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»Seid ihr die Kollegen aus Kempten?«, erkundigte sich ein Streifenpolizist durch das leicht geöffnete Fenster seines Einsatzfahrzeugs, das quer vor dem Eingang der Arena stand und den Zugang blockierte. Anna nickte. Daraufhin winkte er einen Kollegen zu sich. »Peter, die Kripo aus Kempten ist da. Bringst du sie bitte zum Tatort? Ignatz ist oben!«
»Na klar. Folgen Sie mir bitte. Ich fahre vor.«
Anna verstand nicht. Wohin sollten sie denn jetzt fahren? Sie standen doch schon vor der Arena. Und wer bitte war Ignatz?
»Wo will er denn mit uns hin?«, fragte Lukas ungehalten. Er rieb sich die verkrampften Beine.
»Er wird schon wissen, was er tut. Immerhin kennen die den Tatort besser als wir!« Leopold war froh, dass Anna hinterm Steuer saß. Sein Kopf pochte so sehr, dass ihm noch immer schlecht war. Die Bremslichter des Streifenwagens vor ihnen erloschen und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Anna trat ebenfalls aufs Gas und der Mini machte einen Satz nach vorne.
»Ho, ho, ho!«, riefen Leopold und Lukas wie aus einem Mund. »Fahr doch bitte ein wenig gefühlvoller an. Da wird einem ja übel.« Lukas war ebenfalls nicht in bester Verfassung.
»Das könnte an gewissen weinartigen Substanzen liegen, die ihr zu euch genommen habt«, antwortete Anna und Leopold hörte in ihrer Stimme einen leichten Anflug von Schadenfreude.
Die Straße ging in engen Serpentinen steil bergan und sie gewannen schnell an Höhe. Von hier hatte man eine perfekte Aussicht auf das von Straßenlaternen und Lichterketten beleuchtete Garmisch-Partenkirchen. Nach einer weiteren Kehre bog der Streifenwagen auf einen schmalen Wiesenweg ab, an dessen Ende sich ein großer Parkplatz befand. Das Blinken der Blaulichter von Feuerwehr und Polizei, deren Fahrzeuge hier in Reih und Glied nebeneinanderstanden, spiegelte sich auf dem nassen Asphalt.
Lukas blickte aus dem Seitenfenster. Jetzt erkannte er, wo sie waren. Sie waren um die Anlage herumgefahren und nun lag die riesige futuristisch anmutende Olympiaschanze direkt vor ihnen.
»Wow, aus dieser Perspektive habe ich die noch nie gesehen.« Lukas war ein begeisterter Skisprungfan und hatte schon einige Wettkämpfe live verfolgt. Von den Zuschauerrängen sahen die Schanzen allerdings immer viel kleiner aus als jetzt, wo man direkt davorstand.
Mit offenem Mund blickte er staunend auf den riesigen Turm. Die kleineren Trainingsschanzen sahen dagegen wie Spielzeug aus.
Sie folgten dem Beamten, der sie hergeführt hatte, über einen schmalen Pfad zu einer taghell erleuchteten Stelle hinter den Schanzentürmen. Leopold hatte Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren. Nach der kurvenreichen Fahrt mit dem Magen voll Glühwein war er kalkweiß im Gesicht und ihm war schwindelig.
»Grüß Gott. Ignatz Schraudolf von der Schupo Garmisch. Ich leite hier die Polizeiinspektion.«
Ignatz Schraudolf führte die Garmisch-Partenkirchner Wache seit mehr als zwei Jahrzehnten. Der korpulente Beamte mit dem hohen Haaransatz und der viel zu kleinen Uniformjacke war bei der hiesigen Bevölkerung beliebt. Mit seiner behäbigen, aber liebenswerten Art hatte er schon manchen handfesten Wirtshausstreit geschlichtet. Außer ein paar Kavaliersdelikten war in seinem beschaulichen Kurort während seiner Amtszeit nicht viel passiert. Das große Verbrechen war hier nicht zu Hause. Allerdings war er bei Bergunglücken, die doch recht häufig vorkamen oft nicht sicher, ob nicht Fremdverschulden im Spiel war. Mord am Berg war ein nahezu spurenloses Geschäft. Oft lief es so:
Zwei Wanderer laufen auf einem schmalen Pfad. Einer sagt: »Schau mal dort unten.«
Der andere sagt: »Wo?«
Der eine sagt: »Da, weit unten im Steilhang!«
Der andere stellt sich an die Kante blickt hinunter und sagt: »Ich sehe nichts.«
Der eine sagt: »Noch nicht, aber gleich.«
Der andere sagt nichts mehr.
Der eine geht weiter.
Ignatz Schraudolf selbst verfolgte solche bösen Gedanken nicht. Er war glücklich verheiratet, hatte zwei erwachsene Kinder und seine Frau arbeitete auf dem Gemeindeamt. Er war allerdings immer etwas schlecht gelaunt, wenn die Kollegen aus dem Kriminalkommissariat eingeschaltet wurden. Das bedeutete entweder Ärger oder viel zusätzliche Arbeit. Beides Dinge, die Ignatz nicht unbedingt mochte.
