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Vorwort
Das war schon eine merkwürdige Begegnung, damals in den siebziger Jahren, als ich zum ersten Mal einen Roman von Walter Kempowski las. Als Rostocker hat mich natürlich das Personal von Tadellöser & Wolff interessiert, aber auch die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, die mir als etwas Jüngerem kaum bewusst geworden ist.
Ich war magisch angezogen vom Sujet und hatte doch eine Abwehr wegen des Sprachstils. Eine innere Stimme sagte mir: Mein Gott, kann - darf - man seine Figuren so über Nazizeit und Krieg plappern, banalisieren, räsonieren lassen? Irritation. Später, belesener, vermochte ich Absichten, Komposition und eine Begabung zu erkennen, die den Leser dem Eigentlichen gleichsam magisch hinter dem Jargon des Uneigentlichen begegnen ließen.
Als der Band Haben Sie Hitler gesehen? 1973 erschien, schrieb die ZEIT, Kempowski habe als »Bauchredner des Volkes« agiert. Es war absolut ungewöhnlich, dass ein Schriftsteller die Realität ganz allein für sich sprechen ließ, ohne Deutung und literarische Bearbeitung. Wieder Irritation. Aber auch Überraschung: Wie aus den wörtlichen Zitaten von über zweihundert Bundesbürgern ein Bild des Diktators und seines Krieges entstand, das komplexer und vielschichtiger war als manche Analyse. Schrecklich und witzig, komisch und tragisch, zum Fürchten und zum Lachen. Manchmal auch zum Ekeln.
Und ich, Jahrgang 1940, erkannte Sprüche, die ich ähnlich von meinem Vater, meiner Mutter oder im Bekanntenkreis aufgeschnappt hatte, Sprüche über Hitler und die Konzentrationslager, denen Kempowski wenig später einen eigenen Band widmete: Haben Sie davon gewusst? (1979). Meist verharmlosende Redensarten und Floskeln, gegen die ich angelaufen war, als ich, ein Jugendlicher nach dem Krieg, anfing, Fragen zu stellen.
Walter Kempowskis Vater ist noch Ende April 1945 auf der Frischen Nehrung umgekommen, mein Vater verbrachte die meiste Zeit des Krieges in einer Marineschule in Gdingen, das damals Gotenhafen hieß. Kempowski kam in eine Strafeinheit der Hitlerjugend und musste im Frühjahr 1945 als Kurier zur Luftwaffe. Er hat noch selbst und weit einschneidender erlebt, was ich mir fast nur durch Lesen und Fragen an die Älteren erschließen konnte: Was hatten die Männer und Frauen im Krieg erlebt? Und warum erinnerten sie sich fast nur an das Schlimme in der eigenen Familie? Wieso haben sie nicht auch das Verschwinden der geistig Behinderten, der Juden in der Stadt registriert? Wieso nicht mit Empörung auf die Entrechtung der vielen polnischen, ukrainischen, russischen Zwangsarbeiter reagiert, die in deutschen Betrieben und auf deutschen Bauernhöfen schuften mussten? Hatten sie wirklich nichts gewusst von den Gräueln, die im sowjetischen Hinterland geschahen, und erst recht von den Massenmorden in den Konzentrationslagern?
Die Gunst des Schicksals hatte meinen Vater vor der Front bewahrt. Wie er sich verhalten hätte, weiß ich nicht. Aber ich verhielt mich, als hätte die individuelle Differenz sowieso keine Rolle gespielt. Für mich, für meine Generation war die Elterngeneration a priori schuldig.
Es stimmte: Reue und innere Krise blieben in den fünfziger und sechziger Jahren nicht nur bei jenen aus, die Verbrechen begangen hatten oder sie noch im Nachhinein als Pflichterfüllung rechtfertigten. Es schwiegen und verdrängten auch jene, die die Auseinandersetzung mit der eigenen Verstrickung und ihrem schlechten Gewissen fürchteten. Vielleicht hatten sie als mittelständische Unternehmen einen jüdischen Betrieb unter Wert übernommen, als Offizier eine jüdische Familie ausgewiesen, hatten Hilfe verweigert, jemanden denunziert oder »Untermenschen« verächtlich behandelt. Es schwiegen sogar jene, die als Individuen schuldlos waren, aber auch von allem nichts hatten wissen wollen.
Ihnen allen kam in den fünfziger und sechziger Jahren zugute, dass - wie Alexander und Margarete Mitscherlich es formulierten - »die Abwehr kollektiv entstandener Schuld einfach ist, wenn sie wieder im Kollektiv geschehen kann«.
Ihnen allen kam auch zugute, dass die Trümmerlandschaft nach dem Krieg eine einfache Kompensation anbot. Es musste wiederaufgebaut werden, Häuser, Betriebe, politische und kulturelle Werte. Besonders im Westen Deutschlands rettete sich die Bevölkerung in ein »gieriges Verlangen«, pausenlos beschäftigt zu sein. »Beobachtet man die Deutschen«, schrieb Hannah Arendt 1950 nach einem Besuch in Deutschland, »wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, dass die Geschäftigkeit ihre Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.«
Ja, viele meiner Generation verurteilten die Eltern dafür, dass sie sich der Vergangenheit nicht stellten. Dass sie den Blick abwandten und in Selbstmitleid verharrten, anstatt sich auch in die Opfer der Deutschen hineinzufühlen. Meine Generation schuf ein dichotomisches Bild der Moral, um das angeblich eindeutig Böse eindeutig verurteilen zu können.
