Schweitzer Fachinformationen
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Das Eye Hotel punktet mit georgianischen Sprossenfenstern, geschmackvoll angeordneten Pflanzen und glänzend polierten AA-Sternen. Man kennt uns dort gut und gerät in Panik, weil sie befürchten, sie hätten unsere Reservierung verschlampt.
»Marianne!«, sagt Nancy am Empfang. »Habt ihr gebucht? Ich habe kein Zimmer frei .«
»Wir sind nur zum Essen hier. Habt ihr einen Tisch für uns?«
Auf ihrem Gesicht macht sich Erleichterung breit. »Für euch doch immer. Wie geht's deiner Mum?«
»Eigentlich unverändert. Danke, dass du fragst.«
Das Restaurant ist mit alten Gemälden geschmückt, und es gibt Vorspeisen für zehn Pfund, um Touristen und die Londoner Schickeria glücklich zu machen; Ralph-Lauren-Hemden und rote Chinos, so weit das Auge reicht. Sam und ich fügen uns nahtlos ein. Jesse würde niemals hierherkommen. Wenn ich Sam von Jesse fernhalte, schütze ich Jesse auch vor meinem jetzigen Leben. Er weiß natürlich, was ich mache, soll aber nicht das ganze Ausmaß der sozialen Unterschiede sehen: dass ich nach den Maßstäben unserer Kindheit reich bin. Du schuldest mir was, hatte er vor Jahren gesagt. Das war, bevor ich zu Geld kam, aber die Überzeugung gilt noch immer, genau wie meine angebliche Schuld. Heutzutage schütze ich Jesses Stolz, indem ich meine eigenen Annehmlichkeiten herunterspiele und mitfühlend nicke, weil er es so schwer hat und vom Gehalt eines Sanitäters Alimente für die Kinder so vieler verschiedener Frauen zahlen muss. Jesse wird schnell obsessiv und geht in die Defensive, brütet ewig über dahingeworfene Bemerkungen und eingebildete Kränkungen. Damit unser spinnwebdünnes Vertrauen überlebt, muss er mir auf Augenhöhe begegnen. Unsere Beziehung ist durchzogen von Bruchlinien aus Geld und Sex, Täterschaft und Schuld. Letztlich läuft es nur auf eins hinaus: Das Leben, das ich jetzt führe und von dem Jesse ein gewaltiger und zugleich winziger Teil ist, wurzelt in der Tatsache, dass ich das Geld benutzt habe, um ihn zu verlassen.
Natürlich könnte jeder, der ein bisschen Ahnung hat, den Umsatz von Thackeray & Khan recherchieren, aber dafür fehlte es Jesse immer an Energie; das gehörte auch zu den Dingen, die mich irgendwann frustriert hatten. Ein Blick auf unser Haus in der Noel Road, und er hätte sofort gewusst, wie weit wir uns voneinander entfernt hatten, aber er hasst London zu sehr, um mich zu besuchen.
»Ich nehme den farcierten Krebs«, sagt Sam und legt entschlossen die Speisekarte weg. Ich bestelle den Salat aus Roter Bete und Feta und ein großes Glas Cabernet Sauvignon. Als Sam auf die Toilette verschwindet, bedeute ich Nancy, es nachzufüllen. Sam überprüft im Restaurant nie die Rechnung, während ich sie beim Hinausgehen unwillkürlich überschlage, ein Überbleibsel meiner Kindheit, in der meine Mutter die Preise lautlos mitsprach, bevor sie irgendetwas in den Einkaufswagen legte. Ich klappe die maßgeschneiderte Handyhülle auf, die Honor mir geschenkt hat, das Wort »Vaterkomplex« in gestochener Schrift auf himmelblauem Kalbsleder. Aus Gewohnheit schaue ich auf ihr Instagram, bevor ich meine Mails abrufe. Sie hat mit ihren fünftausend Followern zwei neue Bilder geteilt: eine Karte der Strecke, die sie heute Morgen gelaufen ist, sechs Kilometer über den Thames Path. Eine anständige Strecke, weder zu lang noch zu kurz, obwohl mir die Route nicht gefällt, da sie durch die Sozialsiedlungen und Hinterhöfe von Kennington führt. Dazu ein stark bearbeitetes Foto von Avocadopüree auf Sauerteigbrot, in dem jemand eine Zigarette ausgedrückt hat. Sie hat es mit ihrem Namen getaggt, also ist es eines ihrer Werke, und ich verdrehe die Augen, obwohl mich niemand sieht. Wer glaubt, ich könnte unserer Tochter nicht objektiv begegnen, muss mich nur nach meiner Meinung über ihre Kunst fragen. Trotzdem. Nichts Besorgniserregendes. Sie ist »gefestigt«, wie es ihre Psychiaterin ausdrücken würde.
Abgesehen von einigen Memos ist mein beruflicher E-Mail-Account leer. Ich habe ihn ohnehin nie für persönliche Zwecke verwendet, und die Mails meiner Studierenden werden umgehend an Amanda weitergeleitet. Es ist seltsam, mitten im Semester nicht zu wissen, wie viele Studienanfänger es gibt, und nicht an die Doktorandinnen zu denken, die ohne meine Aufsicht still vor sich hin arbeiten.
Ich lege das Handy mit dem Display nach unten und atme tief durch. Ich kann das. Ich kann nach Nazareth zurückkehren. Warum auch nicht? Das Gebäude dürfte komplett entkernt sein. Sein besonderer Charakter liegt in der Außenansicht, und die verbliebenen Beweise dürften allesamt verschwunden sein. Der Uhrturm könnte schwierig werden, je nachdem, wo sich die Wohnung befindet, aber ich muss ihn ja nur zweimal täglich sehen. Wenn Sam fährt, mache ich die Augen zu, und wenn ich selbst am Steuer sitze, konzentriere ich mich auf die Einfahrt und schaue nicht nach oben.
