Kapitel 1
Abby starrte in die kalten, unbestechlichen Tiefen des Spiegels bei ihrem Frisör. Als hätte sie nicht schon genug Probleme, war sie sich jetzt völlig sicher, dass sie neue Falten um ihre Augen herum sah. Mit dem Altwerden verhielt es sich wie mit dem St.-Andreas-Graben, dachte sie erbost: Man wusste einfach nie, wann und wo die nächste Falte kam. Ihr vierzigster Geburtstag war der Beginn des Niedergangs gewesen, das stand eindeutig fest. Seither - seit nunmehr unglaublichen zwei Jahren - hatte sie das Gefühl, dass es mit ihrem Gesicht unaufhaltsam den Bach hinunterging.
Neben ihr stand Cherise, die dachte, dass Abby in Wirklichkeit noch attraktiver aussah als im Fernsehen, und begutachtete kritisch das gerade geschnittene Haar.
Wie alle anderen Angestellten in Giannis Salon war auch Cherise blutjung, bildhübsch und trug die Uniform des Ladens, die aus einer schwarzen Hüfthose, einem hauteng anliegenden T-Shirt und einem Nabelring bestand. Abby löste ihren neidischen Blick von Cherises flachem, solarium-gebräunten Bauch und sah lächelnd in den Spiegel. Unweigerlich lächelten die Falten mit. Trotz ihrer schicken neuen Frisur, ihrer eleganten Bluse von Armani und der Bewunderung all derer, die sie erkannt hatten und sie, während sie so taten, als wären sie in ihre Zeitschriften vertieft, mit heimlichen Seitenblicken beschossen, hatte Abby einen Kloß im Magen. Gott, sie wurde wirklich alt. Und sie sah alt und müde aus. Zweiundvierzig. Das klang bereits uralt. Egal, ob andere erklärten, sie bilde sich das Altwerden nur ein.
»Gefällt es Ihnen?«, fragte Cherise mit leicht besorgter Stimme.
»Danke, Cherise, es gefällt mir sogar sehr«, antwortete Abby freundlich und schämte sich dafür, dass sie nicht sofort eine nette Reaktion gezeigt hatte.
Abby war stets zu allen Menschen freundlich. Das, sagten die Leute von Entrümpeln Sie Ihr Heim und Leben, machte einen Großteil ihres Charmes und zweifellos auch ihres Erfolges aus. Es war keine falsche Freundlichkeit, sie war echt. Abby mochte Menschen und wurde von ihnen gemocht. Die Einschaltquoten von Entrümpeln waren dafür ein überzeugender Beweis. Im Verlauf von bisher nur zwei Sendestaffeln hatte Abby Barton die Verwandlung von einer Mutter mit einem bescheidenen Nebenjob zum Fernsehstar geschafft.
Ihr vor kurzem gegründeter privater Entrümpelungs-Service konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Es wurde darüber gesprochen, ob Abby nicht ein Buch zu ihrer Serie schreiben könnte, und bald fingen die Dreharbeiten für die dritte Sendestaffel an. Sowohl die Fernsehmacher als auch die Zuschauer hatten sie ins Herz geschlossen. Die Bank schickte der Familie statt strenger Mahnungen freundliche Weihnachtsgrüße, und manchmal winkten ihr völlig fremde Menschen, wenn sie an ihr vorbeifuhren, hysterisch aus ihren Autos zu.
Trotzdem war sie noch ganz die Alte. Wie Abby ihren engsten Freundinnen gestand, wartete sie nur darauf, dass die Leute merkten, dass sie eine Hochstaplerin und ihr die plötzliche Bekanntheit und der gleichzeitige relative Reichtum völlig unverdient zugefallen war.
»Ruhm ist etwas Vorübergehendes - fehlendes Selbstvertrauen aber hat man ewig«, hatte sie einmal scherzhaft gesagt, und die anderen hatten schallend darüber gelacht.
»Niemand könnte je behaupten, dass dir dein Erfolg zu Kopf gestiegen wäre«, sagte dazu ihr Mann Tom, was aus seinem Mund als großes Lob zu werten war.
Tom hatte zerzauste dunkle, inzwischen grau melierte Haare, ein schmales, intelligentes Gesicht, eine randlose Brille und, da er anders als Abby nie der Versuchung von Keksen oder mehr als einem Gläschen Wein zum Essen erlag, eine schlanke, hoch gewachsene Figur. Mit seiner puritanischen Strenge war er wie geschaffen für die Stelle des stellvertretenden Schulleiters, die er bekleidete, hegte allerdings auch gleichzeitig eine tiefe Abneigung gegen jeden, der womöglich seine asketischen Maßstäbe verlor.
Er hätte es außerdem gehasst, wenn aus der liebenswerten, leicht verrückten Abby eine von Kleidern, Autos und Urlauben besessene Karrierefrau geworden wäre.
Intellektuell brillant, doch zugleich ein wenig weltfremd, war ihm nie bewusst gewesen, dass Abby heimlich immer schon gern Geld für ihre Frisur ausgegeben hatte oder für ein im Grunde unerschwingliches Make-up. Und dass einer der Vorteile ihres jetzigen finanziellen Erfolges der war, dass sie die Kosten für den neuen Haarschnitt und für neue Kleider nicht mehr dadurch vor ihm verschleiern musste, indem sie sich im Supermarkt für billigeres Fleisch und Sonderangebote entschied. Wenn Tom eine Ahnung davon hätte, was sie für den heutigen Besuch bei Giannis bezahlte, hielte er ihr garantiert eine Predigt über Sparsamkeit. Das wusste sie genau.
