2. Kapitel
Ich lernte Alex Leto an meinem sechzehnten Geburtstag kennen, und als ich ihn das erste Mal sah, war es, als habe man etwas in mir angeknipst. So etwas wie ein Glücksgefühl, nur viel, viel komplizierter. Vielleicht Optimismus mit Regenbögen und Einhörnern gemischt.
Der Tag begann grau und düster. Noch vor der Dämmerung zog ein Sturm auf, blieb über unserem Haus hängen, breitete seine finsteren Arme aus und brachte von Tagesanbruch an bis weit in den Abend hinein Wind und Regen über uns. Sechs von meinen zehn geladenen Gästen riefen an, um abzusagen, doch die geplante Party hätte ohnehin nicht stattfinden können.
Dass irgendetwas passieren würde, hätte ich eigentlich voraussehen müssen. Vielleicht nicht gerade das Unwetter, aber irgendetwas schon. Schließlich konnte ich mich nicht gerade als Glückskind bezeichnen. Das fing bereits damit an, dass ich Waise war.
Ich wurde einen Tag, nachdem meine Mutter gestorben war, vier, und obwohl ich meinem Vater stets versicherte, dass ich mich an sie erinnern konnte, stimmte das schon nicht mehr, als ich zehn war.
Ihr Bruder, Onkel Peter, zog nach ihrem Tod mit seinem Immobilienunternehmen nach Laguna Cortez. Mein Vater konnte sich nicht leisten, eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung einzustellen, hatte aber als Polizeichef sehr unregelmäßige Arbeitszeiten. Daddy und ich wohnten in den Hügeln, meistens ging ich allerdings nach der Schule zu Onkel Peter, der ein riesiges, lichtdurchflutetes Haus am Strand besaß.
Es war wunderschön dort, doch ich wäre viel lieber bei meinem Vater gewesen. Vielleicht ahnte ich bereits, was geschehen würde, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich meinem Vater am liebsten nicht mehr von der Seite gewichen wäre.
Aber was man will oder nicht will, hat keine Bedeutung, so innig der Wunsch auch sein mag. Wünsche sind beliebig, und das Schicksal ist ein hinterhältiges Biest. Im Sommer, als ich dreizehn wurde, lernte ich diese Lektion auf die harte Tour.
In jenem Sommer wurde mein Vater erschossen; der Täter brachte sich anschließend selbst um. Manch einer versuchte mich damals zu trösten, mein Vater sei in Erfüllung seiner Pflicht gestorben und habe diese Arbeit geliebt, doch das half mir ganz und gar nicht. Sein Tod wurde dadurch nicht minder schrecklich.
Zum Glück gab es noch Onkel Peter, und ich zog bei ihm ein. Meine Freunde beneideten mich glühend, da es nicht viele Strandhäuser in Laguna Cortez gab. Aber ich hatte vor allem mit meiner Trauer zu kämpfen.
Natürlich gewöhnte ich mich irgendwann an die Situation. Manchmal war ich den ganzen Tag gut gelaunt, vor dem Einschlafen konnte mich dann aber selbst nicht leiden: Man durfte doch nicht fröhlich sein, wenn die eigenen Eltern schon so früh gestorben waren.
Was letztendlich der Grund dafür war, dass es mich nicht wunderte, als das Unwetter ausgerechnet an meinem sechzehnten Geburtstag aufzog. Das Schicksal hat nun einmal die Angewohnheit, sich hinterrücks anzuschleichen und zuzuschnappen.
Dennoch war es auch mit wenigen Gästen lustig. Statt am Strand Spaß zu haben, setzten wir uns ins Fernsehzimmer und sahen Filme. Und als Brandy und ich hinuntergingen, um meinen Onkel zu fragen, ob meine Lieblingspizzeria auch bei diesem Sturm auslieferte, begegnete ich ihm.
Alex.
Er war ein paar Jahre älter als ich, groß und schlank. Sein blondes Haar war sehr kurz geschnitten, und obwohl seinem Gesicht noch eine gewisse Jungenhaftigkeit anhaftete, hatte sein Ausdruck nichts Kindliches mehr. Als er sich umwandte, um mich anzusehen, war ich wie hypnotisiert von seinen hellbraunen Augen, und als er mir freundlich zulächelte, begann es zwischen meinen Schenkeln zu pulsieren.
Ich war schon ein, zwei Male verliebt gewesen, hatte aber noch nie körperlich auf einen Jungen reagiert. Alex jedoch . Nun, nach dieser kurzen Begegnung begriff ich jedenfalls eher, worum immer so ein Gewese gemacht wurde, als durch die Klatschgeschichten, die meine Freundinnen und ich uns bei Brandys Pyjamapartys unter viel Gekicher zuflüsterten.
Als er zu mir kam, mir die Hand gab und mir zum Geburtstag gratulierte, schwanden mir beinahe die Sinne. Ich konnte bloß dastehen, ihn anstarren und zu erfassen versuchen, was er gerade gesagt hatte.
Alex Leto. So hatte er sich vorgestellt. Er arbeitete in diesem Jahr für Onkel Peter, ehe er sich für ein College entscheiden würde.
»Hi«, brachte ich krächzend hervor und hätte mich am liebsten selbst getreten, dass mir nichts Besseres eingefallen war.
