Schweitzer Fachinformationen
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Niemals zuvor hat ein neuer Begriff die Sozial- und Kulturwissenschaften in ähnlich kurzer Zeit so umfassend in seinen Bann geschlagen wie «Globalisierung». «Globalisierung» schaffte in zwanzig Jahren, wofür die allein vergleichbare Kategorie «Moderne» zweihundert benötigte. Der Senkrechtstart von «Globalisierung» in den Wissenschaften wie in den Medien - beides in sich aufschaukelnder Eskalation - zündete Mitte der neunziger Jahre. Seither ist unendlich viel über die sehr unterschiedlichen Phänomene großräumiger Interaktion und Strukturbildung geschrieben worden, die von Autoren aus vielen Disziplinen unter einem einheitlichen Begriffsdach geparkt wurden. Die Zahl der englischsprachigen, in zwei maßgeblichen Datenbanken erfassten Zeitschriftenartikel mit globalization/globalisation im Titel wuchs von 16 im Jahre 1990 auf 1682 im Jahre 2009.[1] Im August 2014 weist die Library of Congress (Washington, DC) in ihren Beständen etwa 9500 englischsprachige Bücher der Erscheinungsjahrgänge 2000 bis 2013 nach, die den Begriff im Titel führen. Man gelangt zu weitaus höheren Zahlen, wenn auch nicht-englische Varianten - das französische la mondialisation, das chinesische quánqíuhuà, usw. - sowie das Adjektiv «global» mitsamt seinen Äquivalenten berücksichtigt werden, im Deutschen auch substantivische Zusammensetzungen wie «Globalgeschichte», von der verzweigten Semantik von «Welt» ganz zu schweigen.
Es ist zu einem running gag geworden, eine neue gedruckte Äußerung zu Globalisierung mit dem Vergeblichkeitstopos zu beginnen, es sei zwecklos, weitere Tropfen in dieses Wörter- und Datenmeer zu gießen. Schnell gerät man in eine Schweigespirale: Selbst ein wirklich neuer Gedanke, eine Perle theoretischer Originalität riskieren, unentdeckt zu bleiben, während gleichzeitig das publizierte Material so umfangreich ist, dass selbst für einzelne Disziplinen - die bibliometrisch am deutlichsten zu Buche schlagenden sind Ökonomie, Geographie und Soziologie - niemand den nötigen Überblick besitzt, um zu sichten, zu sieben und zusammenzufassen. Keiner entrinnt dem epidemischen Globalismus.
Angesichts dieses Überflusses mag der Befund überraschen, dass der Glanz des einstigen Aufbruchs ermattet ist. In den neunziger Jahren wurde das Globale entdeckt - zwar nicht völlig neu «erfunden», aber doch von einem randständigen Interesse intellektueller Minderheiten an Weltzusammenhängen zu einer konstitutiven Zentralthematik mehrerer Disziplinen erhoben. Damals kamen drei große Gegenwartstrends zusammen und inspirierten Wissenschaftler, überkommene Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen: erstens die Entgrenzung des Planeten durch das Ende der kapitalistisch-sozialistischen Systemkonkurrenz, zweitens das Eindringen des Internets mit seiner präzedenzlosen Vernetzungserfahrung in die Alltagspraxis von Wissenschaftlern überall auf der Erde und drittens die zumindest äußerliche Annäherung der größten Gesellschaft der Welt, des post-totalitären China, an den Phänotypus einer Moderne, die dadurch endgültig von einer westlichen zu einer globalen zu werden schien.[2]
Diese neue Weltlage regte sogleich eine ganze Reihe kluger Köpfe an, neue Denkwege zu erkunden. Nahezu alle bis heute maßgeblichen Theorien der Globalisierung entstanden vor der Jahrhundertwende. Seither sind zahllose Lehrbücher erschienen. Sie alle zehren aber noch von den Ideen der Denker des Aufbruchsjahrzehnts von Anthony Giddens bis David Harvey, von Manuel Castells bis Arjun Appadurai.[3] Auch die Grundpositionen politischer Bewertung sind damals formuliert worden, sowohl neoliberale Euphorie über angeblich grenzenlose Marktfreiheit als auch eine Globalisierungskritik, die selten nationalistisch grundiert war und überwiegend die Schwächeren, die Natur und den Eigensinn des Lokalen zu verteidigen suchte.
Die ungeheure Literaturproduktion hat sich schnell von den Ursprungsumständen des neuen Konzepts gelöst, und der Aufbruchsmoment der Jahre vor der Jahrhundertwende wiederholte sich nicht. Die Veränderungen in der realen Welt werden seither nicht immer mit jener schnellen Aufmerksamkeit aufgegriffen, die für die neunziger Jahre charakteristisch war. Die ursprünglichen Theorieansätze sind scholastisch verfeinert, kanonisiert, in Aufsatz um Aufsatz, in Antrag um Antrag auf alles Mögliche angewendet worden. Es entstanden akademische «Felder»; sie spezialisierten und professionalisierten sich. Niemanden kann diese auto-referentielle Eigendynamik überraschen. So entwickelt sich Wissenschaft. Von einer «Mode» zu sprechen, griffe zu kurz.
