Schweitzer Fachinformationen
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Milli
»Herz oder Nieren?«
Professor Lauer deutet mit dem Zeigefinger auf mich wie ein Showmaster, der die Kandidatin für die nächste Runde ausgewählt hat. So ähnlich ist es ja auch. Ich schaue an ihm vorbei auf die Metalltische mit den formalinfixierten Organen. Links ein Pferdeherz, rechts in einer Reihe einzelne Nieren von unterschiedlichen Tierarten. Ich kann nicht glauben, dass er mich tatsächlich entscheiden lässt, zu welchem Thema er mir die nächsten Fragen stellt. Schließlich ist die Physikumsprüfung eine Art Abschluss für Anatomie, und Professor Lauer gilt als sehr streng und unbarmherzig. Vielleicht liegt es daran, dass ich in den ersten beiden Runden ziemlich gut war. Ich habe Rob in der Tierarztpraxis schon so oft bei Operationen assistiert, dass ich mich auskenne in der Bauchhöhle. Und die Schädelknochen waren sowieso mein Lieblingsthema, ich habe also bisher richtig Glück gehabt mit meinen Prüfungsfragen. Wenn ich jetzt für die letzte Runde auch noch wählen darf, habe ich eigentlich nichts mehr zu befürchten.
Herz ist nicht so meins, ich verwechsele manchmal die Klappen und ich hatte beim Lernen keine Zeit mehr, mir noch mal das komplizierte Reizleitungssystem anzuschauen. Die Nieren traue ich mir zu, damit habe ich mich intensiver beschäftigt, und allein zu den tierartlichen Unterschieden lässt sich eine Menge sagen. Meine Antwort könnte also ganz einfach sein. Eigentlich.
Ich werfe einen Seitenblick auf Isa. Sie ist fast so blass wie ihr weißer Kittel und sieht mit ihren großen, braunen Augen aus wie ein verängstigtes Reh. Mit hochgezogenen Schultern starrt sie auf die Tische mit den Prüfungspräparaten, als könnten sie jeden Moment explodieren. Isa hat nicht genug gelernt. Das weiß ich genau, denn ich bin ihre Mitbewohnerin. Und ihre beste Freundin. Wie immer hat sie viel zu spät angefangen und war dann so nervös und unstrukturiert, dass sie sich erst recht nichts merken konnte. Dementsprechend hat sie heute in den ersten beiden Runden nicht gerade geglänzt und wenn sie das letzte Thema nicht mit Bravour meistert, sieht es schlecht für sie aus.
Meine Antwort ist tatsächlich ganz einfach. Gestern bin ich mit Isa gemeinsam noch mal das ganze Kapitel zur Niere durchgegangen, irgendwas wird bei ihr bestimmt hängengeblieben sein.
»Wie sieht es aus, Frau Mahler? Wir wären alle gern vor der Dunkelheit zu Hause.« Professor Lauer fixiert mich mit verkniffenem Gesicht und weist mit einer ungeduldigen Handbewegung auf die Metalltische hinter sich.
Ich trete entschlossen einen Schritt nach vorn. »Ich nehme das Herz.«
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Isa überrascht den Kopf herumwirft. Sie weiß natürlich, dass mir die Nieren lieber wären, aber ich kann mir definitiv mehr erlauben, ein Thema zu verpatzen, als sie.
Der Professor lächelt plötzlich. Etwas daran gefällt mir nicht.
»Interessant. Dann kommen Sie mal mit zu den Nieren«, sagt er zuckersüß. »Dass Sie Ihr Wunschthema draufhaben, kann ich mir denken. Also nehmen wir doch das andere.«
Er wollte mich reinlegen und ahnt nicht, dass ich die Wahl nicht für mich getroffen habe. Das tut mir so leid für Isa. Zerknirscht drehe ich mich zu ihr um, während ich dem Professor zum Präpariertisch folge. Sie zuckt hilflos mit den Schultern, doch sie lächelt dabei.
Professor Lauer räuspert sich. »Was können Sie mir zu den tierartlichen Unterschieden bei der Niere sagen?«
Isa und ich atmen gleichzeitig auf, als wir aus der Formalinluft des Anatomiesaals in den milden Septemberwind treten.
»Mensch Milli, eine Eins in Anatomie. Ich bin so stolz auf dich!« Sie rempelt mich mit der Schulter an und lacht.
Ich tue so, als wollte ich den zusammengerollten Kittel in meiner Hand nach ihr werfen. »Ich bin viel stolzer auf dich. Ich habe echt gedacht, das geht schief. Aber Herz war dein Ding, oder?«
Sie grinst. »Als ich noch ein braves Mädchen war, war Bio mein Lieblingsfach in der Schule. Ich hab mal ein Referat übers Herz gehalten. Das war heute meine Rettung. Glück gehabt.«
Ich mag ihre verschmitzten Grübchen und das Glitzern in ihren Augen. Ich bin so froh, dass sie die Prüfung geschafft hat.
Manchmal wünschte ich, Isa würde sich etwas weniger auf ihr Glück verlassen und mehr lernen. Das wäre besser für meine Nerven. Ich habe das Gefühl, als fieberte ich wochenlang für zwei auf die vielen Testate und Prüfungen hin, während sie immer erst einen Tag vorher nervös wird und mich dann endgültig verrückt macht mit ihrem Versuch, den umfangreichen Lernstoff im Schnelldurchgang auswendig zu lernen. Aber so ist Isa halt und wenn ich ehrlich bin, gefällt mir gerade das ganz besonders an ihr.