»Gibt es Probleme mit dem Film?«, fragte Onkel Peter. Ich blinzelte ihn nur verständnislos an. »Mit der Wiedergabe?«, fügte er erklärend hinzu. »Bist du runtergekommen, weil du bei etwas Hilfe brauchst?«
»Oh. Genau. Pizza. Wir wollten Pizza bestellen. Glaubst du, dass bei dem Wetter geliefert wird?«
»Falls nicht, kann ich sie euch holen«, erbot sich Alex, und wäre ich nicht bereits bis über beide Ohren verknallt gewesen, hätte das mein Schicksal besiegelt. Ein echter Traumprinz, und das in unserer Küche.
Onkel Peter willigte ein, und es gab keinen Grund mehr, hier unten herumzulungern, also begaben Brandy und ich uns widerwillig zurück ins Fernsehzimmer. »Oh. Mein. Gott«, flüsterte sie viel zu laut, als wir die Treppe hinaufstiegen. »Hast du bemerkt, wie er dich angesehen hat?«
»Quatsch, der war nur höflich«, entgegnete ich, obwohl ihre Bemerkung das Kribbeln da unten prompt wiederbelebte und ihm noch ein aufgeregtes Flattern in der Magengrube hinzufügte.
»Meinst du?« Sie zwinkerte mir zu, und ich packte ihr Handgelenk, ehe wir den Raum betraten.
»Sag den anderen nichts.«
»Was? Wieso denn nicht?«
»Ich will bloß nicht . ich . Bitte nicht, okay? Wir sagen einfach wegen der Pizza Bescheid, und das war's, ja?«
»Okay.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wie du willst.«
»Danke.«
Sie schenkte mir ein verschwörerisches Grinsen. »Aber er ist echt total niedlich.«
»Weiß ich.« Und schon brachen wir beide in wildes Gekicher aus, das sich in hysterischem Lachen entlud, als unsere Freundin Carrie finster blickend die Tür von innen aufdrückte.
»Hallo? Wir warten nur auf euch mit dem Film. Ganz schön unhöflich.«
Wir schlugen uns die Hände vor den Mund, um den nächsten Lachanfall zu unterdrücken, traten ein, setzten uns und warteten auf die Pizza. Obwohl Alex derjenige war, der sie uns hinaufbrachte - und obwohl er blieb, um die zweite Hälfte von Alien mit uns zu sehen, und sich direkt neben mich setzte! -, sagte Brandy kein einziges Wort. Damals nicht und später auch nicht.
Was einer der Gründe ist, warum ich sie bis heute meine beste Freundin nenne.
Danach tauchte Alex ziemlich oft auf. Peter hatte zu Hause ein Arbeitszimmer, aber er war häufig auf Baustellen oder in den Büros der Wohnhäuser oder Hotels, die ihm gehörten. Er hatte Alex für administrative Arbeiten eingestellt, was bedeutete, dass er praktisch jeden Tag bei uns zu Hause war.
Statt mich wie sonst am Strand oder zum Kino zu verabreden, blieb ich zu Hause und servierte Alex Wasser, Snacks und Kaffee. Jedes Mal blieb ich ein bisschen und fragte ihn, was er gerade mache, und niemals schickte er mich weg. Im Gegenteil: Er hatte nichts dagegen. Und eines Tages fragte er mich sogar, ob ich ihm helfen würde.
»Bestimmt nicht so spannend wie mit deinen Freunden am Strand zu sein, aber ich würde mich echt freuen, wenn du mir Gesellschaft leistest.« Das leise Lächeln, das um seine Lippen spielte - kaum mehr als ein Zucken der Mundwinkel -, gab mir schließlich den Rest.
»Kein Problem, ich bin sowieso lieber hier.«
»Ernsthaft?«
Ich nickte. Mein Herz pochte so heftig, dass er es sicher hören konnte.
»Dann passt das ja prima, denn ich habe dich gern hier.«
Unsere Blicke begegneten sich, und tief in meinem Inneren schien etwas aufzubrüllen. Zum ersten Mal erlebte ich reines sexuelles Verlangen.
»Okay. Gut.« Ich schluckte. Mein Mund war staubtrocken.
Also blieb ich zu Hause und tat genau das: Ich half ihm, wo ich konnte, und stand ansonsten herum. Aber wir unterhielten uns. Ständig und über alles Mögliche. Noch nie hatte ich mich in der Gegenwart eines Menschen so wohlgefühlt, und das trotz Knistern und Funkenflug, wann immer wir uns einander näherten.
»Habt ihr was gemacht?«, fragte Brandy, als wir uns ein paar Monate später wieder in der Schule trafen.
»Nein! Er arbeitet für meinen Onkel, das weißt du doch. Außerdem ist er achtzehn, ich bin erst sechzehn. Und das ist ihm klar.«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Na und? Du benimmst dich, als seist du älter. Seit du . na ja. Meine Mom sagt, du hast dich selbst großgezogen.«
So unrecht hatte Mrs. Bradshaw damit nicht. Natürlich hatte mein Onkel in den vergangenen Jahren für meinen Unterhalt gesorgt, aber mehr auch nicht. Geborgenheit und Ansprache hatte ich eher bei Brandy als zu Hause gefunden. Und den Rest? Tja, für den hatte ich wahrscheinlich wirklich selbst gesorgt.
»Er ist achtzehn«, wiederholte ich bestimmt. »Nächste Woche wird er neunzehn.«
»Ist doch wunderbar.« Ihre blauen Augen funkelten. »Binde dir eine Schleife um und mach dich zum Geschenk.«
Ich machte mich natürlich nicht zum Geschenk, aber an seinem Geburtstag gab ich ihm ein ledernes Freundschaftsarmband mit einem keltischen Knoten. »Den nennt man...