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Schützt uns dieser Staat noch vor Verbrechern? Die Überschrift des Artikels stach gut sichtbar ins Auge. Die überregionale Ausgabe einer bekannten Tageszeitung lag aufgeschlagen in der Mitte des Tisches. Aus aktuellem Anlass hatte der Chef zu einer außerordentlichen Sitzung im Besprechungszimmer des Kriminalkommissariats 11 im Koblenzer Präsidium am Moselring gebeten.
»Schön, dass Sie alle gekommen sind.« Anton Osterkorn nickte in die Runde. Als sein Blick die Kriminalhauptkommissarin Franca Mazzari streifte, hellte sich seine Miene um eine kleine Nuance auf. Sie hatte seit Tagen eine heftige Erkältung, erschien aber tapfer auf ihrer Dienststelle. Inzwischen brachte sie kaum noch einen Ton heraus, allenfalls ein rostiges Quietschen, und war derart heiser, dass ihre Tochter Georgina sich zu der Bemerkung veranlasst gesehen hatte , sie habe eine Stimme wie eine Puffmutter. Halsbonbons halfen nur wenig. Ebenso das abendliche Gurgeln mit frisch gebrühtem Salbeitee.
Anton Osterkorn nahm die getönte Hornbrille ab und rieb sich die Nasenwurzel.
»Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen: Dass das Gesetz zur nachträglich verhängten Sicherungsverwahrung eine einzige Flickschusterei ist, brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Insofern war es überfällig, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung infrage stellte. Freiheitsentzug kann nun mal nicht nach einem Gesetz verlängert werden, das zum Zeitpunkt des ersten Urteils noch nicht in Kraft war.«
»Der Chef klingt wie ein Anwalt, der mit allen Mitteln seinen Mandanten verteidigt«, raunte Clarissa Franca zu. Die ehemalige Praktikantin hatte inzwischen ihr Studium mit Bestnoten beendet und war als Jungkommissarin ins Koblenzer Präsidium zurückgekehrt.
»Wollen Sie damit sagen, dass die Straßburger Richter mit diesem Urteil mehr Rechtssicherheit geschaffen haben?«, fragte Francas jüngerer Team-Kollege Bernhard Hinterhuber.
Osterkorn nickte nachdrücklich. »Im Kern beruft man sich doch auf den römischen Rechtsgrundsatz >nulla poena sine lege<: Keine Strafe ohne Gesetz, was zweifellos eine tragende Säule unseres Rechtsstaates ist, verankert in Artikel 103 des Grundgesetzes, wie Sie alle wissen.«
Unter den Anwesenden brach Gemurmel aus.
Der Chef hob beschwichtigend die Hände. »Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass wir seither mit einer Reihe von zusätzlichen Problemen konfrontiert wurden - und noch konfrontiert werden«, räumte Osterkorn ein.
Davon konnte jeder der Anwesenden ein Lied singen. Der allgemein grassierende Sparwahn, der auch vor der Polizei nicht haltmachte, bescherte sowieso schon eine Menge zusätzlicher Probleme. Deshalb fanden viele, dass das Straßburger Urteil allem die Krone aufsetzte.
»>Freiheitsorientiertes und therapiegerichtetes Gesamtkonzept< nennt man das«, merkte Hinterhuber an. »Klingt eigentlich nicht schlecht. Doch viele Kollegen fragen sich, ob nicht aus Straßburg die falschen Signale gesetzt werden. Ich meine, zu Recht.«
»Das Urteil ist bindend für uns, das wissen Sie«, wandte Osterkorn ein. »Und wir müssen damit umgehen.«
»Daher weht der Wind«, flüsterte Clarissa. »Auch Chefs müssen Kompromisse machen. Warum gibt er das denn nicht zu?«
Franca wandte den Blick und betrachtete die junge Kollegin. Clarissa war wie immer top gestylt, neu war ein Piercing unterhalb der Lippen. Sie trug ein eng anliegendes rotes T-Shirt, das so gar nicht mit dem grellen Hennaton ihrer frisch gefärbten Haare harmonierte.
»Das heißt doch nichts anderes, als dass die Rechte dieser Verbrecher über die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung gestellt werden. Es ist zum Kotzen«, gab Roger Brock, einer der jüngeren Kommissare, seiner Verärgerung Ausdruck. »Das Grundrecht auf Freiheit wird verletzt, dass ich nicht lache. Die so was festschreiben, sind doch alles Schreibtischhengste, die von der Realität überhaupt keine Ahnung haben. Ich möchte mal sehen, wie die reagieren würden, wenn in ihre Nachbarschaft ein entlassener Sexualstraftäter einzieht, dem ihre Kinder tagtäglich begegnen müssen. Aber es ist ja alles Recht und Gesetz!« Mit einer heftigen Geste warf er seinen Stift auf den Schreibtisch, der weiterrollte und auf den Boden fiel.
Clarissa bückte sich, hob ihn auf und legte ihn mit einem nachsichtigen Lächeln wieder auf seinen Platz. Allen war bewusst, warum Brock besonders empfindlich auf das angesprochene Thema reagierte.
