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Die Schuld austreiben, das ist der Plan, als Horace in einer Frühlingsnacht in den Garten seines Großvaters hinaustritt. Ein Ritual soll Horace befreien. Von den Erwartungen, die seine Familie an ihn und seine Begabung stellt, von den rasenden Gedanken, vom Begehren, das ihn Mitte der Achtziger in dieser Schwarzen Baptistengemeinde im Süden alles kosten kann. Doch die Befreiung missglückt, und Horace, getrieben von den erlittenen Ungerechtigkeiten aus Hunderten von Jahren, irrt gefährlich durch die Nacht. Bis ein anderer Mann aus seiner Familie, am Glauben verzweifelt wie er, dem berechtigten Wahnsinn Einhalt gebieten will .
Entdeckt von Toni Morrison, als sein Jünger mit James Baldwins Nachlass betraut, so stand Randall Kenan 1989 nach Erscheinen seines Romans an der Spitze der nachfolgenden Generation, einsam und zu früh. Mehr als dreißig Jahre mussten vergehen, damit Der Einfall der Geister international gefeiert werden kann, als ein Meisterwerk Schwarzen Erzählens, über die Gefahren der Erlösung, über Wünsche, die an Grenzen stoßen.
. Was wollte er sein?
Zunächst war Horace überzeugt, er wollte sich in ein Kaninchen verwandeln. Aber dann . nein. Zwar waren Kaninchen flink wie Kieselsteine, die über einen Teich titschen, doch eben auch leichte Beute, die zu schnell in die Klauen eines Fuchses oder eines Falken geriet. Eichhörnchen tappten in jede Falle. Mäuse und Waldratten waren wunderbar klein, am Ende aber vielleicht kleiner, als er sein wollte. Die Köpfe von Schlangen ließen sich zu leicht zerquetschen, außerdem mochte er die Vorstellung nicht, bäuchlings über Zweige, Exkremente und Speichel kriechen zu müssen. Hunden fehlte eine körperliche Anmut, wie er sie sich wünschte. Und er sehnte sich vor allem nach Anmut. Wenn er sich also schon die Mühe machte, sich zu verwandeln, sollte er sie auch bekommen. Schmetterlinge waren zu schwach, Opfer der Winde. Er liebte die Geschicklichkeit von Katzen, besonders die geschmeidigen, fließenden, gleitenden Bewegungen der afrikanischen Großkatzen, aber er sollte eine Gestalt annehmen, die in die sumpfigen Wälder von North Carolinas Südosten passte. Er hatte nicht vor, von hier fortzugehen.
Nein, ehrlich gesagt, wünschte er sich vor allem, fliegen zu können, das wurde ihm jetzt klar. Wie ein Vogel. Er hatte es schon immer geahnt. Er setzte sich hin, um in Ruhe über seine Optionen nachzudenken, ein Entscheidungsritual, das es Wirklichkeit werden ließ. Ein Vogel.
Als er wieder aufstand, krampfte sein Magen sich vor Aufregung zusammen. Ein Vogel. Jetzt musste er sich nur noch für die Art entscheiden. Die Ordnung. Die Gattung. Er wusste genau, welches Buch aus der Schulbücherei er jetzt brauchte, er kannte das Regal und hatte die Ausgabe praktisch vor Augen, jetzt in diesem Moment - leicht schräg, eingeklemmt zwischen einem Band über Vogelhäuschen, den niemand je in die Hand genommen hatte, und einer Abhandlung über das Eiersammeln; er konnte sogar den Winkel sehen, in dem das Buch dort steckte. Hatte die Bibliothekarin Mrs Stokes ihn nicht immer damit aufgezogen, dass er sich in der Bücherei besser auskannte als sie selbst? Und hatte sie damit nicht recht?
Er hatte auf der Mauer am äußersten Rand des Schulgeländes gesessen, hinter dem Footballfeld, das sich jenseits der Turnhalle und des Hauptgebäudes erstreckte. Er hatte allein sein und ungestört nachdenken wollen. Aber nun verspürte er neuen Auftrieb, denn endlich wusste er, wie er seine restliche Zeit auf Erden verbringen würde. Nicht als gequälter Mensch, sondern als freier Vogel, der sich in die Lüfte schwingt, aufsteigt, niederschießt und über die Maisfelder und Tabakplantagen gleitet, auf denen er, obwohl er erst sechzehn war, gefühlte Jahrzehnte lang geschuftet hatte wie ein Sklave. Bald wäre er nicht mehr an jene menschengemachten Gesetze und Regeln gebunden, die ihn ständig straucheln ließen und mit denen er ohnehin nicht einverstanden war. Dies war seine Chance. Er war auf den Text eines alten Mystikers gestoßen, eines Mönchs und Gottesmannes, und dort hatte er die Lösung gefunden. Es war so simpel, dass er sich wunderte, warum bislang niemand darauf gekommen war. Aber wie auch? Der arme alte Jeremia, die arme alte Julia verschwinden ganz plötzlich; alle sind verzweifelt und machen sich Sorgen, sie suchen und sie warten. Irgendwann wird die vermisste Person für tot erklärt, und die dummen Leute wenden sich wieder ihrem Alltag zu und merken nicht, dass die alte Julia sich in einen Aal verwandelt hat und auf den Grund des tiefen blauen Ozeans geschwommen ist, um nachzusehen, was es dort gibt. Kein moralisches Gesetz schreibt vor, dass man ein Mensch bleiben muss. Und er wollte keiner mehr sein.
