Kapitel 3
Gracie neigt sich vor und stützt sich mit dem Ellbogen auf die polierte Holztheke, als der Barkeeper ihr ein frisches Glas hinstellt. Ein rötlichbrauner Cocktail in einem Martiniglas, vermutlich ein Manhattan. »Also hatte ich recht?«, fragt sie, stützt ihr Kinn auf ihre Faust und wartet, die meerblauen Augen aufgerissen, gespannt auf eine Antwort. Das kann ich sehen, weil ich meinen Platz auf der Couch aufgegeben habe. Mittlerweile sitze ich ein paar Hocker links von Gracie an der Bar, und da die Theke kreisförmig ist, habe ich einen guten Blick auf ihr außergewöhnlich hübsches Gesicht.
»Schon gut, ich gebe es zu«, erwidert der Barkeeper. »Du lagst goldrichtig. Sie meinte, das sei ihr bestes Date gewesen.«
»Das freut mich sehr für dich.« Gracies Lächeln erhellt die ganze dämmrige Bar, und während ich sie beobachte, tippe ich selbstvergessen mit dem Finger auf die Theke und revidiere meine erste Einschätzung. Offenbar ist Gracie mit dem Barkeeper doch nicht auf vertrautem Fuß. Jedenfalls nicht so vertraut, wie Mr. Peterman argwöhnt. Aber das heißt noch nicht, dass sie nicht doch auf der Suche ist.
»Noch einen?«, wendet sich der Barkeeper, der laut Namensschild Jon heißt, an mich. »Oder die Karte?«
Dabei hat er mir gerade einen frischen Drink gemacht, und die Speisekarte liegt innerhalb meiner Reichweite. Ganz kurz bin ich verwirrt. Dann merke ich, dass ich mit dem Finger tippe, und halte inne. »Sorry. Das sollte kein Signal sein.«
Ich bemerke, dass Gracie einen neugierigen Blick in meine Richtung wirft, und erkenne sofort, dass ich die leicht peinliche Situation zu meinem Vorteil nutzen kann. Ich schaue Gracie direkt in die Augen und lächele geheimnisvoll, gerade so, dass mein kleines Grübchen auftaucht, das Kerrie bei meinem Zwilling Connor teuflisch sexy fand. (Fürs Protokoll: Da wir eineiige Zwillinge sind, halte ich es für mehr als gerechtfertigt, diese Information zu meinen Gunsten zu verwenden.)
»Ich dachte gerade an etwas ganz anderes«, sage ich, immer noch lächelnd, zum Barkeeper. Ohne den Blick von Gracie zu lösen.
Ihre Mundwinkel zucken ganz leicht, doch dann wendet sie rasch den Blick ab und wickelt sich eine Strähne ihrer blonden Haare um den Finger, während ein Hauch von Rosa ihre Wangen überzieht.
Bingo.
Die Botschaft ist angekommen.
Als ich aus Afghanistan zurückkehrte, ohne mein linkes Auge, dafür aber mit einer hässlichen Narbe und einer schwarzen Augenklappe als neues Modeaccessoire, suhlte ich mich zugegebenermaßen ziemlich in Selbstmitleid. Bis mir Kerrie einen Arschtritt gab und mich zwang, mich der Realität zu stellen.
Kerrie ist nicht nur unsere Büroleiterin, sondern auch die kleine Schwester meines besten Freundes. Eine kurze Zeitspanne war sie außerdem mit meinem Bruder zusammen, obwohl sie jetzt beide Stein und Bein schwören, sie wären nur noch Freunde, und daran würde sich auch nichts mehr ändern.
Mag sein.
Ich werde sie nicht ermutigen, wenn sie das nicht wollen, vor allem, da ich weiß, dass Connor der Altersunterschied von vierzehn Jahren ziemlich zugesetzt hat. Aber Kerrie ist eine Frau, die ich ohne Bedenken auf ein Podest stellen würde. Sie hat ihre Schwächen und Schrullen - und Tippen kann sie ganz und gar nicht -, aber ich weiß genau, dass sie nie, niemals, das mit Connor abziehen würde, was Vivien mit mir abgezogen hat.
Und in meiner Welt bedeutet das eine Menge.
Außerdem ist sie verdammt schlau. Deshalb behauptete sie auch als Erste - und zwar völlig zu Recht -, dass meine Heimkehr aus dem Nahen Osten mir einen Vorteil gegenüber meinem Bruder verschafft hat, zumindest, was die Wirkung auf Frauen betrifft.
»Es liegt an der Augenklappe«, verkündete Kerrie ein paar Wochen nach meiner Rückkehr bei einer Happy Hour. »Du und Connor seid beide ohnehin schon dermaßen scharf, dass es unfair ist gegenüber Normalsterblichen wie meinem Bruder .«
»Oh, vielen Dank.« Pierce, der sich noch nie über Frauenmangel beklagen konnte, bewarf seine kleine Schwester mit einer wodkagetränkten Olive.
»Bin ich die Einzige, die auf Manieren achtet?«, fragte sie klagend und bedachte den amüsierten Barkeeper mit einem entschuldigenden Lächeln.