Sam setzt sich und trinkt von seinem Bitter, als wäre es ein guter Wein. »Du siehst jetzt viel besser aus.« Ich verschlucke ein saures Aufstoßen, und er bemerkt mein Glas, das nachgefüllt und schon wieder halb leer ist. »Sieht aus, als müsste ich fahren.«
»Danke. Ich komme mir ein bisschen albern vor.« Er streckt mir die Hand entgegen. Nur wenige Männer haben schöne Hände, Sam gehört dazu. Seine Nägel sind einer der Gründe, weshalb ich mich in ihn verliebt habe; er lässt sie einmal wöchentlich maniküren und polieren. Seine Hände waren das Erste, was mir an ihm aufgefallen ist, als ich ihn unter der hohen Decke der Bibliothek des Royal Institute of British Architects am Portland Place zum ersten Mal gesehen habe. Seine Finger strichen über meine, als wir nach demselben Buch griffen, einem trockenen, leinengebundenen Ziegelstein über den europäischen Rationalismus in der Architektur. Ich schrieb seit einigen Monaten an meiner Doktorarbeit und war wie berauscht von Jugendstil und der Pariser Metro; Sam arbeitete an den ersten Phasen einer neuen Kirche und ließ sich von den geschwungenen Linien in Gaudís Barcelona inspirieren. »Ladys first«, er reichte mir das Buch und blieb auch höflich, als ich die zwei Kilo Sekunden später auf seinen Fuß fallen ließ. »Es ist nicht nötig, die Konkurrenz gleich zum Krüppel zu machen«, sagte er. Als er es mir zurückgab, bemerkte ich seine glänzenden eckigen Nägel, und im weiteren Verlauf des Tages sah ich, wie sich seine Hände behutsam um einen Kaffeebecher schlossen, den Stiel eines Weinglases stützten, einen Kognakschwenker umfassten. Wochen später legten sich die Finger um die Klinke meiner Schlafzimmertür. Sams gepflegte Hände und wohlüberlegte Berührungen eröffneten mir ein Leben voller Ordnung und Fürsorge, und ich brauchte nur zuzugreifen. Es war, als könnte ich mich endlich setzen, nachdem ich zeitlebens auf den Füßen gewesen war.
In einem seltenen Augenblick betrunkener Klarheit erzählte mir Mum, sie habe sich in meinen Vater auch wegen seiner schönen Hände verliebt. Ich muss mich auf ihr Wort verlassen.
»So«, sage ich und ziehe meine Hand weg. »Das passt nicht zu dir.«
»Farcierten Krebs zu bestellen?«
»Zugegeben, das ist gewagt, aber . du weißt, was ich meine. Spontan sein.« Ich verstecke meinen Ärger hinter finanziellen Argumenten. »Können wir uns das leisten?« Ich habe mich mit meinem Glück abgefunden, ihm aber nie so ganz vertraut.
»Wenn wir aufpassen, schon. Es ist nicht so viel teurer als dieses Hotel.« Er deutet nach oben zu den Zimmern. »Gut, in diesem Jahr ist kein Urlaub drin, aber wenn du wieder arbeitest, trägt sich die Wohnung selbst. Dein Sabbatical wird ja nicht ewig dauern.« Dann wird ihm klar, was er gesagt hat. Meine Karrierepause wird so lange dauern, wie meine Mutter am Leben ist. »O Gott, Marianne, das tut mir leid. Das war ungeschickt von mir.« Ich tue es mit einer Handbewegung ab. Er weiß, dass ich weiß, wie es gemeint war.
»Vielleicht war das Sabbatical ohnehin eine schlechte Idee.« Das war es nicht, sondern nur ein offizieller Name für das, was ihm vorausgegangen war: der viele Sonderurlaub, die Studierenden, die vor meinem Büro warteten, wenn ich unterwegs nach Nusstead oder zu Honor war, wo immer sie gerade sein mochte. »Ich kann morgen anrufen und fragen, ob Amanda mich für zwei Tage in der Woche zurücknimmt.«
»Marianne. Die Arbeit läuft dir nicht weg. Aber du hast nur eine Mutter. Bleib bei Debbie. Schenk ihr diese Monate.« Der Drang zu weinen, ist stark, aber auch mein Gegenreflex. Die Tränen bleiben, wo sie sind.
Man serviert unser Essen. Sam knackt die Schere seines Krebses, und sie riecht nach Meer, nach seltenen Kindheitsausflügen an die Küste. Mein Salat wirkt dagegen dünn und wenig verlockend.
»Wenn du jetzt sagst, dass du das Falsche bestellt hast und mit mir tauschen willst, verlasse ich dich«, sagt er, ohne aufzublicken.
»Könnten wir halbe-halbe machen?« Ebenso resigniert wie geübt schaufelt er sein halbes Essen auf meinen Teller, und ich kippe eine Masse aus Karminrot, Weiß und Grün auf seinen.
»Oh, Moment mal.« Die Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag. »Die Familientherapie.«
»Ich hab mich drum gekümmert«, sagt er. »Dr. Adil meint, sechs Wochen würden uns nicht schaden. So hätten wir vielleicht auch Zeit, um das, was wir bisher besprochen haben, zu verarbeiten. Sie wird natürlich die Einzelsitzungen mit Honor weiterführen. Ich dachte, du wärst erleichtert.«
Erleichterung ist gar kein Ausdruck. In den vergangenen Monaten haben wir zu dritt in einem Behandlungszimmer gesessen und über Konzepte wie Co-Abhängigkeit, Vermaschung und weitere Euphemismen für meine angebliche Unfähigkeit, die Kontrolle...
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