht zu schreiben.
Ich gehe nichts und niemandem aus dem Weg. Ganz gleich, was vielleicht in der Psychologie heute stehen mag, Cayden ist mein Zwillingsbruder, aber meine Gedanken kann er nicht lesen.
Das rede ich mir gerade ein, als ich die Tür zum Aktenraum öffne, eintrete und sofort zwei Auffälligkeiten registriere. Erstens das mechanische Surren des Kopierers. Und zweitens, dass Kerrie davor steht.
Sie hat mir den Rücken zugewandt und sich vorgebeugt, um ein paar Unterlagen zu stapeln - ein Anblick, den ich momentan ganz und gar nicht gebrauchen kann. Nichts, was nicht jugendfrei wäre. Durchaus familientauglich. Aber es reicht schon, um mein Blut in Wallung zu bringen. Die erotische Linie ihrer Fußfesseln und Waden, die durch ihre ziemlich hohen Schuhe noch betont wird. Die weiche Haut an ihren Kniekehlen - die, wie ich zufällig weiß, eine ihrer erogensten Zonen ist. Ihre schlanken, straffen Schenkel, die sie ihrer täglichen Runde Yoga, Radeln oder Schwimmen verdankt. Und natürlich die Rundung ihres perfekten, herzförmigen Pos.
Wie oft habe ich den Sonnenaufgang mit meiner Morgenlatte an diesem vollkommenen Hinterteil begrüßt? Wie oft habe ich diese Rundungen auf einer Tanzfläche umfasst oder mich daran festgehalten, während sie auf meinem Schwanz saß und mich geradewegs in den Himmel ritt?
Gottverdammt noch mal!
Allein von der Erinnerung werde ich hart, und da meine Gedanken jetzt definitiv nicht diese Richtung einschlagen sollen, trete ich einen Schritt zurück, um durch die immer noch offene Tür hinauszuschlüpfen, bevor sie mich bemerkt.
»Connor. Oh. Hey.«
Zu spät.
Ich erstarre und zeige dann dümmlich auf den Kopierer. »Den brauche ich mal. Aber das kann warten.«
»Ist schon gut, ich bin fast .«
Aber den Rest des Satzes höre ich nicht, weil ich bereits den Raum verlassen habe. Ich bin schon fünf Schritte durch den Flur, da spüre ich ihre Hand an meinem Rücken. Ich bin ein großer Kerl, war früher bei den Special Forces, gehe jeden Morgen ins Fitnessstudio, laufe täglich mindestens zwei Meilen und fahre an den meisten Wochenenden mit meinem Rennrad zwischen vierzig und fünfzig Meilen durch das Hill Country. Und doch reicht ein schneller, fester Schubs von ihr, um mich in eines unserer drei leeren Büros zu katapultieren. Sie folgt mir, knallt die Tür hinter sich zu und starrt mich durchdringend an.
»Was zum Teufel soll das, Kerrie?«
Sie verschränkt die Arme über der Brust, sagt aber nichts. Kerrie ist hinreißend - und das sage ich nicht nur, weil ich früher mit ihr zusammen war. Sie ist ein echter Hingucker und hat vor nicht allzu langer Zeit undercover als Model für uns gearbeitet. Jetzt starrt sie mich mit ihren riesigen braunen Augen an, und verdammt noch mal: Ich habe das Gefühl dahinzuschmelzen.
Ohne ein Wort begebe ich mich zum Schreibtisch und lehne mich daran. Vielleicht gibt's jetzt Streit, vielleicht auch nicht. Aber ich werde nicht derjenige sein, der den Startknopf drückt.
Es herrscht eine aufgeladene Atmosphäre, die mich gleichzeitig stört und erregt. Erregt, weil das immer so zwischen uns ist. Und stets so war. Und das ist natürlich das Störende daran. Denn wie zum Teufel sollen wir über einander hinwegkommen und wieder nur Freunde sein, wenn es knistert, sobald wir nur wenige Schritte von einander entfernt sind?
»Es tut mir leid«, sagt sie schließlich.
Das ist das Letzte, was ich erwartet hätte.
