Schweitzer Fachinformationen
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Ich liege einige Sekunden wach, horche auf Lauras Schritte über mir und fühle mich ein bisschen wie am Weihnachtsmorgen. Es verliert nie seinen Reiz, wenn die abstrakten Zahlen auf dem Kalender zu wirklichen Tagen werden. Ich weiß seit Jahren, dass der Mond am 20. März 2015 die Sonne verdecken und eine schwarze Scheibe an den Himmel zeichnen wird. Totale Sonnenfinsternisse sind Punkte auf der Zeitachse meines Lebens, seit ich zum ersten Mal unter dem Schatten des Mondes gestanden habe. Chile 1991 war die Sonnenfinsternis des vergangenen Jahrhunderts; sieben Minuten und einundzwanzig Sekunden pure Totalität. Ich war zwölf Jahre alt und wusste, dass ich mein Leben lang versuchen würde, diese Erfahrung zu wiederholen. Eine totale Sonnenfinsternis an einem wolkenlosen Himmel ist unvergleichlich. Bis ich Laura kennenlernte, war ich dem Verständnis von Religion nie so nahe gekommen.
Das Bettlaken auf ihrer Seite ist kalt. Als sie hereinkommt, schiebt sich zuerst ihr Bauch ins Zimmer. Ihre Wangen sind ganz eingesunken, weil sie so müde ist. Sie hat die Haare aufgesteckt, die Ansätze sind zu erkennen, ein brauner Millimeter, der sich beinahe schwarz vom Platinblond abhebt. Sie trägt einen meiner alten Pullover, hat die Ärmel über die Ellbogen hochgeschoben. Sie war nie hübscher. Als wir uns anfangs um ein Baby bemühten, hatte ich befürchtet, ich könnte ihre feingliedrige Schlaksigkeit vermissen, die ich immer so geliebt hatte, doch nun bin ich stolz, dass sich Lauras Körper verändert, weil etwas von mir in ihm ist.
»Geh wieder ins Bett«, sage ich. »Es ist nicht gut, wenn du hier herumspringst.«
»Ach, ich bin jetzt wach. Ich lege mich wieder hin, wenn du weg bist.«
Unter der Dusche gehe ich ein letztes Mal den heutigen Zeitplan durch. Ich nehme um 5.26 Uhr die U-Bahn von Turnpike Lane, dann um 6.30 Uhr den Zug von King's Cross nach Newcastle, wo ich mich um 9.42 Uhr mit Richard treffe. Von da aus bringt uns ein gemieteter Minibus zum Hafen, und um Punkt 11.00 Uhr gehen wir an Bord der Princess Celeste, eines Kreuzfahrtschiffs mit sechshundert Betten, das uns über die Nordsee an Schottland vorbei und in Richtung Island bis zu den Färöern bringt. Die Sonnenfinsternis am Freitag wird hauptsächlich über dem Meer stattfinden, aber selbst eine ruhige See ist nie ganz still, und man kann immer besser an Land fotografieren. Ich hatte die Wahl zwischen den Färöern und Spitzbergen nördlich des Polarkreises. (Laura wollte, dass ich auf die Färöer fahre. In Tórshavn auf Stremoy, der größten Insel, wird sich eine gewaltige Menschenmenge versammeln, was sie für sicherer hält.) In zwei Tagen wird der Mond morgens um 8.29 Uhr beginnen, sich vor die Sonne zu schieben, was in einer totalen Finsternis von zweieinhalb Minuten gipfelt.
Ich rubble mir den Bart trocken, auf dem Laura bestanden hat, und ziehe die Sachen an, die ich gestern Abend sorgfältig bereitgelegt habe. Meine Arbeitskleidung hängt ordentlich im Kleiderschrank und macht mir ein schlechtes Gewissen. Einerseits freue ich mich, dass ich fünf Tage nicht ins Optiklabor muss. Andererseits hätte ich die Tage auch an meinen Vaterschaftsurlaub anhängen können. Dann aber denke ich an die Chemikalien, die ich schon so lange einatme, dass meine Lungen wie beschichtet sind, und an meinen steifen Nacken, der sich das ganze Jahr über Linsen beugt und sich nun endlich zum Himmel recken kann, und denke, scheiß drauf. Ich kann mein ganzes Leben lang den treusorgenden Vater spielen. Was sind da schon fünf Tage?
Ich ziehe ein langärmeliges Thermoshirt an und darüber mein Glücks-T-Shirt, ein Andenken an meine erste Sonnenfinsternis. Darauf steht Chile 91 - Länder beanspruchen eine Sonnenfinsternis für sich, selbst wenn der Schatten auf drei Kontinente fällt -, und es hat die Farben der chilenischen Flagge. Ein grober, schwarzer Kreis mitten auf der Brust steht für die verdeckte Sonne, umgeben von den Strahlen der Korona. Als mein Vater mir das Shirt bei einem Straßenhändler kaufte, konnte ich es als Kleid tragen. Mac weigerte sich, seins anzuziehen, aber ich wollte mich nicht mal zum Waschen davon trennen. Es ist eine Frage der Zeit, wie lange es mir noch passt, falls ich nicht wie Mac ins Fitnessstudio gehe. Am Ausschnitt hat es ein kleines Brandloch, wo Mac 1998 in Aruba während eines Streits einen brennenden Joint auf mich geschnippt hat. Über die beiden Schichten kommt dann noch der strahlende Höhepunkt, ein Kunstwerk aus dicker schwarzer und weißer Wolle. Richard und ich haben uns vor Monaten im Internet die gleichen färöischen Pullover gekauft. Und jetzt folgen wir unseren CO2-Fußabdrücken, indem wir die Pullover in das Land bringen, in dem die Schafe gegrast haben und die Wolle gesponnen und gestrickt wurde.
