1. Kapitel
Viele Jahre zuvor .
Alejandro Lopez stand mit der mattschwarzen Glock in der Hand neben seinem Vater auf dem Schießstand. Heiß brannte die Wüstensonne auf sie herab. Er war zehn Jahre alt, schlaksig und groß für sein Alter; er reichte seinem Vater beinahe bis an die Schulter. Schon bald würde er vermutlich größer als er sein. Und auch stärker.
Was gut war. Denn dann musste er vielleicht keine Angst mehr haben. Und konnte seinem Vater sagen, dass er ihn Alex nennen sollte, wie seine Mutter es getan hatte, als sie noch am Leben gewesen war. Als er noch bei ihr hatte sein dürfen.
Er konnte sich kaum noch an sie erinnern, aber jeden Abend bemühte er sich, bewusst daran zu denken, wie sie ihn im Arm gehalten und Gute-Nacht-Geschichten erzählt hatte. Von ihm, Alex, der mutig und stark war und die Bösen besiegt hatte.
Sie hatte nie gesagt, wer die Bösen waren, aber inzwischen kannte er die Antwort. Es waren die Männer, bei denen er lebte. Alle um ihn herum, und an der Spitze sein Vater. Der Wolf.
Er schluckte den Kloß in seiner Kehle, befahl seinen Schultern, nicht zu zittern, und setzte eine ausdruckslose Miene auf. Der Wolf duldete keine Gefühlsregung, unter keinen Umständen. Ausnahmen wurden nicht gemacht.
Die Prellungen und blauen Flecken an Alex' Körper zeugten davon.
Er musste hart an sich arbeiten. Besser werden. Musste alles, was er fühlte, tief in sich vergraben, damit sein Vater niemals erkannte, wie groß sein Hass war. Oder - schlimmer noch - seine Angst.
Er musste sich anpassen. Er musste einen Weg finden, sich einzufügen, während er insgeheim seinen brennenden Hass schürte und seine Rache plante.
Wenn er überleben wollte, blieb ihm keine andere Wahl, das wusste er. Nur dadurch konnte er verhindern, dass sein Vater beschloss, ihn zu beseitigen, so wie er seine Mutter beseitigt hatte.
Nicht, dass der Wolf es ihm gegenüber jemals eingestanden hätte. Aber Alex hatte schon vor langer Zeit begriffen, dass Zuhören schlauer war als Reden. Und obwohl er noch ein Kleinkind gewesen war, als sein Vater ihn in die Wüste verschleppt hatte, konnte er sich an bestimmte Dinge erinnern. An was genau, würde er sich dem Wolf gegenüber natürlich niemals anmerken lassen.
Der Wolf.
So nannte sein Vater sich selbst. So musste jeder, der mit und für ihn arbeitete, ihn nennen.
Der Wolf hat ein Meeting einberufen; du musst dich im Büro melden.
Der Wolf ist heute mies drauf. Die Phoenix-Operation ist total in die Hose gegangen. Geh ihm lieber aus dem Weg.
Der Wolf hat Frank im Auge. Armer Bursche.
Und dann wurde Frank nie wieder gesehen. Was umso schlimmer war, da Alex Frank gemocht hatte. Der grauhaarige Mann hatte ihm immer in gelbes Zellophan verpackte Sahnekaramellbonbons zugesteckt. Doch Frank hatte mit jemandem gesprochen, mit dem er nicht hätte sprechen sollen, und der Wolf hatte es erfahren. Was Franks Ende bedeutete.
Neben ihm regte sich sein Vater, der seine eigene Waffe locker an der Seite hielt. »Hast du geübt, Alejandro?«
Alex nickte.
»Ja, Vater.« Sein Vater verlangte von jedem, ihn als Wolf zu bezeichnen, nicht jedoch von Alex. Er wollte, dass Alex wusste, zu wem er gehörte, und so sprach Alex den Mann auch als Vater an. Doch wenn er an ihn dachte, dann hauptsächlich als den Wolf. Denn dieser Mann war nicht sein Vater. Nicht wirklich jedenfalls. Nicht wie die Männer, an die er sich aus Los Angeles erinnerte. An die freundlichen, liebenden Väter, die seine Freunde Pop oder Daddy nannten und auf die sie mit ausgestreckten Armen zurannten, um hochgehoben und herumgewirbelt zu werden.
Das hätte Alex sich so sehr gewünscht. Aber als er nun das Gewicht der Pistole in seiner Hand spürte, wusste er nur allzu gut, dass er das niemals bekommen würde.
»Dann zeig es mir.« Der Wolf deutete mit dem Kopf auf das Stück ausgedörrter Wüstenfläche vor ihnen. In einiger Entfernung standen Strohgarben, an die Papierziele mit menschlichen Umrissen in tiefem Schwarz befestigt waren. In jedes Gesicht hatte jemand rote Augen gemalt.
»Der Mann ist dein Feind. Er hat dich verraten. In seinen Augen bist du nichts wert. Hat der Mann recht?«
»Nein, Vater.« Es kostete ihn viel Kraft, das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken. Sein Vater machte ihm Angst, wenn er in dieser Stimmung war. Alex hatte einmal miterlebt, wie er einem Mann den Schädel eingeschlagen hatte, nur weil er nicht so wie gewünscht geantwortet hatte. Der Mann hieß Michael, und er hatte Alex immer lustige Geschichten aus seiner Zeit in Paris erzählt. Nun konnte Michael sich nicht mehr an diese Zeit erinnern.