Geld war neuerdings ein Streitthema in der Familie Barton. Nachdem sie über Jahre hinweg gezwungen gewesen waren zu sparen, hatte Abby angenommen, ihre neue Einkommensquelle würde ihnen das Leben deutlich erleichtern. Stattdessen machte das nun vorhandene Geld es in gewisser Hinsicht sogar schwerer. Tom sah sich nämlich unverdrossen als Familienvorstand und der Ernährer von Frau und Tochter.
Auch wenn er in der Schule als moderner Erzieher mit vielen innovativen Ideen galt, hielt er bei sich zu Hause an der traditionellen Rollenverteilung fest. Trotz ihrer zunehmenden Arbeitsbelastung erledigte Abby auch weiter alle Einkäufe und die Wäsche ganz allein. Langsam begann diese einseitige Regelung sie zu stören. Doch sie wusste, dass Tom Schwierigkeiten mit der Tatsache hatte, dass seine Frau mehr verdiente als er.
»Ich finde, die etwas fedrigeren Enden stehen Ihnen fabelhaft«, sagte jetzt Cherise und schüttelte die feinen Haare mit den Fingern noch ein wenig auf. »Sie schmeicheln dem Gesicht.« Dann trat sie lächelnd einen Schritt zurück und bewunderte ihre berühmte Kundin aus der Distanz. »Wissen Sie, damit wirken Sie viel jünger!«
Prompt erinnerte sich Abby daran, dass sie selbst genau diesen Satz von sich gegeben hatte, als ihre Tante Sadie nach fünfzig Jahren endlich ihren leuchtend roten Lippenstift zugunsten eines warmen Pinktons gewechselt hatte. Die weißhaarige Sadie hatte ihren Mund ohne den schmalen, leuchtend roten Strich missbilligend im Spiegel betrachtet. Zwar hatte sie sich durch den Farbwechsel nicht verändert und nach wie vor wie sechsundsiebzig ausgesehen, aber die Farbe ihres neuen Lippenstifts hatte einfach besser zu ihr gepasst. Die jugendliche Cherise sah Abby sicher ähnlich wie Abby ihre Tante Sadie: als zähes, gegen das Alter ankämpfendes Schlachtross. Alles Geld und aller Ruhm der Erde würden das nicht ändern.
Wenig später schleuderte Abby die Tüte mit den Haarpflegeprodukten in den Kofferraum des schimmernd schwarzen Allradfahrzeugs, dessen Kauf fast einen Krieg im Hause Barton heraufbeschworen hatte, öffnete die Fahrertür, schwang sich hinter das Lenkrad und blinzelte kritisch in den Spiegel. Ihre Haare waren wirklich gut geworden, fand sie. Durch die viel diskutierten, kastanienbraunen Strähnen wurde das Meergrün ihrer Augen vorteilhaft betont.
Ein Passant lugte zu ihr in den Wagen. Abby bemerkte das ihr inzwischen vertraute Aufflackern in seinen Augen, bedachte ihn mit einem kurzen, professionellen Lächeln und ließ eilig den Motor an. Sie hoffte, sie wäre aus der Parklücke heraus, bevor der Mann erkannte, dass er keine Bekannte angelächelt hatte, sondern Fernsehberühmtheit und Selbsthilfe-Guru Abby Barton.
Es schockte sie geradezu, wenn die Menschen sie erkannten. Achtzehn Monate nach ihrer ersten Sendung hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt, dass völlig fremde Leute sie im Supermarkt freundlich nickend grüßten.
Wenn Abby von ihrer Tochter Jess begleitet wurde, gab diese für gewöhnlich irgendwelche giftigen Kommentare zu den fiktiven Überlegungen der Leute ab.
»Was macht die denn hier im Supermarkt? Haben berühmte Leute nicht irgendwen, der für sie die Einkäufe erledigt?«, oder ähnliche Dinge grummelte Jess dann vor sich hin, worauf Abby den Einkaufswagen glucksend vor Heiterkeit die Gänge hinunterschob. »Und guck dir nur mal diese Hose an. Ich dachte, so große Fernsehstars würden im Geld schwimmen. Aber die hier läuft mit einer durchlöcherten Jogginghose in der Gegend herum. Geradezu skandalös.« Mit ihrer spitzen Zunge und ihrem ausgeprägten Blick für komische Situationen schaffte der Teenager es regelmäßig, Abby das Gefühl zu vermitteln, als wäre es tatsächlich lustig, allerorts von Fremden angeglotzt zu werden. Wenn sie jedoch allein war, fand Abby die Begegnungen mit völlig Fremden oft alles andere als amüsant - vor allem, da die Menschen, wie Abby zu ihrer Überraschung herausgefunden hatte, offenbar die Auffassung vertraten, dass gegenüber berühmten Leuten, selbst wenn sich deren Ruhm eher bescheiden ausnahm, nicht mal ein Mindestmaß an höflicher Distanz geboten war.
Eines Tages hatte sie vor dem Regal mit Hygieneartikeln gestanden und müde überlegt, welche Sorte Tampons sie aus dem Riesensortiment auswählen sollte, als sie unvermittelt von hinten angesprochen worden war: »Wow! Dem Fernsehen nach hätte ich Sie viel jünger geschätzt. Anscheinend verwenden die dort wirklich erstaunliches Make-up.«
In der Minute hatte es Abby große Mühe gekostet, ihre legendäre Freundlichkeit nicht zu verlieren. Mit zusammengebissenen Zähnen hatte sie geknurrt: »Allerdings. Und davon nehmen sie stets eine Jumboportion«, wahllos die erste Tamponschachtel, die ihr in die Hand gefallen war - natürlich die falsche -, in ihren Korb geworfen und sich eilig aus dem Staub gemacht. Es war nicht immer leicht, wenn man berühmt war. Das stand eindeutig fest.
Als sie die Stadt hinter sich...