Ich schaue wieder auf mein Handy, ob sich die Wetterbedingungen in den letzten zehn Minuten geändert haben, aber die Vorhersage bleibt düster. Eine dichte Wolkendecke liegt über dem gesamten Archipel. Eine Sonnenfinsternis zu jagen mag sich falsch anhören - wie kann man ein Phänomen jagen, wenn man selbst derjenige ist, der sich bewegt, und das Phänomen stillsteht? -, aber ich habe im Laufe der Zeit gelernt, den Begriff zu verteidigen. Erstens: An einer Sonnenfinsternis ist nichts still; die Dunkelheit rauscht mit über 1600 Stundenkilometern heran. An den Koordinaten können wir nichts ändern, der Schatten fällt dorthin, wo er hinfällt, in einem Muster, das entstand, als wir noch Ursuppe waren. Aber Wolken sind bei weitem nicht so vorhersagbar. Ein unerwarteter Kumulus kann eine große Menschenmenge enttäuschen, die gerade eben noch zuversichtlich im Sonnenschein gestanden hat. Der Reiz besteht darin, das Wetter auszutricksen. Die schönste Erinnerung an meinen Vater ist Brasilien 94, als Mac und ich unangeschnallt auf dem Rücksitz von Dads VW saßen und über eine von Schlaglöchern übersäte Straße holperten, bis wir ein Fleckchen blauen Himmel gefunden hatten. (Zugegeben, er fuhr betrunken, aber darüber denke ich lieber nicht nach.)
Heutzutage gibt es natürlich Apps. Wolkenlücken lassen sich sehr viel genauer vorhersagen, und es ist nicht ungewöhnlich, dass ganze Busladungen ihr Ziel erst fünf Minuten vor dem ersten Kontakt erfahren. Ich lege mein Handy mit dem Display nach unten hin. Ich werde verrückt, wenn ich zu lange über das Wetter nachdenke. Zum Glück konnte ich schon immer gut Gedanken verdrängen, die mich ablenken oder beunruhigen würden. Wenn ich mir gestatte, an die Vergangenheit zu denken, was selten vorkommt - sie dringt nur in mein Bewusstsein, wenn eine Sonnenfinsternis ansteht und bei Laura eine Reaktion auslöst -, kommt es mir vor, als lebten wir seit Lizard Point im Schein einer kaputten Neonleuchte. Ein subtiler, aber stetig vibrierender Lichtimpuls, mit dem man zu leben lernt, obwohl man weiß, dass er irgendwann einen Anfall oder ein Aneurysma auslöst.
Der Duft von frischem Kaffee zieht nach oben. Laura ist in der Küche, die sich fünf Stufen tiefer auf der Rückseite des Hauses befindet. Unser verwildertes Gärtchen ist noch stockdunkel. Sie hat mir einen Becher eingeschüttet und wickelt gerade ein Sandwich in Folie. Ich küsse sie hinter das rechte Ohr und atme ihren buttrigen Geruch ein. »Endlich habe ich das Hausmütterchen, das ich mir immer gewünscht habe. Ich sollte dich öfter allein lassen.« Die Haut an ihrem Hals spannt sich, als sie lächelt.
»Das sind die Hormone. Gewöhn dich bloß nicht dran.«
»Versprich mir, wieder ins Bett zu gehen, wenn ich weg bin.«
»Versprochen«, sagt sie, aber ich kenne Laura. Ich hatte gehofft, die Schwangerschaft würde sie ein bisschen dämpfen, aber die Hormone scheinen sie nur noch weiter anzutreiben, und sie powert durch den Tag, bis sie gegen neun Uhr abends irgendwo in sich zusammensackt. Sie wischt die Arbeitsplatte mit einem Schwamm ab und wirft die leeren Kaffeekapseln in den Müll. Sie steht mit dem Rücken zu mir und vollzieht eine winzige Handlung, die für jeden anderen bedeutungslos wäre, mir aber einen Stich versetzt. Sie streicht zweimal über ihre nackten Unterarme, als würde sie imaginäre Spinnweben wegwischen. Es ist Monate, wenn nicht Jahre her, seit ich es zuletzt gesehen habe, und es bedeutet immer, dass sie an Beth denkt. Ich wünsche mir zum millionsten Mal, sie wäre ebenso diszipliniert wie ich, wenn es darum geht, wie die Vergangenheit unsere Zukunft beeinflussen kann. Warum Energie an etwas verschwenden, das vielleicht nie passiert? Und doch verhält sie sich so bei jeder Sonnenfinsternis, obwohl es neun Jahre her ist, dass wir überhaupt etwas von Beth gehört haben. Sie dreht sich um, lächelt zu breit, setzt ihr tapferes Gesicht für mich auf. Sie weiß nicht, dass ich die Bewegung an den Armen gesehen habe. Vielleicht hat sie es selbst nicht einmal bemerkt.
»Was steht heute bei dir an?«, frage ich, um ihre Stimmung auszutesten.
»Einen Klienten anrufen. Und heute Nachmittag wollte ich mich an die Einkommensteuer machen. Was steht heute bei dir an?«
Der Scherz macht mir Mut. Wenn sie vor einem Zusammenbruch steht, verliert sie als Erstes ihren Sinn für Humor.
Mein Rucksack ist seit drei Tagen gepackt. Die Kameraausrüstung, Objektive, Ladegeräte und Stativ, Batterien und wasserdichte Hüllen machen die...
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