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Um den Jazz ranken sich viele Mythen. Dass es sich dabei um eine genuin politische Musik handelt, dürfte einer der hartnäckigsten sein. »Ich fühle mich als Inbegriff von Black Lives Matter«1 erklärte der Saxophonist Kamasi Washington aus der Hip-Hop-Hood in Los Angeles selbstbewusst 2016. Schon knapp ein Jahrhundert zuvor hatte ein Jazz-Gentleman wie Duke Ellington kein Blatt vor den Mund genommen: »Jazz war während der >plantation days< unsere Reaktion auf die Tyrannei, die wir erdulden mussten. Er erzählt eine Geschichte von Menschen, die in ihrer Entwicklung gehandicapt und furchtbar unterdrückt wurden«. 1944 präzisierte er: »Du kannst alles, was du willst, mit einer Posaune sagen, aber du solltest vorsichtig sein mit Worten«.2
Gern wird auch der plakativ-provokative Ausspruch von Archie Shepp aus den 1960er Jahren kolportiert: »Mein Saxophon ist das Maschinengewehr des Vietcong«.3
Und wer hätte von Louis Armstrong, der so oft als harmloser, ewig lächelnder >Onkel-Tom<-Typ kritisiert wurde, erwartet, dass er sich 1957 im Skandal von Little Rock offen gegen die Rassenpolitik der amerikanischen Regierung positionieren würde?
Ich habe 40 Jahre lang ein wundervolles Leben mit der Musik gehabt, aber ich spüre die Unterdrückungssituation so wie jeder andere Schwarze auch. [.] So, wie sie meine Leute im Süden behandeln - die Regierung kann von mir aus zur Hölle fahren.
Jazz ist für Satchmo immer auch die klangliche Verkörperung schwarzer Erfahrung in den USA. Oder wie er es ausdrückte: »Was wir spielen, ist unser Leben.«4
Oft wird auch die politische Funktion des Jazz damit erklärt, dass sein zentrales Moment, die Improvisation, einen fortschrittlich >demokratischen< Charakter besitzt. Dann weisen Jazzmusiker gern darauf hin, dass sie sich mit ihrer Kunst bereits automatisch in eine kommerzielle Außenseiterposition begeben haben und damit quer zu einer kapitalistischen Verwertungslogik stellen. Bedenkenswert ist in diesem Zusammenhang die Behauptung des Saxophonisten Mark Turner, schon die Entscheidung als Jazzmusiker zu leben, sei ein politisches Statement. Ein weiteres beliebtes Argument lautet, wer Jazz spiele, verhalte sich automatisch antirassistisch, weil er mit seiner Musik vielmehr einer pluralistischen Gesellschaft das Wort redet.
Man kann den Begriff >Jazz< heute für ungeeignet halten, um die Vielfalt seiner Stile und die Kompliziertheit seiner künstlerischen Praxis zu fassen. Auch seine Bezüge zur verrufenen Kneipenkultur in New Orleans, mit Bordellen und sexuellen Praktiken lassen den Begriff in einem eher negativen Licht erscheinen. Doch all die von Musikern und Kritikern vorgeschlagenen Alternativen wie »Creative Music«, »African American Music« oder »New World Music« dienen zwar dem Selbstverständnis der Jazzszene, haben jedoch keine Ausstrahlung und keine Akzeptanz in einer breiteren musikinteressierten Öffentlichkeit. Die kennt allenfalls den Begriff >Jazz< und verbindet damit auch die Vorstellung von einem bestimmten Sound, einer bestimmten Form von Improvisation und musikalischer Komplexität. Von vielen schwarzen Musikern wird der Ausdruck >Jazz< gleichwohl als Ausdruck einer >weißen Enteignung< abgelehnt, auch deshalb, weil er ihnen als zu einengend erscheint.
Und doch bleibt das Wort ein nützliches Kürzel, um damit eine ganze Musiktradition mit all ihren Erfolgen, Kämpfen und Widersprüchen zu identifizieren. Im Folgenden wird deshalb der Ausdruck >Jazz< mit Bezug auf die mehr als 100-jährige Geschichte dieser Musik verwendet. Denn der Begriff bietet trotz seiner Mängel die am weitesten verbreitete Verständigungsgrundlage, auf der diese Musik, ihre soziale Dimension, ihre Protagonisten und ihr kritisches Potential verhandelt werden können: Worin besteht das oft und gern zitierte, jedoch bis heute rätselhafte >Widerständige< des Jazz? Worin liegt sein ominöses Freiheitsversprechen begründet?
