Schweitzer Fachinformationen
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Was ist Heimat?
Vielleicht gab es sie damals in Istanbul, wenn die Sonne aufging und die Fensterläden morgens um sieben in unserer kleinen Straße Hürriyet geöffnet wurden, um die frische Brise vom Bosporus hereinzulassen. Wenn die Teekessel sirrten, die Radios angestellt wurden und auch bei uns aus dem »Koffer-Radio«, einem Apparat so groß wie ein Reisekoffer, leise die Istanbuler Lieder von Dede Efendi erklangen, die mit nur einem einzigen langsamen, schluchzenden Ton beginnen, der sich dann aber - kurz bevor Geige und Trommel einsetzen - aufschwingt, als fliege ein Vogel über die Stadt und das Meer. Ich war sieben oder acht Jahre alt und wartete gern im Nachthemd auf den drei Stufen vor unserem Haus auf Ismet Bey, den Kapitän einer Bosporus-Fähre, der jeden Morgen um die gleiche Zeit das Haus verließ, vor mir seine Mütze zog und mich grüßte: »Guten Morgen, meine Schöne!«
Vielleicht ist Heimat mein Onkel Enischte. Er, der fast so alt war wie die Republik und für mich alles verkörperte, was das Land in all seiner Herzlichkeit, seinem Stolz und seiner Unvernunft ausmacht.
Vielleicht ist Heimat die Familie, das Zusammenkommen zu Geburten, Hochzeiten oder Beerdigungen, das Wissen um die Zugehörigkeit, das Gefühl, da ist jemand, der auf dich wartet.
Vielleicht ist Heimat die Vertrautheit, die aus gemeinsam verbrachten Kindheiten entsteht.
Und doch kann keiner aus meiner Familie einen Ort benennen, an dem er bleiben oder wohin er zurückkehren möchte: weder das kleine Haus meiner Eltern in Zentralanatolien noch Istanbul, Ankara oder Bursa, wo meine Verwandten wohnen; weder Ayvalik, wo sie Ferien machen, noch Niedersachsen, wo meine Geschwister und ich später aufgewachsen sind.
Heimat ist kein Ort.
Mein Onkel Enischte war 13 Jahre alt, als er 1943 aus Zentralanatolien nach Istanbul ging, um dort die Schule zu besuchen. Wie er haben auch meine Eltern und nach ihnen fast alle meine Verwandten Uzun Yayla, das »Weite Tal« bei Kayseri, verlassen. Niemandem ist es schwergefallen wegzugehen, niemand hatte wirklich Wurzeln geschlagen, schon die Eltern oder Großeltern nicht, die aus anderen Gegenden des Landes gekommen und dort angesiedelt worden waren. Zuerst wohnten sie in den verlassenen Dörfern der Armenier. Die Häuser, die sie dann selbst bauten, waren aus Lehm und Stroh, einfach und provisorisch, irgendwann würde man ja doch wieder weggehen.
Wegzugehen, weiterzuziehen scheint für meine Familie wie für die meisten Angehörigen des anatolischen Volkes das Selbstverständlichste der Welt zu sein. Immer wieder verließen sie Höfe, Gärten, Flüsse, Berge. Ganze Dorfgemeinschaften zogen in einen Häuserblock der wuchernden Großstädte, nach Izmir, Istanbul oder Ankara - nicht immer freiwillig; oft wurden sie gezwungen, vom Hunger, vom Militär, vom Mangel. Zurück blieben leere Häuser, Dörfer, die verfielen und verwahrlosten, als sei der Krieg dort durchgezogen.
»Der Türke blickt niemals zurück«, sagte mir Ece Temelkuran, eine türkische Journalistin, bei einem Gespräch in Berlin. Ein Zurück gibt es nicht. »Wen interessiert, woher wir kommen, wohin wir gehen«, sagt der Volksmund. »Das Leben währt drei Tage. Alles ist vergänglich, wir sind hier, um zu sterben. Das Leben ist nichts als eine Prüfung, die Allah uns auferlegt hat.«
Vor vierzig Jahren kam ich als Zehnjährige nach Deutschland. Ich ließ keine Heimat zurück, sondern Kocabasch, Großkopf, meinen Kater. Nicht um Istanbul, um ihn weinte ich. Das Gefühl, mehr noch verloren zu haben, kam erst später. Istanbul war nicht wirklich die Heimat meiner Eltern geworden. Nie waren sie in dieser Stadt heimisch geworden, sie lebten dort wie Besucher aus Anatolien, um zwanzig Jahre später wieder fortzugehen. In Anatolien waren wir Tscherkessen, in Istanbul Anatolier, in Deutschland Türken. Zurück in der Türkei Almancis, Deutschländer. Meine Geschwister und ich sind ratlos, wo wir unsere Mutter beerdigen sollen, wenn sie stirbt. Sie wäre mit keinem Ort, weder hier noch dort, einverstanden. Wenn ich ihr erzähle, dass ich in Pinarbashe war, sagte sie: »Was hast du dort verloren?« Auch Deutschland ist nie ihre Heimat geworden, obwohl sie seit Jahrzehnten hier lebt. Auf sie wartete überall nur die Fremde.
Mein Vater ging nach zehn Jahren wieder zurück nach Anatolien, meine Geschwister - wenn auch aus anderen Gründen - folgten ihm später. Sehnsucht nach Heimat, nach einer Stadt oder nach Freunden war es nicht, was sie zurücktrieb. Entweder mussten sie, wie meine Schwester, die nach Anatolien verheiratet wurde, oder sie wollten es, wie meine Brüder, die sich bessere berufliche Chancen erhofften.
Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen: Die ersten Jahre in Deutschland waren viel zu aufregend, boten zu viel Neues, als dass wir Kinder die Türkei oder die »Heimat« vermisst hätten. Wir waren Teil dieser Gesellschaft und nahmen an allem teil, was sie uns bot. Wir gingen ins Kino, ich spielte im Weihnachtsmärchen des Stadttheaters mit, bis meinem Vater diese Freiheit zu weit ging und er seinen drei Frauen verbot, weiter Kontakt mit den Deutschen zu haben. Ich durfte mit den Klassenkameradinnen nicht mehr gemeinsam Schularbeiten machen, ich durfte nicht mehr schwimmen, ich durfte nur noch an dem teilnehmen, was im Familienkreis stattfand. Meine Mutter traf Verwandte, Vater spielte mit seinen türkischen Bekannten Karten, und aus Weihnachten wurde wieder Ramadan. Von diesem Zeitpunkt an lebten wir getrennt von den deutschen Nachbarn. Nur zu Frau Zizske von nebenan ging ich manchmal. Sie brachte mir bei, gedeckten Apfelkuchen zu backen. »Unsere Eltern auf der einen und die meisten Deutschen auf der anderen Seite haben es uns nicht leicht gemacht, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. Wir mussten und müssen uns aber unbedingt von beiden Seiten emanzipieren«, beschreibt Seyran Ates treffend die Situation.[1]
Unsere kleine Welt wurde eine kleine Türkei. Uns türkische Mädchen überwachte »Big Brother«, die Volkspolizei aus Brüdern, Cousins, Onkeln und Vätern. Wie und wo wir uns bewegten, was wir taten - jede noch so kleine Abweichung vom Vorgeschriebenen wurde flugs in der Gerüchteküche registriert und dem »Volksgericht« der türkischen Verwandten und Bekannten signalisiert. Meine Cousine traf die Höchststrafe für unsittliches Verhalten: Nach einem heimlichen Besuch in einer Discothek, bei dem sie von einem Bekannten ihres Vaters beobachtet wurde, schaffte man sie in die Türkei und verheiratete sie dort.
Uns anderen Mädchen blieb das Leben in der Kälte des Nordens, der uns fortan wie der ewige Winter und die endlose Dunkelheit vorkam. Der einzige Lichtblick waren vier Wochen Ferien im Sommer bei den Verwandten. Ich flüchtete mich in meine Fantasiewelt, ins Bett, zu meinen Büchern und zu meinen Erinnerungen an Istanbul, wo mir die Sonne den Rücken gewärmt, wo immer etwas Schönes auf mich gewartet hatte - ein Eis an der Fähre über den Bosporus, eine kalte Limonade in den Pinienwäldern von Camlica. Oder eben Ismet Bey, der freundliche Kapitän.
Vielleicht ist Heimat sila, die Sehnsucht nach dem Verlorenen, wenn man in der Fremde ist.
Bei meinen Besuchen in der Türkei habe ich nach dieser Nähe, nach Vertrautem gesucht. Es waren »sentimentale Reisen«, die auf das hofften, was es nicht mehr gab. Gleich der erste Versuch schlug fehl. Vor zehn Jahren bin ich mit meinen beiden Brüdern und meiner Schwester nach Kadiköy in Istanbul gefahren, in die kleine Hürriyet Caddesi, die Straße der Freiheit. Wir wollten das Haus unserer Kindheit suchen, ein altes Holzhaus im osmanischen Stil, das am Anfang einer Straße lag, die sanft einen Hügel hinaufführte. Das Haus war abgerissen worden, das Grundstück diente als Parkplatz. Nur ein Rest himmelblauer Farbe an der Brandmauer zum Nachbarhaus erinnerte noch an unser Kinderzimmer. Wer geht, hat den Ort, der einmal Heimat war, für immer verloren.
Bevor ich mich wirklich mit dem Land meiner Herkunft auseinandersetzen konnte, musste ich klären, wohin ich gehöre. Bin ich nun Türkin mit einem deutschen Pass oder eine »türkischstämmige« Deutsche? Schreibe ich in diesem Buch als Türkin über die eigenen Landsleute? Oder als Deutsche? Und woher nehme ich das Recht, als eine, die gegangen ist, über die Türkei zu sprechen?
Aus dem Verlust von dem, was einst Heimat war, kann auch Gewinn werden. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich das erkannte. Denn dafür musste ich eine Menge lernen. Ich habe, als ich hierher kam, Menschen angetroffen, die eine andere Vorstellung vom Leben, von Beziehungen, Politik und Freiheit hatten als meine türkischen Eltern und Verwandten. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich verstanden habe, was Distanz oder Zurückhaltung meinen deutschen Freunden bedeutete: dass Respekt kein Gehorsam, sondern Achtung vor dem anderen ist, dass Zurückhaltung keine Kälte, sondern Höflichkeit ist. Ich musste mich damit auseinandersetzen, wenn ich nicht »fremd« bleiben wollte. Dadurch lernte ich mich selbst besser kennen und überwand allmählich die Angst vor dem Alleinsein.
»Wie kann ich ein >Ich< sein, ohne meine Eltern, mein Land zu verraten?«, fragte mich ein türkischer Jugendlicher bei einem Interview. Muslimische Gesellschaften begreifen sich als unauflösliche Gemeinschaften - jede und jeder ist Teil dieser Schicksalsgemeinschaft. Die entscheidende Frage, nicht nur für die Integration, sondern auch für die eigene Identität, lautet deshalb, ob der Einzelne es schafft, sich von dem verordneten »Wir« zu befreien, ein »Ich« mit einer eigenen Stimme zu werden und sich selbst zu entscheiden,...
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