Roger Brock, der gerade mal die geforderte Mindestgröße maß und schmal war wie ein Handtuch, wurde von den Kollegen früher Bröckchen genannt. Bröckchen war umgänglich, jedermann mochte ihn. Doch vor einiger Zeit hatte sich sein Charakter vollkommen verwandelt. Ihn hatte es hart getroffen, als ein von ihm und seinem Kollegenteam unter Bewachung stehender Straftäter nur drei Tage, nachdem die Einstellung der Observation angeordnet worden war, einen weiteren Mord begangen hatte. Der Fall hatte großes Aufsehen erregt. Der sensible, nachdenkliche Kommissar hatte sich quasi über Nacht in einen Zyniker verwandelt, der eine undurchdringliche Mauer um sich gezogen hatte und bisweilen Unerträgliches von sich gab. Seitdem hieß er nur noch Brocken. Ganz böse Zungen nannten ihn auch Kotzbrocken.
»Konkret geht es, wie Sie wissen, um Johann Lomack«, fuhr Osterkorn fort. Lomack war ein Mehrfachtäter, der sich wiederholt an Kindern vergangen hatte. Fast 20 Jahre seines Lebens hatte er mit nur kurzen Unterbrechungen hinter Gittern verbracht. Zuletzt wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt. Eine Sicherungsverwahrung wurde nachträglich angeordnet. In einem der zahlreichen Gutachten, die über ihn verfasst wurden, hatte es geheißen, er sei ein Mann mit Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit, aber in besonderen Krisen weise seine Sexualität deviante Anteile und Impulse auf. In einer weiteren Beurteilung wurde die Behauptung aufgestellt, dass die Frage nach einer medizinisch definierten sexuellen Perversion zu verneinen sei - was nicht nur viele der Anwesenden infrage stellten.
»Jetzt sieht er seine große Chance und hat einen Eilantrag gestellt. Wenn der Richter im Sinne des Straßburger Urteils entscheidet, kommt Lomack schon in den nächsten Tagen frei«, fuhr Osterkorn fort.
»Wie das ausgeht, kann sich jeder an fünf Fingern abzählen«, schnaubte Brock. »Alle wissen es, und wenn's dann wieder passiert, schreien sie auf.«
»Das ist die Reaktion der Presse auf ähnliche Fälle!« Osterkorn schlug mit der flachen Hand auf die Zeitung vor sich. »Und es handelt sich hier um ein seriöses Blatt. Was die mit den großen Buchstaben schreiben, brauch ich Ihnen nicht im Einzelnen darzulegen.«
»Das heißt, wir werden gezwungen, einen Straftäter auf die Menschheit loszulassen, obwohl man davon ausgehen kann, dass er weiterhin eine Gefahr für die Bevölkerung darstellt«, stellte Clarissa fest. Es wirkte, als könne sie nicht glauben, was sie da eben gehört hatte.
»Man kann es zumindest nicht ausschließen.« Hinterhuber strich sich die dunklen Locken aus der Stirn. »In der Tat werden wir uns die Frage gefallen lassen müssen, was daran gerecht sein soll.«
»Der kriegt auch noch eine Entschädigung dafür, dass er so lang angeblich zu Unrecht im Gefängnis gesessen hat«, stieß Brock hervor. »Ein Schlag ins Gesicht eines jeden Opfers und dessen Familie. Und das nennt man dann juristisch korrekt. Ich frag mich wirklich, wo wir hier eigentlich leben.«
Franca lag einiges auf der Zunge, doch sie hielt sich mit Kommentaren zurück, nicht zuletzt deswegen, weil ihre krächzende Stimme den Ernst der Aussage wahrscheinlich etwas herabgemindert hätte. Auch sie hielt das Straßburger Urteil für äußerst problematisch. Menschen wie Lomack waren nun mal am besten hinter Gittern aufgehoben, wo sie kein weiteres Unheil anrichten konnten, auch wenn die Sicherungsverwahrung erst nachträglich angeordnet worden war.
»Wir müssen mit den Gegebenheiten umgehen, ob wir wollen oder nicht.« Mit undurchdringlicher Miene schob Osterkorn die vor ihm liegenden Blätter zu einem Stapel zusammen. »Vielleicht tun wir Lomack ja Unrecht. Seine Sozialprognosen gelten als gut.«
»Vielleicht kommt der Papst in die Hölle«, murmelte Roger Brock.
Der Chef konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Auch das liegt nicht in unserer Hand.«
»Ich sage euch, der Lomack schnappt sich das nächste Kind, sobald sich die Gelegenheit bietet. Dazu braucht man kein Hellseher zu sein. Ich kenn doch diese Typen«, trumpfte Brock auf. Franca blätterte in Lomacks Aktenkopien, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Ein Foto zeigte ihn als rundlichen Mann mit angegrauten, schütteren Haaren, der erstaunt in die Welt blickte und aussah, als ob er keiner Fliege was zuleide tun könne. Immer wieder hatte er sich Mädchen genähert, Kindern im Alter zwischen neun und zwölf Jahren, hatte sie mit einem Messer bedroht und gezwungen, sich auszuziehen, um sich danach an ihnen zu vergehen. Ein Druck tief in seinem Inneren sei daran schuld, dem er sich hilflos ausgesetzt sehe, hatte er behauptet.
»Ich habe mir die Akte genau angesehen«, äußerte Hinterhuber. »Der Mann hat die Hälfte seines Lebens fast ununterbrochen im Gefängnis gesessen, Therapien hat er zwar angefangen, aber nach kurzer Zeit immer wieder abgebrochen. Das heißt, da hat überhaupt keine Aufarbeitung stattgefunden. Folglich ist er in keiner Weise auf ein Leben in Freiheit vorbereitet.«
In der JVA war der Tagesablauf geregelt, den Insassen wurde vorgeschrieben, was zu tun und was zu lassen war, es gab eine klare Struktur. In dem...
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