Liest man die Aussagen, die Kempowski von Durchschnittsbürgern über Hitler und die Konzentrationslager zusammengetragen hat, wird alles komplizierter. Da zeigt sich Menschliches auch im Opportunistischen und sogar im Bösen. Kempowski hat hier wie ein Buchhalter der Zeitgeschichte mit Hunderten von Originaltönen festgehalten, dass die Wirklichkeit vielschichtiger war als mein, als unser damaliges Denkkonstrukt über sie.
»Vor der Frage steht das Nachdenken, und zum Nachdenken gehört Sympathie«, schrieb Kempowski einmal an einen Teilnehmer seines literarischen Sommerklubs für junge Leute. Er fragte die Menschen nicht, um sie auf die Anklagebank zu setzen, er fragte sie, um zu verstehen. Vor ihm mussten sie sich nicht trotzig verschließen und konnten Ambivalenzen zu erkennen geben, auch Scham, auch Uneinsichtigkeit.
Wurde das Böse dadurch verharmlost?
Das Gegenteil war der Fall. Mit Bestürzung erkannten und erkennen wir, die Leser damals wie heute, wie sich Böses aus Banalem entwickeln kann (nicht muss) und wie viel Aufmerksamkeit es braucht, um den Übergang vom Banalen zum Bösen zu erkennen.
Und noch etwas habe ich gelernt, als ich erneut über unseren Umgang mit dem Schweigen über das Vergangene nachdachte. Geschwiegen wurde nicht nur von den Tätern und Mitläufern. Geschwiegen wurde lange Zeit auch von den Opfern. Viele waren damals noch nicht imstande, sich mit einer Vergangenheit auseinanderzusetzen, in der große Teile ihrer Familien umgekommen waren und sie selbst nur nach großem, unsäglichem Leid oder durch glückliche Umstände überlebt hatten. Sie verschwiegen ihre Leiden, Ängste, ihre einstige Ohnmacht und Nichtigkeit; und sie entzogen sich der Auseinandersetzung mit den schweigenden deutschen Normalbürgern, bei denen sie auf keine Empathie gestoßen wären. Wahrhaftig, eine teuer erkaufte Integration.
Wenn jetzt eine Neuausgabe von Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten zusammen mit dem wenige Jahre später veröffentlichten Buch Haben Sie davon gewusst? Deutsche Antworten erscheint, sollten wir uns in Erinnerung rufen, dass Kempowski diese beiden Bücher als integralen Bestandteil seiner »Deutschen Chronik« begriffen hat - wohl deshalb, weil er sein Erzählen der Familiengeschichte um die Perspektive auf die kollektive Mentalitätsgeschichte erweitern wollte. In Kempowskis Worten: »Dem Leser meiner Romane . wird durch die >Befragungsbücher<, wie man sie nennen könnte, eine allgemeinere, ja chorische Begleitung und Erklärung an die Hand gegeben. Mag er die Romane für zu privat oder die >Befragungsbücher< für zu allgemein halten: In der Gegenüberstellung beider liegt die Wahrheit verborgen, ist die Antwort zu suchen auf die Frage: Wie konnte es geschehen?«
Mit einem für ihn nicht untypischen Understatement hat Walter Kempowski die beiden Bände an anderer Stelle als »demoskopisches Element« seiner Chronik bezeichnet. Sie sind weit mehr als das. Mit diesen beiden Bänden hat er uns ein kleines, aber kostbares Archiv von Stimmen hinterlassen, das die Bewusstseins- und Verdrängungslage der damaligen Generation deutlich beleuchtet. Es war seine, uns zur Verfügung gestellte »Möglichkeit, mit einer Sonde sich Zugang zu verschaffen zum gegenwärtigen Bewusstseinsstand unseres Volkes«.
Ein Archiv von Stimmen - Kempowski hat dieses Archiv in späteren Jahren gewaltig erweitert, hat ihm in den Bänden seines Echolots auf mehreren tausend Seiten eine unverwechselbare Gestalt gegeben. Nur eine Seite - »Statt eines Vorworts« - stammt darin von ihm selbst. Sein Motiv für das lebenslange Sammeln von Stimmen können wir durchaus als bleibende Aufforderung an uns lesen: »Wir sollten den Alten nicht den Mund zuhalten, wenn sie uns etwas erzählen wollen, und wir dürfen ihre Tagebücher nicht in den Sperrmüll geben, denn sie sind an uns gerichtet - die Erfahrungen ganzer Generationen zu vernichten, diese Verschwendung können wir uns nicht leisten. Wir müssen uns bücken und aufheben, was nicht vergessen werden darf: Es ist...
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