Anna schüttelte ihm die Hand und stellte sich als Erste vor. »Anna Zähler.« Mit mitleidiger Miene schaute sie zu Lukas und Leopold hinüber, die kein Wort sagten. Den beiden ging es wohl wirklich nicht gut. Schließlich ergänzte sie: »Ich darf Ihnen meine charmanten Kollegen Kriminalhauptkommissar Leopold Geiger und Lukas Müller von der Spurensicherung vorstellen.«
Lukas erwachte als Erster aus seiner Lethargie.
»Lukas Müller. Grüß Gott, Herr Schraudolf.«
»Und Sie sind dann vermutlich der Herr Geiger«, stellte Ignatz Schraudolf fest und reichte Leopold die Hand.
Leopold sagte zunächst nichts, fing plötzlich an zu würgen und spuckte seinen Mageninhalt vor die Füße des Inspektionsleiters, der mit offenem Mund vor ihm stand und noch immer seine Hand drückte. »Angenehm! Leopold Geiger«, antwortete er schließlich. »Jetzt geht's besser. Sorry, aber das musste raus. Ich hoffe es ist nichts auf Ihren Schuhen gelandet. Sieht aber nicht so aus. So, was haben wir denn hier?«
Anna verzog das Gesicht und Lukas konnte sich vor Lachen kaum auf den Beinen halten.
»Leopold, Glühwein ist auf jeden Fall ein Getränk, das du in größeren Mengen in Zukunft meiden solltest«, stellte er fest und schlug seinem Kollegen auf die Schulter.
»So hat mich ein Kripo-Beamter auch noch nicht begrüßt«, stellte Ignatz Schraudolf konsterniert fest. »Schön, dass es Ihnen besser geht«, sagte er naserümpfend. »Sie sind also die Vertretung für unsere kranken Kollegen. Willkommen in Garmisch.« Er deutete auf den Weg vor ihnen. »Bitte folgen Sie mir. Ich zeig Ihnen, was passiert ist.«
Sie folgten ihm hinter einen Felsvorsprung, wo das ganze Ausmaß der Detonation deutlich wurde.
»Was ist das? Beziehungsweise: Was war das?«, wollte Leopold wissen.
»Der Wasserspeicher für die Beschneiungsanlage. Viel ist nicht mehr übrig.« Ignatz Schraudolf zeigte auf den Ort der Verwüstung. »Vor Kurzem wurde die Beschneiungsanlage erweitert. Man hat Wasser aus einem nahegelegenen Bach entnommen und hier an dieser Stelle in einen unterirdischen Speicher geleitet. Über dem geschlossenen Becken wurde ein kleiner eingeschossiger Betonbau mit Flachdach errichtet. In diesem war die Pumpe und einige weitere Apparaturen verbaut.«
Anna, Lukas und Leopold blickten sich um.
Mitten in der Natur lagen überall verstreut Beton- und Eisenteile. Sie konnten nur noch die Überreste der Beckeneinfassung erkennen, der Rest war bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Unter dem Berg von Schutt flackerte eine LED-Leuchte.
»Herr Schraudolf, würden Sie jemanden bitten, den Strom abzuschalten? Sonst gibt es noch ein weiteres Unglück.«
»Geht klar«, antwortete er, verließ den Tatort und steuerte auf einige Männer zu, die weiter unten im Schanzenauslauf in einer Gruppe zusammenstanden.
Nachdem sich sein Magen vom restlichen Glühwein befreit hatte, fand Leopold langsam zu seiner alten Form zurück und konnte wieder klare Gedanken fassen. »Ob das wirklich ein Anschlag war oder eher ein technischer Defekt?«
Anna blickte auf die stilvoll gemauerte, halbrunde Zuschauertribüne unten im Schanzenauslauf, die im Halbdunkel noch gut zu erkennen war.
Lukas folgte ihrem Blick. Er wusste, dass die Skisprunganlage mit den Jahren immer wieder vergrößert und optimiert wurde. Um die wachsende Zahl von Zuschauern unterzubringen, wurden die Tribünen für die Wettkämpfe mit Stahlgerüsten erweitert. Dies bescherte den Skisprungfans regelmäßig kalte Füße, weil der Untergrund nur aus einem Gitterrost bestand. Lukas war auf so etwas stets vorbereitet. Er brachte sich bei solchen Örtlichkeiten immer eine kleine Styroporplatte mit, die unter die Füße gelegt wurde, um der Kälte ein wenig Einhalt zu gebieten. »Ich glaube nicht, dass es ein technischer Defekt war«, sagte er schließlich. »In so einem Pumpenhaus befindet sich nichts, was so einen Schaden anrichten kann.«
Leopold schüttelte den Kopf und sagte: »Aber wer macht denn so etwas? Die Beschneiung für eine Skisprungstadion lahmlegen. Die Explosion muss ja kilometerweit hörbar gewesen sein.«
»Ein Gegner des Sports vielleicht?«, spekulierte Anna.
Ignatz Schraudolf kam mit einem Mitarbeiter der Skisprungarena zurück zur Basis des Schanzenturms. »Der Strom ist aus.«
»Super! Sagen Sie, Herr Schraudolf, wer hat Sie eigentlich alarmiert?« Anna hoffte einen ersten Anhaltspunkt für ihre Ermittlungen zu bekommen. Die Situation war für sie noch mehr als undurchsichtig.
»Wir sind von Anwohnern in der Nähe der Schanze angerufen worden. Die haben einen lauten Knall gehört und plötzlich waren die Wiese und die Straße rund um deren Anwesen überflutet. Aber der Herr kann Ihnen bestimmt besser erklären, wo das ganze...