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Das Jahr 1859 begann Tolstoj mit dem Vorsatz: Ich muss heiraten - dieses Jahr oder nie, notierte er am 1. Januar in seinem Tagebuch. Eine standesgemäße Kandidatin indes war immer noch nicht gefunden. In den Tagebuchaufzeichnungen des Winters 1857/58 taucht zwar häufig der Name Jekaterina Tjutschewa auf, Tochter des berühmten Dichters Fjodor Tjutschew, doch Tolstoj litt unter einem Zwiespalt der Gefühle wie bei Arsenjewa. Die einzige Frau, bei der er Verständnis spürte, war seine entfernte Verwandte Alexandra Andrejewna Tolstaja. Alexandrine, wie er sie nannte, war Hofdame der Tochter des Zaren Nikolaj I., Großfürstin Maria Nikolajewna. Tolstoj und Alexandrine waren einander bei seinem Aufenthalt in der Schweiz nähergekommen, doch für eine Heirat kam Alexandrine als Frau von vierzig Jahren natürlich nicht in Frage. Wenn Alexandrine doch nur zehn Jahre jünger wäre!, trug er am 11. Mai 1857 in sein Tagebuch ein. Bis ans Ende ihres Lebens - Alexandra Tolstaja starb 1904 in Sankt Petersburg - wird Tolstoj seine Babuschka (Großmutter), wie er sie mehr oder weniger scherzhaft nannte, höher schätzen als andere Frauen und ihr in trauter Freundschaft verbunden bleiben.
Bevor Tolstoj schließlich zum Ehemann wurde, skizzierte er seine Vorstellungen vom Familienleben in einem kurzen Roman. Dieses programmatische Werk mit dem Titel Familienglück, das der Literaturwissenschaftler Boris Ejchenbaum als «antifeministisches Traktat» bezeichnet hat, stellt sowohl eine Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Diskussionen über die Frauenfrage als auch einen Gegenentwurf zum traditionellen Liebesroman dar.
Während sich die progressiven Kreise für die Überwindung veralteter Konventionen einsetzten, die Stellung der Frau in der Gesellschaft erneuern wollten und bessere Möglichkeiten der Frauenbildung forderten, war Tolstoj in der Frauenfrage eindeutig auf der Seite der Konservativen. Auf einer Abendgesellschaft in Petersburg bei Nikolaj Nekrassow, in dessen Kreis ein regelrechter Kult um die französische Schriftstellerin George Sand herrschte, rief Tolstoj 1859 allgemeine Empörung hervor, als er erklärte, man müsse die Heldinnen der Romane George Sands, existierten sie tatsächlich, als Mahnung für die Bevölkerung auf den Schandwagen binden und sie durch die Straßen Petersburgs fahren[30].
Im Gegensatz zu George Sand, die sich in Leben und Werk gegen die bürgerlichen Konventionen und die Institution der Ehe auflehnte und in ihrem auch in Russland vielgelesenen Roman «Emanzipation der Gefühle» für gleichberechtigte Beziehungen von Mann und Frau eintrat, sah Tolstoj in den Ideen des Feminismus ein Verbrechen wider die Natur.
In Familienglück entwickelte Tolstoj seinen Lebenstraum von einer glücklichen Ehe. Die Erzählung ist in Form einer Retrospektive der jungen Mascha verfasst. Nach dem Tod der Mutter heiratete die Waise ihren Vormund, den Gutsnachbarn Sergej Michailowitsch. Während der viel ältere Ehemann im ruhigen und produktiven Alltag auf dem Land die Verwirklichung seines Lebenstraums sieht, ist Mascha schon bald von der Eintönigkeit des Landlebens gelangweilt. Sie strebt in das gesellschaftliche Leben der Stadt. In einer Krise erkennt Mascha jedoch, wie egoistisch und beschränkt ihr Streben nach eigenem Glück war, und kehrt geläutert zurück zu ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter.
Die Kritik nahm das Werk freundlich auf, gleichwohl wurde der Schriftsteller von Selbstzweifeln erfasst. An Wassilij Botkin schrieb er: Ich bin nunmehr begraben - als Schriftsteller und als Mensch. [.] Im ganzen Text findet sich kein einziges lebendiges Wort. Und die Hässlichkeit der Sprache, die sich aus der Hässlichkeit des Denkens ergibt, ist unvorstellbar.[31]
In den nächsten Jahren trat Tolstoj denn auch als Schriftsteller nicht mehr in Erscheinung. Ich schreibe nicht, habe seit «Familienglück» nicht mehr geschrieben und werde, wie es scheint, nicht mehr schreiben. Das Leben ist zu kurz, als dass ein Erwachsener es damit verbringen sollte, solche Werke zu schreiben, wie ich es getan habe, das ist beschämend. Ich will, muss und kann etwas Anständiges tun, antwortete er dem Schriftstellerkollegen Alexander Drushinin, der ihn um einen Beitrag für seine Zeitschrift gebeten hatte.[32]
Zunächst konzentrierte er sich ganz auf die Landwirtschaft. Seine Liebe zum Leben auf dem Land galt dabei nicht allein der Feldarbeit. Seit Mai 1858 unterhielt er eine leidenschaftliche Beziehung zu einer seiner Leibeigenen, Aksinja Basykina. «Tolstoj habe ich ein paar Mal gesehen [.]», berichtete Turgenjew 1858 in einem Brief. «Er hat sich ganz der Agronomie hingegeben, schleppt selbst Heu auf dem Rücken, hat sich in eine Bäuerin verliebt und will von der Literatur nichts hören.»[33]
Indem er sich von der Literatur ab- und dem Leben als tätiger Gutsbesitzer zuwandte, schien Tolstoj endlich zu finden, wonach er so lange gesucht hatte. Er fühlte sich eins mit sich und der Welt, beschloss, seine heiligste und wichtigste Verpflichtung müsse die Verbesserung der Lebensbedingungen und Bildungsmöglichkeiten der Landbevölkerung sein, und gründete eine Schule. Das ist es, was nottut, schrieb er Afanassij Fet. Nicht wir müssen uns bilden, sondern wir müssen Marfa und Taras unterrichten und ihnen wenigstens etwas von dem, was wir wissen, nahebringen.[34] Wenige Monate nach Gründung der Schule in seinem Haus zählte Tolstoj bereits fünfzig Schüler - Knaben, Mädchen und Erwachsene.
