Schweitzer Fachinformationen
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NEW YORK, 19. OKTOBER 2015.
Alles ist schwarz. Ich habe die Augen geschlossen, und über mir wölbt sich das Dunkel. Es liegt etwas in der Luft. Alle meine Sinne sind angespannt. Ich höre, wie sich hinter mir die Ladentür öffnet und das Glöckchen über dem Rahmen bimmelt. Lauter, viel lauter schellt es heute als sonst. Bedeutet das etwas? Wie mein Erlebnis vorhin, auf dem Weg zu Joe?
Ich bin an einem Laden vorbeigekommen. Die Schaufensterscheibe war noch mit Packpapier zugeklebt, aber an einer Seite hing ein Streifen herunter. Ich lugte hinein und sah, dass es ein Tätowierstudio werden würde. Tafeln mit farbenprächtigen Mustern und Motiven hingen an der Wand. Ein Bild stach mir sofort in die Augen: Girlanden? Vielleicht Weinranken? Oder . Da schob sich hinter der Scheibe eine Gestalt ins Licht. »Wir eröffnen heute Abend!«, sagte sie durchs Fenster und klebte die gelöste Papierbahn wieder auf das Glas. »Dieses Motiv da, das mit den .«, ich erschrak, denn unwillkürlich kam das Wort »Gehenkten« über meine Lippen. »Woher kommt es?« »Keine Ahnung, Mexiko? Russland?«, sagte die Stimme. »Ich glaube, ich hab's früher schon mal gesehen!«, rief ich und klopfte an die Scheibe, und die Stimme dahinter antwortete: »Dann wissen Sie ja alles!«
Ich klammere mich an die Stuhllehne. Jemand ist in den Laden getreten und hat für Augenblicke Geräusche von draußen mitgebracht. Jemand, der hinter mir her ist? Wegen meines Geheimnisses? Die Tür fällt mit einem Bimmeln wieder ins Schloss, und der Lärm reißt ab. Es ist Boris Makaver, ich erkenne ihn am Husten, mit dem er uns grüßt. Kein Grund, die Augen zu öffnen.
Ich beruhige mich allmählich. Happy Hour im Klassikkanal des Radios: »Und hier, direkt aus der Bar: Dean Martin!« Der Ventilator scheppert, Füße scharren leise. Und über allem das unermüdliche Schnappen einer Schere. Ja, mein Geheimnis, plötzlich bohrt es sich in die Wirklichkeit, wie der Krokus durch den letzten Schnee.
»Send me the pillow that you dream on - so darling I can dream on it, too .« Während ich mit geschlossenen Augen im grünen Lederstuhl sitze, den Kopf bequem auf der Nackenrolle, und Joe meine Haare schneidet, und wir das Für und Wider der Operation meiner Milz wegen Splenomegalie erörtern, trifft es mich unvermittelt: Mit 95 muss auch ich mit dem Ableben rechnen. War es dann nicht an der Zeit, mein Geheimnis zu lüften? Ich öffne vorsichtig die Augen, und wie zur Bestätigung starrt mich im Spiegel von Joe's Barbershop, West 169/Fort Washington Ave., mein altersfleckiges, fleischgewordenes Krankenblatt an: vier Bypässe, launische Prostata, Keramik-Hüftgelenk links (seit 1999), querulanter Alterszucker .
Joe ist mit dem Haarschnitt fertig und seift nun mein Gesicht ein. Joe! Er ist afroamerikanischer Abstammung - wie ich gelernt habe, es korrekt zu sagen. Er sieht mich ungeduldig an und rüttelt mich. »Paul! Hörst du überhaupt zu? Wie ich dich dem großen Slick Whitey Ford vorgestellt habe? Weißt du noch? Das war ein Typ. Nicht so ein Würstchen, wie sie dir heute im Rudel begegnen und du sie am liebsten in ein Senfglas tunken wolltest!«
Ich brumme zur Bestätigung und lächle - Joe und seine Yankees!
»Wenn ich meinen Job so machen würde wie die meisten dieser Jungs - meine Herrschaften, wie würden dann meine Kunden aussehen! Wie mit 'ner Glasscherbe barbiert! Kassieren 'ne Kohle, wovon wir nur träumen können .«
Joe macht sich keine Gedanken über die Vergänglichkeit. Nicht, dass ich wüsste. Und ich kenne ihn nun schon seit 70 Jahren, und seit über einem halben Jahrhundert schneidet Joe mir die Haare und rasiert mich. Ich sehe im Spiegel, wie das Rasiermesser über meine linke eingeseifte Gesichtshälfte gleitet, so spielerisch, als verteilte ein jugendlicher Gangster die Karten für eine Runde Poker. Zärtlichkeit erfüllt mich für den alten Mann, der, während er vertanen Innings und vergeblichen Homeruns nachtrauert, meine Wangen rasiert, als streichle er einen Babypopo. Für alle Zeit bleibt Joe mit dem Anblick eines blühenden Apfelbaums verbunden. Da hing dieser schwarze Mann am Fallschirm im Apfelbaum, 15 Kilometer von Bayreuth entfernt, und die Blüten rieselten wie Schnee. Ein abgebrochener Zweig steckte in seinem wolligen Haar, und weil die Sonne hinter ihm stand, sah Joe im Gegenlicht aus wie ein kräftiges Zulu-Mädchen. Und da war dieser Geruch! Obwohl es erst Frühjahr war und der Baum nur Blüten trug, roch es nach Apfel. Und der Apfelduft stieg durch meine Nase mitten in das Zentrum der Sehnsucht. Sehnsucht nach einem Biss in einen Apfel. Ohne Flucht, Hetze, Angst. Einfach den Bissen kauen, bis Süße und Säure die Zunge und den Gaumen entlangfließen, über den Mundvorhof in die Schlundenge gleiten und schließlich in den Rachen rutschen. Alkmene aus Brandenburg! Eine Borgsdorfer Renette! Pfannkuchen mit Altländer-Apfelkompott!