»Moment mal. Was?«
»Du hast mich schon verstanden. Ich hab Mist gebaut.« Sie fährt sich mit den Fingern durch die honigblonden Haare und seufzt. Kerrie hat einen großartigen Schmollmund mit vollen Lippen, und ich weiß noch allzu gut, wie köstlich er schmeckt. Aber momentan sind ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst und an den Mundwinkeln nach unten gezogen.
Ich trete einen Schritt näher zu ihr. Am liebsten würde ich die Hand ausstrecken und sie berühren. Doch bei dieser aufgeladenen Atmosphäre würde ich eine Explosion riskieren.
»Ist schon gut«, versichere ich und frage mich dabei, ob sie einem Kunden eine falsche Information gegeben oder irgendetwas mit den Akten verbrochen hat. Sie arbeitet Vollzeit, studiert gleichzeitig Betriebswirtschaft und hat kaum Zeit zum Schlafen. Daher würde es mich nicht wundern, wenn sie viel häufiger Fehler machen würde. »Was auch immer es ist, das bringen wir schon wieder in Ordnung.«
»Wirklich? Denn ganz ehrlich, wenn ich gewusst hätte, dass du so sein würdest, wäre ich durch die Garage von der Party geflüchtet. Nie hätte ich dich geküsst, geschweige denn - du weißt schon. Ganz gleich, wie sehr ich es wollte oder wie großartig es sich anfühlte.«
Als ich das höre, sinkt mir das Herz. »Kerrie, du weißt doch, wir können nicht .«
»Ja, verdammt, das weiß ich.« Als sie auf mich zukommt, sind wir kaum noch eine Armeslänge voneinander entfernt. »Ich weiß, wir können nicht zusammen sein. Glaub mir, Connor, das hast du mir mehr als deutlich gemacht. Wir hatten ein knappes Jahr und gingen dann getrennte Wege. Keine Bindungen, kein Drama. Als du Schluss gemacht hast, war das der Deal, nicht wahr? Wir schworen uns, Freunde zu bleiben.«
»Das war der Deal«, sage ich angespannt und versuche gar nicht daran zu denken, worauf sie hinauswill.
»Genau. Das war der Deal. Dem wir beide zugestimmt haben. Obwohl ich es vollkommen blöd und hirnrissig von dir fand, mit mir Schluss zu machen, habe ich weder einen Tobsuchtsanfall bekommen noch geheult, noch dir Gemeinheiten an den Kopf geschleudert.«
Unwillkürlich muss ich lächeln. »Nein, all das hast du nicht getan.«
»Unsere Trennung war zivilisiert und vernünftig. Ein Schnitt, wie er sauberer nicht sein kann. Und danach waren wir immer noch Freunde. Kollegen. Und alles war cool, oder?«
»Ja, das war es.«
»Genau«, nickt sie. »War es.«
Sie überrascht mich mit einem weiteren Schubs gegen meine Brust. »Hallo? Vergangenheitsform. Denn jetzt hat sich alles verändert. Warum in aller Welt also verhältst du dich seit Caydens und Gracies Verlobungsparty wie ein totales Arschloch?«
»Moment mal«, protestiere ich. »Wieso wie ein Arschloch?«
»Du weichst mir aus«, sagt sie und kommt damit wie immer sofort auf den Punkt. Ich wusste, dass sie mich zur Rede stellen würde. Und genau deshalb habe ich mir noch mehr Mühe gegeben, ihr aus dem Weg zu gehen.
»Selbst nachdem wir unsere Affäre beendet hatten - wie du die Sache zwischen uns nanntest«, fährt sie fort, »bist du mir nie ausgewichen. Aber kaum trinken wir einmal ein bisschen zu viel und nutzen diesen Hauswirtschaftsraum, da plötzlich .«
»Das bildest du dir nur ein«, erwidere ich, weil ich ein totales Arschloch bin. Denn natürlich bildet sie sich gar nichts ein.
»Wag es nicht!«
»Na gut, es ist nicht nur Einbildung. Aber der Grund ist, dass ich eben ein Arsch bin. Genau wie du...