Meistens konnte er sich nicht einmal mehr an seinen eigenen Namen erinnern.
»Was machen wir mit Männern, die uns verraten haben?«, fragte der Wolf.
»Wir erteilen ihnen eine Lektion, Vater.« Selbst in seinen Ohren klang seine Stimme flach. Er konnte nur hoffen, dass sein Vater die Furcht nicht heraushörte, die Alex so verzweifelt zu verbergen suchte. Furcht und Abscheu. Er hasste diesen Mann. Aber er wusste, dass er es ihn nicht spüren lassen durfte.
»Ja. Ja.« Alex konnte hören, dass sein Vater stolz auf ihn war. Am liebsten hätte er sich übergeben. »Das ist mein Sohn. Und jetzt zeig mir, wie du ihm diese Lektion erteilst. Der Mann, der dich verraten hat, steht dort drüben und starrt dich an. Erlaubst du ihm, dich herabzuwürdigen?«
»Nein, Sir.«
»Dann ziel und zeig mir, was du kannst.«
Alex gehorchte. Er hob seine Waffenhand und spannte den Arm an, damit er nicht zitterte. Er zielte, wie es ihm beigebracht worden war. Sein Vater wollte, dass er das rote Auge traf.
Präzision und Treffsicherheit, Alejandro. Das erwarte ich von Männern, die an meiner Seite stehen. Du bist mein Sohn, aber du musst dir den Platz verdienen. Präzision, Treffsicherheit und unbedingte Loyalität.
Alex hatte wochenlang geübt, um ein Ziel von solch geringer Größe aus dieser Distanz - fast zwanzig Meter - zu treffen, aber sein Vater erwartete, dass er sich auf vierzig Meter steigerte und dann mit einem Gewehr zu üben begann. Er holte tief Luft und ließ sich einen Moment Zeit, dem Wind nachzuspüren, dann zog er behutsam den Hahn durch.
Er spürte den Rückstoß in seinem Arm, und seine Ohren klingelten trotz der Ohrstopfen, die er zum Training tragen durfte.
Und dann gefror sein Blut zu Eis.
Er hatte das Ziel verfehlt.
Beide roten Augen waren intakt. Dazwischen hatte seine Kugel ein schwarzes Loch gerissen.
Das Zielobjekt wäre definitiv tot. Aber er wusste, dass das seinem Vater nicht reichte.
»Ich dachte, du hast geübt.« Enttäuschung durchzog die Stimme des Wolfs. Enttäuschung und Wut.
»Das habe ich, Vater.« Er hörte das Beben seiner Stimme und hätte am liebsten geweint. Tränen brannten in seinen Augen, und er hasste sich dafür, dass er ein so jämmerlicher Feigling war.
»Dann hast du nicht genug geübt. Sieh mich an, Junge.«
Alex wandte sich ihm langsam zu und hob den Blick. Die Miene seines Vaters war hart und verächtlich, als er seinen Sohn von Kopf bis Fuß musterte.
»Du musst besser werden«, sagte der Wolf. »Sag mir, Junge. Wer ist dein Vater?«
Alex schluckte. »Du bist es.«
»Und hast du mich stolz gemacht?«
Er zwang sich, sich keinerlei Regung anmerken zu lassen. Er wusste, was nun kam. »Nein, Vater.«
Langsam nickte der Wolf. »Gut, dass du das weißt. Und nun .« Er holte aus und schlug Alex seine Waffe mit solcher Wucht gegen das Kinn, dass sein Kopf zurückflog. ». nun wirst du das auch nicht mehr vergessen.«
Alex taumelte, und seine Knie drohten nachzugeben, doch er ging nicht zu Boden. Hätte er das getan, würde alles nur noch schlimmer werden. »Nein, Vater.«
»Gut.«
Die Augen geweitet, das Kinn stolz erhoben, begann er im Kopf Sätze abzuspulen. Es tut nicht weh. Es tut gar nicht weh. Es ist nicht dein Gesicht, das sich zerschmettert anfühlt. Es gehört einem anderen. Du selbst bist okay. Dir ist nichts geschehen. Alles ist okay.
Doch er musste ein Wimmern unterdrücken. Das Mantra, das seine Stiefmutter Aurelia ihm beigebracht hatte, half nicht. Überhaupt nicht. Am liebsten hätte er seine Hand an seinen Kiefer gepresst.
Am liebsten hätte er geweint.
Stattdessen stand er steif wie eine Statue da. Ihm blieb nichts anderes übrig, denn andernfalls würde Schlimmeres passieren. Sehr viel Schlimmeres.
Jahre verstrichen in den nächsten Sekunden, doch er stand stocksteif da.
Bis sein Vater ihm endlich - endlich! - beide Hände auf die Schultern legte. »Sieh mich an, Junge.«
Wieder blickte Alex auf in die grausamen Augen seines Vaters, die nun tatsächlich ein wenig sanfter blickten; eine Milde, die sein Vater vermutlich für Liebe hielt. »Ich tue das, um einen Mann aus dir zu machen«, sagte er. »Ich tue das, damit man dich respektiert, wenn du eines Tages dein Erbe übernimmst. Respektiert und fürchtet. Deine Lieutenants werden für dich kämpfen, weil sie wissen, dass du stark bist und das Zeug dazu hast, sie anzuführen. Und dass du sie jagen und zur Strecke bringen wirst, wenn sie dich verraten. Verstehst du das, Junge? Begreifst du, dass alles, was mir gehört, eines Tages dein sein wird?«
»Ja, Vater.«
»Und...