Auch unser Wiedersehen 1959 war mit Apfelgeruch verbunden. Ich glaube, es war die Sorte Yellow Bellflower aus New Jersey. Oder Westfield Seek-no-Further. Damals wohnten wir noch unten in Brooklyn, wo auch unsere Töchter zur Welt gekommen sind. Sarah, Esther, Judith - alle im Flatbush General Hospital entbunden. Sooft es mir möglich war, lief ich damals am Strand von Coney Island. Links der Atlantik, rechts der hölzerne Boardwalk. Es war früher Morgen, und kaum einer war am Brighton Beach unterwegs. Nebel hing über der hölzernen Pier, und ich konnte den Rollercoaster hinten kaum erkennen.
Pach, pach, pach machten meine Füße auf dem feuchten Sand. Tak, tak, tak klang es oben auf den dicken Bohlen der Pier. Chh, chh, chhh macht es, wenn man durch kniehohes Gras läuft. Ja, ich kenne mich aus mit dem Laufen. Ich bin Spezialist, mein Lebensmotto: Ich laufe, also bin ich. Seitdem ich denken kann, laufe ich. Es geht gar nicht anders. Es ist wie ein Reflex, immer bin ich in Bewegung. Denn wenn man in Bewegung ist, kriegen sie einen nicht. So ist das nämlich.
Aber an dem Tag war etwas anders. Etwas irritierte mich. Ich sah zur Holzpier hoch. Dort fuhr ein Schwarzer auf dem Fahrrad parallel mit mir. Gemächlich fuhr er auf gleicher Höhe und studierte mich wie nebenbei. Dann offensichtlicher. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Jetzt taxierte er mich direkt. Was wollte der von mir? Wollte er mich überfallen? Ich überschlug, dass ich nur die Wohnungsschlüssel und einen Dollar dabeihatte. Aber, dachte ich, was ist, wenn er mich niederschlägt und die Wohnungsschlüssel raubt, und wenn er weiß, wo ich wohne, und wenn er .
Ich lief schneller. Auch der Schwarze zog das Tempo an. Ich kam ins Schwitzen und war mir sicher, er hatte es auf mich abgesehen. Schweiß wurde zu Angstschweiß. Ich kannte diesen Geruch nur zu gut, der jeden Hund und jeden SS-Mann anlockt. Weit und breit war kein Mensch, der mir hätte helfen können. Da brüllte der Schwarze von oben zu mir herunter:
»Was soll das sein? Ein Laufstil? Alles vergessen, HERR PAUL? In so kurzer Zeit!? Leg gefälligst die Ellenbogen enger an, und streck den Hintern nicht so weit raus, sonst gibt's Ärger, und das nicht knapp!«
Langsam sickerten diese Sätze in mich hinein, ganz allmählich begriff ich das Unglaubliche.
»Lieutenant Joe Irving?«
»Wer sonst sieht das ganze Elend deiner Technik?«
Mir schossen die Tränen aus den Augen. Joe kam die Stufen herunter, eingehüllt in eine Wolke aus Apfelblütenduft. Wir liefen aufeinander zu, umarmten uns und tanzten und hopsten im Sand. Lieutenant Irving, war das denn möglich! Ein Wunder. Ich hätte nicht erwartet, ihn in diesem Leben wiederzusehen. 1st Lieutenant Joe Irving! Der »roi noir«, den wir »Roy Black« nannten. Lieutenant Irving, dem ich mein Leben verdankte. Der jetzt aber kein Lieutenant mehr war, weil sie ihn aus der Army entlassen hatten, nachdem er sich für die Freiheit der Welt in Korea die halbe Hüfte hatte wegsprengen lassen. Jetzt war er wieder nichts anderes als ein Niggerfriseur.
Und seitdem ist er auch mein Friseur.
Ja, das Leben, vielmehr das Überleben, ist ein Wunder. Wie zur Bestätigung, dass stetes Misstrauen angebracht ist, legt Joe unter dem Rasierschaum einen braunen Fleck frei. Genau über der Stelle taucht er auf, wo der Unterkieferknochen im Jochbein eingehängt ist. Ich beuge mich vor und schiele mit schiefem Kopf auf das Mal.
»Was ist das für ein Fleck? Joe, hast du den schon früher gesehen? Sieht aus wie 'ne neue Friedhofsblume.«
Joe dreht mich mit dem Stuhl vor sich und sieht mich genervt an. »Ja. Er war auch gestern schon da und auch vor zehn Jahren. Seit ich dich kenne, nervst du mit Krankheiten, die immer tödlich ausgehen könnten, mit Symptomen, die immer das Schlimmste bedeuten. Seit ich dich kenne, redest du vom Sterben wie andere von ihrem Auto, ihren Frauen oder Kindern. Dabei bist du einfach nur ein unbelehrbarer Hypochonder.«
Ich höre die Blätter des Ventilators durch die Luft schneiden, höre, wie der Rasierschaum in der Schale knisternd zusammenfällt, höre das Blubbern des Dampftopfes, in dem die Kompressen erhitzt werden, die es nach der Rasur auf das Gesicht gibt, das Husten des wartenden Makaver. Ich sehe unsere ganze Mischpoke, höre meinen Vater, der mich an meinem 13. Geburtstag zur Seite nimmt, mir die Arme auf die Schultern legt und mich aufmunternd anlächelt: »Es liegt in unserer Natur, dass wir immer mit dem Schlimmsten rechnen und dass der nächste Schritt tödlich sein kann.«
Ich nicke und lächle Joe an.
»Du hast ja Recht,...
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