Kapitel 1
Der Morgen bricht an, als meine Träume mich aus dem Schlaf drängen, ehe ich bereit dafür bin. Gott sei Dank sind es keine Albträume. Die habe ich weitestgehend überwunden. Stattdessen ist es vielmehr eine vage Furcht, eine unbestimmte innere Unruhe, die jedoch so flüchtig ist, dass sie sich wie Nebelfetzen auflöst, als ich sie zu greifen suche.
Doch das macht nichts, denn ich bin mir sicher zu wissen, wovon der Traum handelte und was diese tief sitzende Furcht hervorrief.
Mein Vater.
Denn heute ist der Tag, an dem er frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen wird, nachdem er infolge seines Mordgeständnisses über zwei Jahre eingesessen hat. Einen Mord, den er angeblich begangen hat, um mich zu beschützen. Doch dieser Loyalitätsbeweis kam etwas zu spät, und ich weiß ganz genau, dass dahinter nicht sein Wunsch stand, mich zu beschützen, sondern das nagende Schuldgefühl wegen all dem, was er mir als Teenager angetan hat.
Ich erschaudere und ziehe mir die Decke bis zum Hals, als ob die dünne Baumwolle mich wie ein Panzer vor meinen Erinnerungen schützen könnte. In den letzten paar Jahren habe ich versucht, mein Herz zu öffnen, um ihm zu vergeben. Um in ihm einen reuigen Sünder zu sehen, der ein edles Opfer für den Preis meiner Vergebung bringen wollte. Doch nichts, das er tut, kann die Vergangenheit auslöschen. Nichts, das er sagt, kann etwas an der Realität ändern.
Er hat mir wehgetan, und ich werde für immer die Narben davon tragen.
Einige Mädchen wachsen auf wie Prinzessinnen, mit Vätern, die sie auf Händen tragen und ihnen versichern, dass ihr Daddy immer für sie da sein wird. Dass kein Mann je gut genug für Daddys kleines Mädchen sein wird. Dass sie das süßeste, klügste und schönste Mädchen der Welt sind und ihnen alle Türen offen stehen. Väter, aus deren Worten Zuneigung und Liebe sprechen.
Ich habe solche Mädchen kennengelernt, aber nie zu ihnen gehört. Mein Vater hat mich wissentlich durch die Hölle geschickt, mich wie ein Bauernopfer behandelt. Schlimmer noch, wie eine Tauschware. Für meine Eltern zählte immer nur mein Bruder Ethan, ihr kleiner zerbrechlicher Prinz. Und auch wenn ich meinen Bruder ebenfalls vergötterte, habe ich darunter gelitten, dass ich nie ihre Prinzessin war. Sondern lediglich das ungeliebte Aschenputtel. Die seelischen Wunden meiner Kindheit sind viel zu lange nicht verheilt, schlichen sich in meine Träume ein und raubten mir mein Selbstwertgefühl.
Aber das war damals.
Das war, bevor ich Jackson traf.
Jackson Steele ist der Mann, der meine Tage belebt und meine Nächte bereichert. Der Mann, der meine innere Stärke erkannte. Der meine Hand hielt, als ich gegen meine Ängste ankämpfte, und der nie den Glauben an mich verlor.
Der Mann, den ich liebe.
Der Mann, der inzwischen mein Ehemann und Vater meiner Kinder ist.
Automatisch drehe ich mich nach seiner Bettseite um, auch wenn ich weiß, dass er nicht da ist. Er musste gestern Morgen wegen eines Notfalls auf einer seiner Baustellen die Stadt verlassen und kommt nicht vor dem frühen Nachmittag zurück. Ich lege meine Hand auf sein Kissen und erlaube mir, einen Moment seine Abwesenheit zu bedauern, auch wenn ich es war, die ihn buchstäblich zur Tür hinausgeschoben und ihm versichert hat, dass es mir gut ginge und ich auch allein klarkäme. Dass ich den heutigen Tag durchstehen würde.
Aber es geht mir ganz und gar nicht gut, und ich hasse es, dass mich die Schrecken meiner Vergangenheit zur Lügnerin machen.
Ich will ihn bei mir. Nein, mehr noch. Ich brauche ihn. Verzehre mich nach ihm. Nach seiner Berührung. Seiner Stärke. Seiner Leidenschaft.
Lange Zeit war ich tapfer gewesen, hatte meine schlimmsten Dämonen zurückgedrängt. Doch nun wurde mein Verlangen geweckt wie ein Tier, das nach einem tiefen Winterschlaf gierig vor Hunger erwacht.
Ich hatte Jackson weggeschickt in dem Glauben, das auch ohne ihn hinzubekommen, und nun, da ich feststelle, dass ich mich gründlich getäuscht habe, fühle ich mich töricht und klein.
Hör auf damit, verdammt noch mal.
Fest entschlossen, die Geister abzuschütteln, die mich heute Morgen so vehement im Griff haben, stehe ich auf und lege die paar Schritte vom Bett zu der Glasfront zurück, die die westliche Seite unseres Hauses in Pacific Palisades bildet. Ein strahlender Freitagmorgen bricht gerade an, und ich stehe da in meinem kurzen Seidennachthemd und blicke hinaus auf die ausgedehnte gepflegte Rasenfläche und das dahinterliegende Meer. Das war immer mein Traum gewesen. Ich wollte ein Haus in den Bergen mit einem großen Garten und einer Dachterrasse, von der man das Meer sehen konnte. Am Tag wollte ich die Boote beobachten, wie sie am Horizont verschwinden, und bei Nacht wollte ich auf dieser Terrasse unter dem unendlichen Sternenhimmel sitzen und dabei zusehen, wie das silberne Mondlicht auf dem Wellenkamm tanzt.
