Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Wenn ich im Zug sitze, das Gesicht dem Fenster zugewandt, Kopfhörer im Ohr, das Smartphone in der Hand, sehe ich vermutlich aus wie eine beliebige Frau auf Reisen.
Aber ich bin keine beliebige Frau.
Denn sosehr ich auch den Blick auf die Landschaft vor dem Zugfenster hefte, ich kann sie mir höchstens vorstellen, kann Erinnerungen wachrufen an den Anblick von vorbeifliegenden Häusern mit kleinen Vorgärten und von goldenen Weizenfeldern, die sich sacht im Wind wiegen.
Sehen kann ich sie nicht.
Meine Erblindung war die zweite große Katastrophe meines Lebens. Die erste war der Tod meiner Familie. Meine Mutter, mein Vater und mein kleiner Bruder starben bei einem Unfall, als ich sieben Jahre alt war, aber daran denke ich selten zurück. Es ist so lange her, dass ich mich kaum an mein Leben davor erinnere. Ich habe mich mit meinem Schicksal arrangiert, oder, besser gesagt, ich hatte mich arrangiert, bis ich vor einem Jahr beim Joggen im Park von einem maskierten Mann überfallen wurde, der vorher schon einige andere Frauen vergewaltigt hatte. Ich konnte den Angreifer abwehren, schaffte es, ihm zu entwischen, bevor er mir Schlimmeres antun konnte.
Ich dachte, ich wäre davongekommen.
Falsch gedacht.
Wenige Wochen nach dem Überfall merkte ich zum ersten Mal, dass ich auf einem Auge nur noch verschwommen sehen konnte. Kurz darauf folgte das zweite. Von da an ging es rapide bergab mit meiner Sehkraft. Innerhalb von einem Monat erkannte ich nur noch Schatten, konnte mit Mühe Tag und Nacht auseinanderhalten. Zwei Monate nach dem Überfall sah ich gar nichts mehr. Nicht schwarz, nicht weiß, nur ein großes farbloses Nichts. Und dabei ist es geblieben.
Manchmal glaube ich, das Aufleuchten eines Lichtes wahrzunehmen oder eine Bewegung neben mir, und die Hoffnung jagt mir einen Adrenalinstoß durch die Adern. Doch ich weiß, dass es lediglich meine Einbildung ist, die mir einen grausamen Streich spielt. Es ist das Aufblitzen der Erinnerung daran, wie es sich anfühlt, etwas zu sehen, nicht der Anblick selbst.
Die Ärzte haben mich auf den Kopf gestellt, Dutzende Male meine Augen untersucht. Es gibt keine körperliche Ursache für mein Erblinden. Ich leide unter dissoziativer Blindheit infolge eines schweren Traumas. Mit anderen Worten: Der Schock hat mir das Augenlicht geraubt.
Anfangs war ich völlig am Boden zerstört, so sehr, dass ich in einer einsamen Winternacht sogar versuchte, mir das Leben zu nehmen. Diese düstere Phase ist vorüber. Aber wütend und frustriert bin ich noch immer.
Warum musste ausgerechnet mir so etwas passieren? Warum habe ich nach dem Überfall nicht einfach Albträume bekommen, oder Panikattacken wie andere Opfer von Gewalt? Es wäre mir sogar lieber gewesen, der Mistkerl hätte mir die Augen ausgestochen, dann hätte ich wenigstens einen guten Grund, nichts zu sehen. So kommt es mir vor, als wäre ich selbst schuld. Nicht umsonst nennt man meine Erkrankung auch hysterische Blindheit.
Um nicht weiter zu grübeln, schalte ich noch einmal die Aufzeichnung an. Bis Stralsund sind es noch drei Stunden, in denen ich genauso gut etwas Nützliches tun kann. Meine Finger gleiten über das Display des Smartphones, ich lausche den Anweisungen der Stimme in meinem Ohr, bis ich an der richtigen Stelle bin, und konzentriere mich.
«Auf dem Bild dominieren die Farben Schwarz und Rot.»
Es ist merkwürdig, meine eigene Stimme aus einer Zeit zu hören, als ich noch sehen konnte, als ich dachte, das Schlimmste, was mir je im Leben passieren könnte, läge längst hinter mir.
«Es zeigt vier menschliche Gestalten, eine im Zentrum, zwei auf der linken Seite, und eine kleine am rechten unteren Bildrand. Die Darstellungsweise lässt auf ein Kind als Urheber des Bildes schließen, das nicht älter als fünf oder sechs ist. Allerdings ist dieses Kind offenbar schwer traumatisiert, weshalb ein Entwicklungsrückstand vorliegen könnte. Das tatsächliche Alter könnte also auch bei sieben oder acht Jahren liegen.»
Seufzend unterbreche ich die Aufnahme. Wenn ich mich anstrenge, kann ich mir das Bild ins Gedächtnis rufen. Nicht in allen Details, aber doch in seiner Wirkung, die mir sofort wieder einen Schauder über den Rücken jagt, wie im Sommer vor etwas mehr als einem Jahr, als ich es zum ersten Mal sah. Gideon Mahler, ein Kindertherapeut aus einem kleinen Dorf auf Rügen, hatte es mir damals geschickt mit der Bitte um eine Einschätzung.