Der Siegeszug globalistischer Ansätze lässt sich in den verschiedenen Disziplinen auf jeweils spezifische Ursachen zurückführen. Am einfachsten hat es die Soziologie, die ihr ureigenes, bereits an ihrem Beginn intoniertes Thema der «Moderne» leicht mit dem neuen Adjektiv verkoppeln konnte. Zumindest die Makro- und Kultursoziologie ist heute weitgehend eine Interpretation von global modernity geworden. Die Ökonomie hat es so intensiv wie niemand sonst mit der Verdichtung oder gar Vernichtung von Raum und Zeit zu tun. Marktmodelle in ihrer formalistischen Ortlosigkeit lassen sich leicht auf ausgedehntere Zusammenhänge projizieren. Die Geographie als kosmopolitische Wissenschaft vom gesamten Planeten war von Anfang an besser als andere Fächer auf Themen wie Urbanisierung im Weltmaßstab, Migration und Verkehrsentwicklung eingestellt. Die Politikwissenschaft mit ihren über das Nationale hinausgehenden Traditionen des Vergleichs fand - einstweilen noch eher hoffend normativ als beschreibend empirisch - in global governance ein integratives Thema, das international relations, innenpolitische Systemanalyse und politische Theorie zusammenführt.
Trotz alledem ist weder der Siegeszug des Globalen beendet noch seine Dauerhaftigkeit sichergestellt. Manche der irenischen Konvergenzannahmen aus den optimistischen 1990er-Jahren sind in der politischen und ökonomischen Wirklichkeit nicht eingetroffen. 2014 ist die Gewissheit eher schwächer als im Jahre 2000, dass die Menschheit in einem gleichermaßen post-imperialen wie post-nationalen global age ihre gemeinsamen Überlebensprobleme vernünftig und durch friedliche «Aushandlung» - eine Lieblingsvokabel der zuversichtlichen Jahre - lösen wird. In den verschiedenen Wissenschaften bleiben kritische Nachfragen vernehmbar, und es gibt für die Befürworter von Globalperspektiven keinen Grund, die Einwände von Skeptikern auf die leichte Schulter zu nehmen und sich bereits auf der Siegerseite eines Paradigmenwechsels zu wähnen. Einige Disziplinen sind nach wie vor wenig vom Globalen affiziert.
Überhaupt spricht manches dafür, eine von Gebiet zu Gebiet mit unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit verlaufende Globalifizierung anzunehmen, die auf einer anderen Ebene als die Realprozesse der Globalisierung angesiedelt ist. Globalifizierung kann verstanden werden als das Eindringen und die Übernahme von grenzüberschreitenden Erkenntnisperspektiven in bestehende Diskurszusammenhänge. Man erkennt sie auf den ersten Blick am häufiger werdenden Gebrauch des Adjektivs «global» oder im Deutschen an Wortbildungen mit «Welt-». In den Literaturwissenschaften wächst (erneut) das Interesse an «Weltliteratur»; für die Musikwissenschaft ist «Weltmusik» nicht länger nur ein Regal im CD-Geschäft; in der Wirtschaftsgeschichte erwacht eine vor langer Zeit eingeschlafene Faszination durch «Weltwirtschaft»; Praktiker von Ideengeschichte beginnen, über die Möglichkeiten von global intellectual history zu debattieren.
Die Globalifizierung sollte nicht mit einem dramatischen global turn verwechselt werden. Sie verläuft inkremental, ist keineswegs unaufhaltsam und produziert zumindest im Anfangsstadium mehr Fragen als Antworten. Auch verdrängt und ersetzt sie nur in seltenen Fällen die bestehenden thematischen Vorlieben von Wissenschaftlergemeinschaften. So besteht zwischen Globalgeschichte und Nationalgeschichte keineswegs der von nervösen Traditionalisten befürchtete Verdrängungswettbewerb.
In der Praxis der Fächer muss Globalifizierung zwangsläufig Unterschiedliches bedeuten. Für die meisten nationalen Historiker-«Zünfte» in Europa - aber nicht länger in Nordamerika oder Australien - ist es immer noch eine Herausforderung, die Geschichte nicht-europäischer «Anderer» als gleichwertig anzuerkennen und sie nicht winzigen Spezialistenzirkeln zu überlassen, die unter sich bleiben. Umgekehrt ist die Ethnologie/Anthropologie von Anfang an die Wissenschaft von Gesellschaften gewesen, die nach «fremden» Regeln funktionieren. Globalifizierung der Ethnologie heißt deshalb, sie aus dem Partikularismus lokaler Fallstudien hinauszuführen.[4] In den Orientwissenschaften...
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