So hatte ich Jackson meinen Traum geschildert, und er hatte mir ganz genau zugehört, mich geküsst und mir versprochen, mir ein Traumschloss unter den Sternen zu bauen.
Und er hat Wort gehalten. Er hat es wirklich gebaut.
Natürlich war dabei von Vorteil, dass er zu den berühmtesten und erfolgreichsten Architekten unserer Zeit zählt, und ich hatte fasziniert dabei zugesehen, wie er aus meinen abstrakten Ideen eine Unendlichkeit an Möglichkeiten kreierte. Wie aus ein paar groben Strichen auf Papier konkrete Balken und Pfeiler wurden. Wie aus einem Traum Wirklichkeit wurde.
Ich glaube, das ist eine der Eigenschaften, die ich am meisten an ihm liebe - diese Fähigkeit, die Unendlichkeit an Möglichkeiten einzufangen. Die Vorstellungskraft niederzuzwingen und aus nichts mehr als dem Aufblitzen einer Idee etwas Atemberaubendes zu erschaffen.
Aber auch wenn es Jackson war, der das Haus gebaut hat, haben wir es gemeinsam zu unserem Zuhause gemacht.
Und genau genommen, bin ich immer noch nicht die Prinzessin dieses Schlosses, aber damit kann ich leben.
Ich drehe mich zurück zum Raum und lächle, als mein Blick auf das kleine Mädchen fällt, das mit verwuscheltem Haar in dem riesigen Sessel zusammengerollt liegt. Sie ist die wahre Prinzessin unseres Traumschlosses, und momentan schläft sie tief und fest unter ihrer Lieblingsdecke, den Daumen im Mund, während ihr Hund Fred zusammengerollt vor dem Sessel auf dem Teppich liegt. Veronica Amelia Steele, die wie ihr Vater mein Herz im Sturm erobert hat.
Es überrascht mich nicht, dass sie noch schläft. Da sie heute nicht in den Kindergarten muss, durfte sie gestern länger aufbleiben als sonst. Es überrascht mich auch nicht, dass sie in diesem Sessel liegt. Obwohl sie neben ihrem Vater im Bett eingeschlafen war, nachdem sie ihn dreimal angebettelt hatte, »nur noch eine Geschichte« aus Das magische Baumhaus, ihrem Lieblingsbuch, vorzulesen, war sie nicht im Bett liegen geblieben. Sondern war wie so oft mitten in der Nacht auf diesen gemütlichen Sessel gewechselt, den sie zu ihrem persönlichen Schlafplatz erklärt hat.
Während ich sie beim Schlafen beobachte, hebt Fred seinen Kopf. Er ist ein Mischling aus einem Corgi und einem Beagle und besitzt Ohren, die für seinen Körper ein wenig zu groß geraten wirken, und einen Schwanz, der unablässig zu wedeln scheint. Mit einem breiten Gähnen dreht er sich zu Ronnie, ehe er seinen Kopf zu mir zurückdreht und schräg legt, als wollte er fragen: Was gibt's?
»Schon gut«, flüstere ich. »Lass sie schlafen. Ich gehe mal nach dem Baby sehen.«
Als würde er mich verstehen, lässt er den Kopf auf seine Pfoten sinken und bleibt zurück, um auf meine Tochter aufzupassen. Ich schnappe mir den tragbaren Babymonitor von der Kommode und tappe barfuß den Gang hinunter. Unser Schlafzimmer ist das einzige auf dieser Etage, aber es gibt einen kleinen Hobbyraum, den wir vorübergehend zum Kinderzimmer umfunktioniert haben und in dem Jeffery schläft, der andere Mann in meinem Leben. Er ist inzwischen bereits ein Jahr alt, und es erstaunt mich immer wieder, wie schnell die Zeit verfliegt. Noch vor gar nicht langer Zeit plagte mich die Angst, als Mutter zu versagen. Und jetzt kann ich mir ein Leben ohne meine Kinder nicht mehr vorstellen.
Vor seinem Kinderzimmer stehend, zögere ich einen Moment, den Knauf zu drehen. Denn so sehr ich mich darauf freue, sein süßes Gesichtchen zu sehen, kann ich nicht abstreiten, dass ich gerne noch ein paar Minuten der Stille genießen würde - inzwischen eine Seltenheit in unserem Haus. Jeffery schläft selten länger als sechs Uhr, doch obwohl es bereits halb sieben ist, verrät mir der Babymonitor, dass
er sich noch nicht gerührt hat. Wenn ich jetzt diese Tür öffne, ist es mit der himmlischen Ruhe vorbei. Aber wenn
ich hinunter in die Küche gehe, könnte ich noch ein paar selige Minuten lang mit meinem Kaffee in der Hand auf der Terrasse die Ruhe vor dem Sturm genießen.
»Gleich, kleiner Mann«, flüstere ich, schleiche mich langsam zurück und steige freudig die Treppen hinab.
Das Haus hat einen H-förmigen Grundriss, wobei der einstöckige Flachbau den Querbalken des H bildet. Hier befinden sich unsere Küche, zwei Wohnzimmer, die Bibliothek und ein kleiner Fitnessraum. Die gesamte Westfassade besteht aus bewegbaren Glasscheiben, die beiseitegeschoben werden können, sodass diese Seite nahtlos vom Innen- zum Außenbereich übergeht. Das Beste an der Querverbindung ist jedoch, dass sie das Fundament für meine Dachterrasse bildet: eine luxuriöse Außenfläche mit gemütlichen Gartenmöbeln, einer Außenküche, einer Feuerstelle und einem...