Sein Unterrichtsprinzip gründete auf völliger Freiheit der Schüler und des Lehrers; allein durch die moralische Autorität des Lehrers sollten die Schüler begeistert und ihr Wissensdurst geweckt werden. «Es gab nichts, was an die Schule erinnerte, die ich selbst besucht hatte, oder an eine, die ich kannte», überlieferte einer der Lehrer, die Tolstoj eingestellt hatte. «Die Kinder saßen meistens zu zweit, selten auch zu dritt oder in größeren Gruppen bis zu fünf Schülern zusammen. Die eine Gruppe las, die andere schrieb Buchstaben oder Wörter, die dritte rechnete, die vierte malte usw. Kurz: Alle beschäftigten sich mit dem, was ihnen leichtfiel und woran sie Gefallen fanden. Und bisweilen hörte man jemanden rufen: »[35]
Um seine erzieherische Tätigkeit auf ein modernes theoretisches Fundament zu stellen, reiste Tolstoj im Juli 1860 ein zweites Mal nach Westeuropa. Jedoch war es nicht nur das Interesse an neuen Erkenntnissen, was den für die Pädagogik Begeisterten ins Ausland trieb. Ein weiteres Mal floh Tolstoj vor seinen Gefühlen. Seine mittlerweile über zwei Jahre währende Beziehung zu Aksinja Basykina hatte ganz offensichtlich eine Intensität erreicht, die den Junggesellen überforderte. Im Mai 1860 hatte er im Tagebuch vermerkt, seine Empfindung für sie sei die des Gatten zu seiner Frau[36].
«», wandte Tolstoj sich einmal an seine Schüler: «»[37] Eine Heirat mit einer Bäuerin stand für den sich am einfachen Leben labenden Tolstoj, der doch durch und durch Aristokrat war, gleichwohl außer Frage. Er verließ Jasnaja Poljana und seine Geliebte, obwohl diese von ihm schwanger war.
In Bad Kissingen kam der Schriftsteller zum ersten Mal mit dem deutschen Schulsystem in Berührung und war bestürzt. Entsetzlich. Gebet für den König, Prügel, alles auswendig, verängstigte, seelisch verkrüppelte Kinder.[38] Seine pädagogische Maxime war eine grundlegend andere. Innerhalb der Erziehung ist das Wichtigste Gleichheit und Freiheit, resümierte er im Tagebuch.[39]
Während Tolstoj in Bad Kissingen die Bekanntschaft mit Julius Fröbel machte, dem Neffen des berühmten Pädagogen und Abgeordneten des Frankfurter Parlaments, und sich mit ihm und seinen politischen Weggefährten über die Themen der Zeit austauschte, lag der an Tuberkulose erkrankte Nikolaj, sein Lieblingsbruder, der die Geschwister in der Kindheit mit seinem Erzähltalent gefesselt hatte, nur eine Bahnreise von kaum fünf Stunden entfernt in Bad Soden im Sterben. Mehr als vier Jahre zuvor, zu Beginn des Jahres 1856, war bereits der Bruder Dmitrij in Orjol an der Tuberkulose gestorben. Ich war zu jener Zeit besonders widerwärtig, schrieb Tolstoj in seinen Erinnerungen. Ich fuhr von Petersburg, wo ich Gesellschaften besuchte und meines Ruhmes voll war, nach Orjol. Mitjenka tat mir leid, doch nicht genug. Ich reiste wieder ab, und er starb einige Tage später (Kap. 2). Solche Grausamkeit dem sterbenden Bruder gegenüber konnte Tolstoj sich nicht verzeihen. Und dennoch musste der todkranke Nikolaj selbst nach Bad Kissingen reisen, um seinen Bruder zu sehen. Erst als es mit Nikolaj zu Ende ging, blieb Tolstoj an seiner Seite. Der Tod des Bruders erschütterte ihn tief. Nikolenkas Tod ist der stärkste Eindruck meines Lebens, heißt es im Tagebuch.[40]
In London schließlich, wo er die Bekanntschaft des in englischer Emigration lebenden liberalen Schriftstellers Alexander Herzen gemacht und einen Vortrag des von ihm verehrten Charles Dickens besucht hatte, erfuhr Tolstoj von der...
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