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AUS EINER ANDEREN DIMENSION
DIE PARALLELWELT DER VIREN
Die mit Abstand größte Bedrohung für die weitere Vorherrschaft des Menschen auf dem Planeten ist das Virus.
- JOSHUA LEDERBERG (1994)
Für die meisten Menschen dürften Viren etwas Unheimliches an sich haben. Einen herannahenden Waldbrand, eine Lawine, eine Springflut oder ein Erdbeben kann man sehen, hören und manchmal auch riechen. Das Gleiche gilt in der Regel für menschengemachte Gefahren, etwa feindliche Soldaten im Krieg oder vorbeifahrende Autos in der Großstadt. Viren dagegen sind unsichtbare Geisterwesen, die sich heimtückisch anschleichen und lautlos töten. Nicht umsonst sind Viren (und andere Krankheitserreger) auch im Krieg und bei biologischen Anschlägen besonders gefürchtet.
Bemerkenswerterweise liegt das nicht an ihrer objektiven Gefährlichkeit - mit biologischer Kriegsführung wurde noch nie eine Schlacht gewonnen, konventionelle Anschläge sind weitaus effektiver. Doch im Verbreiten von Angst und Schrecken sind biologische Kampfstoffe, mysteriöse Krankheitserreger und tödliche Viren kaum zu übertreffen.
Allerdings habe ich noch nie einen Virologen getroffen, bei dem der Gruselfaktor seiner Forschungsobjekte Wirkung zeigt. Wer einem Patienten mit Ebola- oder Lassafieber Blut abnimmt, wird sich natürlich gewissenhaft schützen und darauf achten, keinen falschen Handgriff zu machen. Unter meinen Erinnerungen waren solche Erlebnisse in Westafrika jedoch wesentlich weniger beängstigend als mancher Notarzteinsatz in Deutschland, etwa bei einem Gebäudebrand oder einem Chemieunfall. Das Unbekannte macht dem Menschen Angst und versetzt ihn mitunter in Panik. Großstadtkinder ängstigen sich nicht vor Autos, weil sie gelernt haben, sich im Straßenverkehr richtig zu verhalten. Virologen ängstigen sich nicht vor Viren, weil sie die Gefahr1 einschätzen können und wissen, wie man sich davor schützt. Je mehr Menschen daher das Wesen der Viren verstehen und Schutzmaßnahmen selbst beurteilen können, desto weniger Panik kann eine Pandemie verbreiten. Folgen Sie mir also auf einer kleinen Erkundungsreise in die faszinierende Welt der Viren.
ZWISCHEN LEBEN UND TOD
Um zu verstehen, was Viren sind, müssen wir zuerst einmal verstehen, was wir selbst sind - genauer: wie die Zellen funktionieren, aus denen unser Organismus aufgebaut ist. Rund 30 Billionen dieser kleinsten Einheiten des Lebens machen einen Menschen aus. Da das neue Coronavirus insbesondere die Lunge befällt, soll das Beispiel in Abbildung 1 eine Schleimhautzelle der Atemwege darstellen. Der prinzipielle Aufbau ist bei allen Zellen unseres Körpers ähnlich. Ihre äußere Begrenzung besteht aus einer elastischen, stark fetthaltigen Membran, in der einige Hundert verschiedene Eiweißmoleküle (Proteine) herumschwimmen. Nur eines dieser Membranproteine, der »ACE-2-Rezeptor«, ist in der Zeichnung als Beispiel dargestellt. Was es damit auf sich hat, werden wir uns gleich genauer ansehen.
Eine weitere, innere Membran umschließt den Zellkern. In diesem Tresor werden 46 Chromosomen aufbewahrt - die zentralen Datenspeicher der Zelle. Die X- oder Y-förmigen Gebilde bestehen hauptsächlich aus aufgewickelten DNA-Fäden; unglaubliche zwei Meter sind hier auf winzigem Raum zusammengeknäuelt. Die DNA2 enthält das »Genom« unseres gesamten Körpers, den genetischen Bauplan - von der Zahl der Finger über die Augenfarbe bis zu den neuronalen Netzen des Gehirns. Man kann sie sich als eine lange Kette aus Kugeln mit vier verschiedenen Farben vorstellen. In der Reihenfolge dieser vier Farben sind die Anweisungen für die Herstellung der Proteine verschlüsselt, die wiederum alles steuern, was in unserem Organismus passiert. Wenn die Zelle ein frisches Protein benötigt, fertigt sie zunächst eine Kopie des Teiles der DNA an, auf dem die zugehörige Information hinterlegt ist. Diese Kopie wird RNA genannt, weil sie sich chemisch ein wenig von der DNA unterscheidet. Die RNA verlässt den Zellkern und verbindet sich mit einem der vielen Ribosomen, die sich in dem Raum außerhalb des Zellkerns - dem Zytoplasma - befinden. Ribosomen kann man sich als kleine Roboter vorstellen, die nach den in den RNA-Molekülen verschlüsselten Anweisungen Proteine herstellen.
Ein Teil der Proteine dient als Baumaterial, um der Zelle Stabilität und Struktur zu geben. Andere, die sogenannten Enzyme, regulieren chemische Prozesse. Mit ihrer Hilfe werden alle Funktionen gesteuert, die wir an einem Organismus als »lebendig« wahrnehmen: Verdauung, Bewegung der Muskeln, Reparaturvorgänge, die Zellteilung sowie diverse Spezialfunktionen, etwa die Übertragung elektrischer Signale im Nervensystem.
Und Viren?