Während wir zu unseren Fahrrädern schlendern, stupst Isa mich noch mal mit der Schulter an, diesmal sanfter. »Ich weiß, dass du mir die Nieren überlassen wolltest, um mir den Hintern zu retten, obwohl du Herz viel schwieriger findest. Das war wirklich toll von dir.«
Ich streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Dafür hat man doch Freunde, oder?« Wir können aufeinander zählen, das tut einfach gut.
Ob Isa klar ist, wie froh ich bin, dass sie mich damals im ersten Semester angesprochen hat und wir seitdem unzertrennlich sind?
Es war wenige Wochen nach Semesterbeginn und ich fühlte mich ziemlich verloren zwischen all den fremden Gesichtern. So sehr hatte ich mich auf das Tiermedizinstudium gefreut, aber ich war nicht halb so glücklich, wie ich sein sollte. Ich sagte es niemandem, aber ich hatte schrecklich Heimweh nach den Menschen und Tieren im kleinen Neuberg, die Stadt war mir zu groß, zu laut und zu grau. Als meine Mutter damals mit mir vom Land in die Stadt gezogen ist, war das auch nicht schön. Aber ich durfte weiter in Neuberg zur Schule gehen und war immer noch irgendwie dort zu Hause. Die Pferde, der Geruch nach Stroh und Weite, das Schon-immer-Gefühl waren nur eine kleine Zugfahrt entfernt. Außerdem war ich zehn, niemand möchte in diesem Alter umziehen. Doch diesmal war es etwas anderes, ich war erwachsen und niemand hatte mich hierher verfrachtet, ich hatte es mir selbst ausgesucht und mich von Herzen darauf gefreut. Ich hatte mir eine hübsche, kleine Studentenstadt vorgestellt, aber nicht mal die typischen Ansichtskarten für Touristen, die ich Kaya zum Spaß schickte, schafften es, diesen Eindruck zu erwecken. Alles ein wenig altbacken, klobig und grau, keine wirklichen Sehenswürdigkeiten, zu viele große Straßen mitten durch die Innenstadt. Die Stadt wirkte gleichgültig, fast unwillig, sich mit einem schnuckeligen Fachwerkstädtchen oder einer bunten, pulsierenden Metropole messen zu wollen, und damit nicht gerade einladend.
Noch dazu hatte ich keinen Platz im Studentenwohnheim ergattern können und wohnte übergangsweise in einer düsteren, heruntergekommenen Einliegerwohnung in einem leerstehenden Haus, das verkauft werden sollte, und ich versuchte verzweifelt, in der von Studenten überfüllten Stadt eine andere Bleibe zu finden. Das war also mein langersehntes Studentenleben.
Ich war nie gut darin gewesen, neue Leute kennenzulernen. Zu Hause auf dem Land war das auch gar nicht nötig, da kannte man sich oder man kannte jemanden, der die anderen kannte. Mit meiner Tante Kaya konnte ich darüber nicht reden, die hätte mich ausgelacht, weil sie keine Schwierigkeiten hat, auf fremde Menschen zuzugehen. Aber anders als sie denkt, bin ich eben nicht wie sie.
Ich vertiefte mich also in den Lernstoff, dafür war ich schließlich hier - für mein großes Ziel, Tierärztin zu werden.
Ich stand gerade im Anatomiesaal und versuchte, mit dem Lehrbuch in der Hand die Erhebungen und Vertiefungen am Oberschenkelknochen auseinanderzuhalten, als plötzlich jemand von hinten über meine Schulter ins Buch blickte.
»Klingt wie Zaubersprüche.«
Ich drehte den Kopf und blickte in das Gesicht einer Studentin mit einem verschmitzten Lächeln und blitzenden Augen. Weil sie ihre brünetten Haare zum Zopf gebunden hatte, konnte ich sehen, dass ihre Ohren leicht abstanden, was auf eine charmante Weise zu ihr passte.
»Wie bitte?«, fragte ich verunsichert.
Sie deutete mit dem Finger ins Buch. »Na, Trochanter major, Tuberositas supracondylaris, Fossa extensoria. Expelliarmus! Man könnte denken, wir sind in Hogwarts gelandet.«
Ich musste lachen. Sie hatte recht. Und natürlich war sie mir mit der Anspielung auf meine Lieblingsbücher aus der Kindheit sofort sympathisch. »Dann muss der Hut aber noch entscheiden, zu welchen Häusern wir gehören.«
Mit gespieltem Ernst hielt sie mir ihre Hände als Spitzhut über den Kopf. »Slytherin . nein . Gryffindor . leider auch nicht . warte . Gartenstraße 17.« Zufrieden ließ sie die Hände sinken.
Ich schüttelte den Kopf. »Was soll das denn für ein Haus sein?«
Sie hatte mich gesehen, als ich meinen »Zimmer-gesucht«-Zettel in der Mensa aufgehängt habe, und beschlossen, mich anzusprechen. Denn sie suchte gerade eine Mitbewohnerin für ihre kleine Wohnung in der Gartenstraße. Etwas Besseres als die quirlige Isa hätte mir einfach nicht passieren können.
Mit ihr fühlte es sich plötzlich so an, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Zusammen fingen wir an, ihr Zimmer himbeerrosa und meins sonnengelb zu streichen, aber weil uns dann die Farbe der anderen viel besser gefiel, tauschten wir nach der Hälfte die Farbeimer und haben jetzt zweifarbige Räume. Gemeinsam machten wir uns zur Aufgabe, die versteckten schönen Ecken der hässlichen Stadt zu entdecken. Ein kleiner Baggersee, den man...
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