Ich bin eine renommierte Expertin für Kinderzeichnungen, werde oft als Gutachterin vor Gericht engagiert. Zumindest war das bis vor einem Jahr so. Seit meiner Erblindung hat mich niemand mehr um meine Einschätzung gebeten. Eine blinde Gutachterin würde von der Gegenseite im Handumdrehen demontiert werden. Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten für mich, die Bilder zu «sehen».
Ich hatte damals gerade mit meiner Analyse der Zeichnung begonnen und mit Gideon mehrmals E-Mails geschrieben, um Näheres über den Fall zu erfahren, als der Angriff im Park mich aus der Bahn warf. Nachdem ich bemerkt hatte, dass meine Sehkraft nachließ, teilte ich ihm mit, dass er sich eine andere Expertin suchen müsse, ebenso wie einem halben Dutzend anderer Auftraggeber, deren Anliegen ich nicht mehr bearbeiten konnte. Seither hatte ich nichts von ihm gehört.
Ich hatte nicht ernsthaft erwartet, je wieder in meinem Beruf zu arbeiten, bis Gideon vergangene Woche anrief. Er hätte noch mehr Zeichnungen von dem mysteriösen Jungen gefunden, der offenbar ein Patient seines Vorgängers war, und er mache sich ernsthafte Sorgen. Ich erklärte ihm meine Situation, doch er schien sich nicht daran zu stören, jedenfalls bestand er darauf, dass ich zu ihm komme. Wir würden schon einen Weg finden, die Bilder gemeinsam zu interpretieren.
Erst sagte ich ab. Nicht, weil ich Angst hatte, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Auch wenn das durchaus eine Rolle spielte. Aber es ist vor allem der Ort, der mir Furcht einflößt. Seit meiner Kindheit war ich nicht mehr auf Rügen, genauer gesagt, seit ich sieben Jahre alt war. Denn genau dort, auf dieser Insel, in dem Dorf, wo Gideon lebt, verlor ich vor über dreißig Jahren meine Familie.
Ein Geräusch neben mir reißt mich aus meinen Gedanken. Ich fahre zusammen, mache eine abrupte Bewegung mit der Hand, stoße an etwas Hartes, zucke erschrocken zurück.
«Mensch, können Sie nicht aufpassen?», fährt mich eine Frauenstimme wütend an. «Sehen Sie nicht, dass ich einen Kaffeebecher in der Hand halte? Wie soll ich die Flecken denn wieder rauskriegen?»
Unwillkürlich versteife ich mich.
Ein Mann tuschelt, ich verstehe nur einzelne Worte. Blind. Peinlich.
Ich spüre, wie alle mich anstarren. Unsichtbare Blicke brennen auf meiner Haut wie Feuer. Mir bricht der Schweiß aus, mein Atem wird flach.
Kaum nehme ich wahr, wie die Frau und der Mann weitergehen, wie ein schriller Pfiff ertönt und der Zug sich in Bewegung setzt. Erst jetzt wird mir klar, dass wir an einem Bahnhof gehalten haben und dass neue Fahrgäste zugestiegen sein müssen.
Es dauert ein paar Minuten, bis die Starre sich löst und ich imstande bin, mich zu rühren. Vorsichtig fahre ich mit den Fingern über meinen linken Ärmel. Vielleicht habe ich auch Kaffee abgekriegt. Nichts wäre mir unangenehmer, als die ganze Zeit mit Flecken auf der Bluse herumzulaufen, ohne es zu ahnen.
«Alles sauber», kommt eine Stimme vom Sitz gegenüber. Freundlich, warm und mit einem heraushörbaren Lächeln darin. «Die dumme Pute hat sich nur selbst bekleckert.»
«Danke», murmele ich und senke den Blick.
Verlegen aktiviere ich erneut die Aufzeichnung, doch die Worte rauschen durch meinen Kopf, ohne dass ich ihren Sinn aufnehme. Das gleichmäßige Ruckeln des Zuges macht mich schläfrig. Ich habe kaum ein Auge zugemacht in der vergangenen Nacht, vor lauter Nervosität immer wieder nach meinen Sachen getastet, dem gepackten Koffer, der Handtasche mit den Unterlagen, der Jacke, den Schuhen.
Ich nicke ein und träume von einer Wiese auf einer Waldlichtung, wo ich mit meiner besten Freundin Siri im piksenden Gras liege und Ketten aus Gänseblümchen bastele. Es ist ein friedlicher Ort, die Sonne scheint, Vögel singen, Insekten schwirren durch die Luft. Plötzlich tritt ein maskierter Mann auf die Lichtung und schwenkt ein Beil. Siri und ich versuchen, seinen Schlägen auszuweichen, aber der Angreifer ist überall gleichzeitig, wir können ihm nicht entkommen. Irgendwann fließt mir Blut in die Augen, ich weiß nicht, ob es Siris ist oder mein eigenes. Jedenfalls kann ich nichts mehr sehen, taste hilflos herum, voller Todesangst, weil ich jeden Augenblick damit rechne, dass das Beil mir den Schädel spaltet.
Als ich aufwache, bin ich zunächst orientierungslos.
«Noch etwa eine halbe Stunde bis Stralsund», sagt die Stimme von vorhin.
«Ich habe wohl ziemlich lange geschlafen.» Verlegen streiche ich mir die Haare aus der...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.