Die Pause war vorüber. Die anderen liefen zurück ins Gebäude, gleich fing die dritte Stunde an. Er beschloss, sie zu schwänzen. Was machte das schon? In ein paar Tagen würde er ein Wesen der Lüfte sein. Dann könnte er am Physikraum vorbeifliegen und hören, wie Mrs Hedgeson ihren monotonen Vortrag über Elektronen abspulte; er könnte sich auf ein Fenstersims hocken und zuschauen, wie seine Mitschüler im Biologieunterricht eingelegte Frösche sezierten und in der Spanischstunde über die eigene Zunge stolperten; er könnte über der Schulkapelle schweben, die auf dem Footballfeld unbeholfen ihre Aufstellung übte und dabei in die funkelnden Instrumente stieß. Unbehindert, ungebunden, frei.
Als er durch den Flur lief, wurde ihm plötzlich klar, dass er keine Entschuldigung dabeihatte. Was, wenn der stellvertretende Schulleiter ihm begegnete und eine sehen wollte? Aber nein. Er war Horace Thomas Cross, die, wie sein Freund John Anthony es nannte, Große Schwarze Hoffnung. Er war ein Musterschüler. Oder zumindest war er einer gewesen. Wo andere beiseitegenommen und getadelt wurden, durfte er unbehelligt weitergehen. In Gedanken sah er seine Cousine Ann mit dem Zimtlächeln, er hörte ihre heisere Flüsterstimme: Weißt du es denn immer noch nicht, Horace? Du bist der Scheißheiland.
In der Bücherei traf er niemanden außer die alte Mrs Stokes, die am Zettelkasten stand, ihm knapp zunickte und dabei wissend lächelte. Wenn sie nur wüsste - ihr graues Haar würde schlagartig weiß. Zielstrebig lief er in den richtigen Gang, blieb vor dem richtigen Regal stehen, zog das richtige Buch heraus und nahm es, obwohl er in der großen Bücherei allein war, zu den Lesetischen im hinteren Teil mit. Er setzte sich an ein Fenster mit Blick auf den breiten, leicht abschüssigen, frühlingsgrünen Rasen, der weiter hinten in ein Kiefernwäldchen überging.
Das Buch war schwer und hatte einen weißen Leineneinband mit eleganter Goldprägung: Enzyklopädie der Vögel Nordamerikas. Er kannte die gestochen scharfen Fotografien, die akkuraten Diagramme und seitenlangen Beschreibungen seit der Grundschule. Weil man Nachschlagewerke nicht ausleihen durfte, hatte er schon stundenlang an diesem Tisch gesessen und sich über Zugrouten schlau gemacht, über die Funktion von Schwanzfedern, Brutzeiten .
Schon als er das Buch aufschlug, schoss ihm das Blut in den Kopf, und der Anblick der ersten Farbtafeln beflügelte seine Fantasie, die losstampfte wie eine Lokomotive: Möwen, Kraniche, Eulen, Störche, Truthähne, Adler. Er blätterte weiter, schneller und schneller. Welcher Vogel sollte es sein? Spatz, Zaunkönig, Eichelhäher. Nein, größer. Stockente, Schneehuhn, Fasan. Größer. Gans, Schwan, Kormoran. Größer. Fischreiher, Graureiher, Kondor. Er blätterte immer weiter und sein Herz schlug schneller, von der Auswahl wurde ihm schwindelig. Rabe, Dohle, Amsel. Krähe .
Als er merkte, dass er in dem Buch blätterte wie ein Verrückter, schlug er es zu. Mrs Stokes sah erschrocken auf und schenkte ihm dann ihr knappes, wissendes Lächeln.
Er schloss die Augen und versuchte, auf anderem Weg zu einer Entscheidung zu kommen. Er dachte an das Land: an die Sojafelder rings um das Haus seines Großvaters, an die Wälder, die diese Felder wiederum umgaben, an hohe, stämmige Sumpfkiefern. Er dachte an kilometerlange Highways, an den Asphalt, der die einst von Maultierhufen in die Landschaft geschlagenen Pfade bedeckte, an einen Strand, sandiges Weiß, das Meer, trüb und aufgewühlt, Schaum, Gischt, wieder das Weiß, an den Geruch von Fisch und fauligem Holz. Er dachte an lange Winter, wenn der Waldboden von einem braun-schwarzen Flickenteppich aus vertrockneten Kiefernnadeln bedeckt ist. Er dachte an den Himmel, nicht an einen blauen Bilderbuchhimmel mit ein paar Schleierwolken, sondern an einen schwarzen, bösen Gewitterhimmel, stürmisch und hasserfüllt, an Gottes Zorn, Donner und prasselnden Regen. Er dachte an alte und neue Häuser aus Backstein und aus Holz, hoch und niedrig, an vom Schimmel geschwärzte Dächer, an Schornsteine, Blitzableiter und Fernsehantennen. Er versuchte, zu denken wie ein Vogel, wie der Vogel, der er sein würde. Und als er ein Kaninchen durch ein braunes Roggengrasfeld flitzen sah, als er sah, wie Krallen das weiche, braune Fell durchbohrten, wusste er es.
Er...
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