Eine Grundannahme dieses Buches lautet: Jazz ist als Innovation von Afroamerikanern entstanden und hat sich im Kontext ihrer Emanzipationsbewegung und ihres Kampfes um Bürgerrechte entwickelt. Als primär afroamerikanisches Akkulturationsprodukt bewegt sich diese Musik immer schon im Konfliktfeld zwischen schwarzer und weißer Politik und Praxis. Es fand eine Verschmelzung unterschiedlicher Kulturen statt: der westafrikanischen und der nordamerikanischen. Wenn am Anfang jeder Jazz-Geschichtsschreibung das Verbrechen der Sklaverei und die damit verbundene Massendeportation von Einwohnern Westafrikas nach Nord- und Südamerika steht, dann stellt der >Konflikt< zwischen der latenten Musikfeindlichkeit angelsächsischer Puritaner und der musikalisch geprägten Sozialisation der Westafrikaner das kulturelle Medium dar, in dem die frühen afroamerikanischen Musikstile wie Worksongs, Gospel/Spiritual und Blues als Vorläufer des Jazz ihren Ursprung haben. Jazz stand also immer im Spannungsverhältnis zwischen den >races< und lässt sich deshalb nicht nur als »bloßer Gefühlsausdruck«, wie es der Saxophonist Joshua Redman nennt, sondern auch als »soziale Musik«, so Archie Shepp, begreifen. Doch wie haben es Jazzmusiker immer wieder geschafft, trotz eines rassistisch geprägten Umfelds eine Kunst von so kraftvoller Schönheit, überwältigender Würde und dauerhafter Ausstrahlung zu schaffen?
Im amerikanischen Sprachgebrauch bezieht sich der Ausdruck >race< auf alle Fragen der Hautfarbe, der Ethnizität und gesellschaftlichen Schicht. Der Begriff lässt sich in seiner vielschichtigen Bedeutung nur unzureichend ins Deutsche übersetzen und kann nicht mit dem Begriff »Rasse« gleichgesetzt werden. Im Folgenden wird also nicht nur, um den historisch belasteten »Rasse«-Begriff zu vermeiden, der Ausdruck >race< verwendet, wenn es um Fragen der Hautfarbe, der ethnischen Abstammung, der sozialen Stellung und spezifisch afroamerikanischer Diskriminierungserfahrungen geht. Vor diesem Hintergrund akzentuiert dieses Buch die Jazzgeschichte neu: als Entwicklung von >race conflicts< und der allmählichen Politisierung von Jazzmusikern.
Das Thema >Jazz und Rassismus< hat dabei verschiedene Facetten: Zum einen geht es um die Diskriminierung von Jazzmusikern in einer dominanten >weißen< Hochkultur und Unterhaltungsindustrie. Zum anderen wurde nach und nach der Rassismus selbst zum Thema des Jazz. Musiker versuchten, sich mit klanglichen Mitteln zur Wehr zu setzen. Doch auch innerhalb der Jazzszene blieben >racial tensions< nicht aus: Immer wieder kam es in der Black Community zu wechselseitigen Demütigungen und Desavouierungen. Erstmals wird hier also die Emanzipationsgeschichte der Afroamerikaner in den letzten 100 Jahren anhand der Jazzgeschichte nachgezeichnet, mit ihren wichtigsten stilistischen Wegmarken, in theoretischen Exkursen, einer Charakterisierung der prägenden Persönlichkeiten und den wirksamsten Strategien ihrer Rebellion.
Auf diese Weise lassen sich die Wurzeln des Jazz in Ritualen versklavter Afrikaner ebenso wie in Praktiken ihrer Kirche oder in rassistisch gefärbten Minstrel Shows aufspüren. In New Orleans und St. Louis haben Ende des 19. Jahrhunderts Ragtime-Pianisten und Blaskapellen afrikanische und europäische Einflüsse in ihrer Musik vermengt und so den Jazz aus der Taufe gehoben. In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren verkörperte Duke Ellington mit seinem Orchester die Blüte der >Harlem Renaissance<, die versuchte, mit neuem >black pride< die Gleichheitsansprüche von Afroamerikanern durch ihre Erfolge in Kunst und Kultur durchzusetzen. Die Bebop-Revolution mit ihrer Gallionsfigur Charlie Parker erwuchs im Kontext eines erneuerten Anspruchs auf Gleichbehandlung, wie ihn afroamerikanische Soldaten aus den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs in ihr Heimatland zurückgebracht hatten: Man war im Kampf gegen die faschistische Diktatur in Europa und Asien erfolgreich gewesen und forderte jetzt zu Hause dieselben Bürgerrechte ein, wie sie die weißen Heimkehrer längst hatten.
Nachfolgende Jazzstile wie Hard Bop, Funk-Jazz oder die Avantgarde des >New Thing< in den 1960er Jahren lassen sich im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Civil Rights Movement und einem wachsenden afroamerikanischen Selbstbewusstsein verstehen. Selbst die Fusion-Experimente in den 1970er Jahren sowie der darauf reagierende Neotraditionalismus im folgenden Jahrzehnt können als Ausdrucksformen schwarzer Identitätssuche gelesen werden, die sich vor dem Hintergrund eines konservativen Neoliberalismus der fortschreitenden Emanzipation der Schwarzen in den USA verpflichtet sah.
Während sich der Jazz in Europa seit den 1960er Jahren mehr und mehr zu einer Kunstmusik entwickelte, konnte sich der instrumentale Jazz in den USA immer noch seiner soziopolitischen Wurzeln vergewissern. Ohnehin lässt sich die europäische Jazzgeschichte ohne die afroamerikanischen Vorleistungen nicht denken. Der Multiinstrumentalist Ken McIntyre, der mit vielen großen Jazzmusikern seit den 1970er Jahren zusammengearbeitet hat, war sich zeitlebens sicher:
Man kann afroamerikanische Musik...
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