Sie können nichts von alledem. Während eine lebende Zelle einer emsigen Fabrikanlage ähnelt, in der es ständig raucht, rumpelt und klappert, ist ein Virus still und unbeweglich wie ein Sarg unter der Erde. Viren verdauen keine Nährstoffe, erzeugen keine Wärme, produzieren keine Proteine und bewegen sich nicht. Sie sind kalt, kristallin und tot. Wenn sie eine Zelle überfallen, tun sie das nicht in einer lebhaften Schlacht, sondern sie wirken heimlich und lautlos wie Gift.
Das gelingt ihnen, weil sie DNA- oder RNA-Moleküle enthalten, die denen der Zelle zum Verwechseln ähnlich sind. Nichtsahnend nutzt die infizierte Zelle den darin verschlüsselten Plan, um daraus ihren eigenen Vernichter zusammenzubauen. Die viralen Proteine stammen aus einer anderen Welt, ihre Evolution hat sich vor Milliarden Jahren von denen der Tiere, Pflanzen, Pilze und Bakterien gelöst. Aus der Perspektive der irdischen Lebewesen sind Viren Aliens aus einem Paralleluniversum, in dem die Gesetze der Biologie keine Gültigkeit haben. Sie konkurrieren mit anderen Kreaturen weder um Futter noch um Sonnenlicht noch um deren Lebensräume. In ihrer fremden Dimension gibt es keine Kommunikation, keine sozialen Beziehungen und keinen Kampf ums Überleben.
Wenn ein Wirt von einem Virus befallen wird (Abbildung 2), ist das für ihn eine Begegnung der dritten Art. Sobald eines der Aliens eingedrungen ist, gibt es den Befehl, den gesamten Stoffwechsel auf die Herstellung von Viruspartikeln umzustellen. Die befallene Zelle wird gezwungen, ihre eigenen Bedürfnisse zu ignorieren. Viele Viren schalten sogar spezielle Mechanismen zur Erkennung von Krankheitserregern ab - wie ein Einbrecher, der als Erstes die Alarmanlage außer Betrieb setzt.
Besonders aggressive Viren vermehren sich so schnell, dass bereits nach wenigen Stunden alle Baustoffe und Energiequellen verbraucht sind. Die Zelle ist dann nur noch ein toter Sack voller Viruspartikel, die darauf warten, auszuschwärmen und ihre nächsten Opfer zu suchen. Wenn die äußere Zellmembran schließlich platzt, verbreiten sich Zehntausende neuer Aliens im benachbarten Gewebe. Über das Blut und die Lymphgefäße können sie dann fast jeden Winkel des Körpers erreichen.
DATENLEAK IN DER STUNDE NULL DES LEBENS
Aus biologischer Sicht ist es erstaunlich, dass winzige Partikel, die nur aus unbelebter Materie bestehen, eine solche zerstörerische Kraft entfalten. Viren befallen nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch Pflanzen, Pilze und sogar Bakterien. Nach derzeitigem Kenntnisstand gibt es kein einziges Lebewesen unter der Sonne, das nicht von Viren heimgesucht wird. Um dem Erfolgsgeheimnis der untoten Plagegeister auf die Spur zu kommen, müssen wir vier Milliarden Jahre zurückreisen - in die Zeit, als das Leben auf der Erde entstand (Abbildung 3).
Nach aktuellem Wissen der Evolutionsbiologie stammen alle Lebewesen von einem gemeinsamen Urahn ab, dem Last Universal Cellular Ancestor (LUCA). LUCA war ein primitiver Einzeller, der wahrscheinlich in heißen Tiefseequellen am Grunde der damals gerade neu entstandenen Ozeane lebte. Wie auch alle heutigen Lebewesen besaß LUCA bereits ein Genom aus DNA, deren Erbinformation er abschnittsweise in RNA kopierte und daraus Proteine herstellte. Aus der - ziemlich nüchternen - Sicht der Biologie ist das »Wunder des Lebens« also nicht mehr als die Fähigkeit der Zelle, die Pläne für ihre eigenen Strukturen und Funktionen in einem Molekül zu speichern und dieses an die Nachkommen weiterzugeben. Das scheint auf den ersten Blick unmöglich, genauso wie ein Ei nicht ohne Henne entstehen kann und umgekehrt. Wenn es vorher keinen Plan, also keine Erbinformation gegeben hat, muss sich einer von LUCAs Vorfahren das Geheimnis der Replikation selbst beigebracht haben - sofern man den Einfluss außerirdischer oder göttlicher Kräfte außer Betracht lässt. Doch wie könnte das möglich sein?
LUCA und alle seine Nachkommen stellen Proteine nach der Bauanleitung einer RNA her, die wiederum von einem Abschnitt der DNA kopiert wurde. Diese Prozesse werden von Enzymen gesteuert, die selbst Proteine sind. Die theoretische Möglichkeit, dass alle drei Arten biologischer Moleküle - DNA, RNA und Proteine - genau zugleich entstanden und auf Anhieb miteinander funktionierten, ist extrem unwahrscheinlich und kann ausgeschlossen werden. Am Ursprung des Lebens muss es deshalb Moleküle gegeben haben, die sich selbst kopieren konnten und zugleich imstande waren, wie ein Enzym chemische Prozesse zu steuern. Nach einhelliger Überzeugung der Evolutionsbiologie gibt es nur ein Molekül auf unserer Erde, das dieses Wunder vollbringen kann: die RNA.
Bis vor einigen Jahren dachte man, RNA sei nur für die Anfertigung von Zwischenkopien notwendig, mit denen die im Zellkern gespeicherten Baupläne zu den Ribosomen gebracht werden....
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