»Moment mal, Prinzessin«, schaltete sich Connor ein. »Willst du allen Ernstes behaupten, mein jämmerlicher Bruder sei schärfer als ich? Kann gar nicht sein.«
»Es liegt an der Augenklappe«, erwiderte sie achselzuckend. »Ehrlich. Ihr beide seht ohnehin schon aus wie Filmstars, aber er bekommt dadurch noch etwas Verruchtes, wie ein Pirat. Und ihr beide müsst nicht so tun, als wüsstet ihr nicht, was ich meine. Ihr seid Womanizer, und das ist euch völlig bewusst. Aber Cayden ist ein Womanizer auf der Überholspur, weil er sofort die Fantasie von einem hart rangehenden Piraten weckt.«
Connor kniff leicht die Augen zusammen und starrte sie an. »Ist das dein Ernst?«
Sie neigte den Kopf zur Seite. »Klar, im echten Leben ist das harte Rangehen keineswegs immer die coolste Variante. Aber in der Fantasie? Ich meine, wenn ich an Piraten denke, fällt mir sofort Johnny Depp ein. Und den finde ich scharf. Caydens neuer Look hat ganz viel Fantasiepotenzial. Tut mir leid, Connor. Aber das musst du einfach schlucken. Diesmal gewinnt dein Bruder.«
Als Peterman meine Augenklappe erwähnte und fragte, ob ich mich wirklich der Aufgabe gewachsen fühlte, ein Mädchen zu verführen, versicherte ich ihm daher, ich sei der beste Mann dafür.
Ausgehend von der Tatsache, dass Gracie allein von meinem Blick rot geworden ist, lehne ich mich jetzt mal aus dem Fenster und behaupte, dass ich Eindruck hinterlassen habe. Und als sie wieder in meine Richtung blickt, hebe ich mein Glas, proste ihr schweigend zu und trinke einen Schluck. Sie lächelt kurz und wendet sofort wieder den Blick ab.
Das Pärchen zwischen uns leert seine Gläser. Der Mann, schon etwas älter, mit grauen Schläfen, unterschreibt die Quittung und hilft seiner Begleiterin vom Barhocker. Sie ist vermutlich etwas jünger als er, wenn auch nicht viel. Die Fältchen um ihre Augen und Mundwinkel zeugen von einem Leben voller Lachen. Und als er sanft ihren Arm fasst, ist sein Ausdruck so liebevoll, dass ich sie unwillkürlich anstarre.
Sie trägt einen Diamantring. Er einen schlichten Goldring. Ich frage mich, wie lange sie wohl schon verheiratet sind. Plötzlich habe ich ein Bild ihres gemeinsamen Lebens vor Augen. Mona und Ted. So nenne ich sie in meiner Fantasie, wo sie ein zufriedenes Leben mit zwei Kindern und einem Collie führen und Hand in Hand im Sonnenuntergang auf einer von Bäumen gesäumten Straße spazieren gehen.
Ich frage mich, ob Ted je befürchtet hat, Mona mit einem Kollegen, einem Freund oder dem Handwerker im Bett zu erwischen. Wahrscheinlich nicht - und dieser Gedanke erfüllt mich mit Wehmut, weil er sowohl schön als auch traurig ist. Schön, weil er mir Hoffnung schenkt. Traurig, weil die beiden eine seltene Spezies sind. Wie ein Ausstellungsstück im Museum. Etwas, das man in freier Wildbahn sehen könnte, aber wahrscheinlich nie sehen wird.
Vermutlich kann ich mich glücklich schätzen, Zeuge ihres Glücks geworden zu sein.
Ich sehe ihnen nach, wie sie durch die Bar zur Hotellobby gehen und er ihr dabei leicht die Hand auf den Rücken legt, um sie zu führen, aber auch, um die Verbindung mit ihr herzustellen.
Natürlich hatte ich das mit Vivien nie. Diese Verbindung.
Verbindungen sind auch etwas sehr Seltenes. Etwas, das es eigentlich nur in Kerries Liebesromanen gibt. Im echten Leben dagegen herrscht höllische Einsamkeit.
Ich hole tief Luft und wende mich wieder meinem Drink zu. Da er nur noch aus nach Whiskey schmeckenden Eiswürfeln besteht, leere ich ihn mit einem Schluck und bestelle einen neuen. Normalerweise halte ich mich bei einem Auftrag den ganzen Abend an einem einzigen Drink fest. Aber heute habe ich das Gefühl, ich müsste mir Mut antrinken. Warum, weiß ich nicht, und ich will auch nicht genauer darüber nachdenken. Normalerweise bin ich Frauen gegenüber nicht schüchtern, und es macht mich auch nicht nervös, jemanden unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht liegt es an diesem Pärchen. Diesem glücklich verliebten Pärchen mit dem Leben, das ich bereits erwartet hatte, aber nie bekommen werde.
Vielleicht habe ich es satt, ständig mit dem Gegenteil davon konfrontiert zu werden.
Verdammt, vielleicht bin ich sogar ein bisschen traurig, dass Gracie mit ihrer süßen Schüchternheit und dem strahlenden Lächeln eine Vivien ist und keine Mona.
Vielleicht bereue ich es, diesen Auftrag angenommen zu haben.
»Was war es also?«
Erst nach einer Sekunde wird mir bewusst, dass Gracie die Frage gestellt hat, und als ich aufblicke, bemerke ich nicht nur, dass der Barkeeper mir einen frischen Whiskey serviert hat, sondern dass Gracie mich mit leicht zur Seite geneigtem Kopf anlächelt. Flirtend.
Okay. Alles klar.
Zurück zum Geschäft.
»Was war was?«, frage ich.
»Als ich mit Jon gesprochen habe, tippten Sie mit dem Finger auf die Theke. Sie wirkten so entschlossen. Ich habe mich nur gefragt, woran Sie gedacht haben.«
Entschlossen. In Anbetracht der Tatsache, dass ich sie unverhohlen angestarrt habe, ist dieses kleine Wort mehr als zweideutig. Hätte ich tatsächlich vor, sie flachzulegen, wäre ich begeistert. Und da ich ihr Untreue nachweisen will, könnte ich zufrieden sein, dass die Sache läuft.
Stattdessen fühle ich mich dumpf und...