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Anfang September klingelte bei Micha das Telefon, und Tobias verblüffte ihn damit, dass er nach so vielen Jahren noch seinen Geburtstag im Kopf hatte.
»Herzlichen Glückwunsch, Langer!« So hatte Tobias ihn früher auch manchmal genannt. »Wie war's denn in Hellas?«
»Gut«, antwortete Micha einsilbig. Der vertrauliche Ton, den Tobias anschlug, passte ihm nicht. In Wirklichkeit waren seine Ferien phantastisch gewesen, genau so, wie Thomas und er es sich vorgestellt hatten. Er hatte sogar Dostojewskijs Idiot gelesen. Langbeinige Traumfrauen waren ihm allerdings nicht über den Weg gelaufen. »Nur leider schon Geschichte.«
»Wem sagst du das. Hör mal, ich fahre heute noch nach Stuttgart, ein paar Sachen regeln. Sonst hätte ich dich ja gerne auf ein Bier besucht. Aber so muss ich dir eben telefonisch alles Gute wünschen, mit meinem neuen, eigenen Telefon übrigens.«
»Nett von dir«, sagte Micha. Der Gedanke, dass Tobias um ein Haar mitten in sein kleines Fest hineingeplatzt wäre, behagte ihm gar nicht. Ein paar Freunde saßen in seinem Zimmer herum und mixten aus einer ziemlich willkürlichen Ansammlung von Alkoholika alle möglichen gefährlichen Cocktails zusammen.
»Hast du das Päckchen schon bekommen?«, fragte Tobias.
»Welches Päckchen?«
»Also nicht. Schade! Ich hab dir als kleines Geburtstagsgeschenk ein paar Mitbringsel geschickt. Kommt dann wahrscheinlich morgen.«
»Mitbringsel? Aus der Hohen Tatra?« Ihm fiel ein, was Tobias bei ihrem Gespräch damals über seine Reisepläne gesagt hatte.
»Ja, genau.«
»Und, wie war's da so?«
»Ach, sehr interessant, sehr aufschlussreich.«
Micha stutzte zwar über diese merkwürdige Charakterisierung einer Urlaubsreise, aber diese Irritation war nur von kurzer Dauer. Vielleicht war Tobias ja auch einer dieser Bildungsreisenden, die ein Natur- und Kulturdenkmal nach dem anderen abklappern mussten, um sich erholt zu fühlen. Was wusste er denn schon von ihm?
Er bedankte sich im Voraus und notierte Tobias' neue Telefonnummer, versprach, sich bald bei ihm zu melden, und versuchte ansonsten, das Gespräch zu beenden, um so schnell wie möglich zu seinen Freunden zurückkehren zu können. Fünf Minuten, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, hatte er Tobias schon wieder vergessen, und das lag nicht nur an der durchschlagenden Wirkung des neuen Spezialcocktails, den Thomas ihm grinsend entgegenhielt, kaum dass er sein Zimmer betreten hatte.
Am nächsten Morgen kam das Päckchen. Es hatte die Größe eines Schuhkartons, wog aber so gut wie nichts. Zuerst wusste er gar nicht, wohin damit. Sein Zimmer sah nach dem gestrigen Gelage reichlich chaotisch aus, überall Gläser, Tassen mit angetrockneten Kaffee resten, volle Aschenbecher, leere Flaschen, Sektkorken, herumliegendes Geschenkpapier. Die Cocktails hatten es wirklich in sich gehabt. Sie waren alle betrunken gewesen, und er war überrascht, dass sich die Nachwirkungen bei ihm in Grenzen hielten. Mit einem Seufzer machte er sich daran, den Schreibtisch frei zu räumen.
Als er das Packpapier und den Deckel des Schuhkartons - es war tatsächlich einer - entfernt hatte, fand er neben Unmengen Holzwolle eine Zigarettenschachtel, ein Herbarblatt mit einer vorschriftsmäßig gepressten und getrockneten Pflanze und einen kurzen Brief:
Lieber Micha!
Die Renoviererei hat natürlich viel länger gedauert, als ich mir das vorgestellt habe, und auch meine mit Verspätung angetretene Reise dauerte länger als geplant. So bin ich erst vor knapp zwei Wochen wieder in meine Wohnung zurückgekehrt. Hast du schon versucht, mich zu erreichen?
Ich hoffe, du hast dich gut erholt und bist wieder mit Feuereifer zu deinen Insekten zurückgekehrt. Ich habe dir von meiner kleinen Exkursion (du erinnerst dich an unser Gespräch) ein schönes Tier mitgebracht, das mir eines Abends mit Volldampf gegen die Campinglampe krachte. Ich hoffe, es gefällt dir.
Außerdem schicke ich dir noch eine Pflanze, die mir einiges Kopfzerbrechen bereitet. Vielleicht kannst du als Biologe weiterhelfen. Ich glaube, es ist etwas ziemlich Seltenes, also behalt's besser für dich. Das Herbarblatt ist natürlich auch ein Geschenk. Ich habe noch ein Exemplar.
Bis bald mal und alles Gute fürs neue Lebensjahr
Dein Tobias
Kopfschüttelnd betrachtete er die getrocknete Pflanze. Seltsam, wie schnell man zum gefragten Fachmann befördert wurde. Kaum erzählte man von seinem Biologiestudium, glaubten die Leute offensichtlich, ein wandelndes Lexikon vor sich zu haben. Mit der immer gleichen Frage (»Was is'n das?«) hielten sie einem Grünzeug, irgendwelches Ungeziefer oder vergilbte Blätter von Zimmerpflanzen vor die Nase, und spätestens nach dem dritten bedauernden Kopfschütteln erntete man dann diesen skeptischen Blick, mit dem die eigene Qualifikation ernsthaft in Frage gestellt wurde. Es war derselbe skeptische Blick, den man einem Kfz-Mechaniker zugeworfen hätte, für den Begriffe wie Kupplung und Bremsbeläge böhmische Dörfer waren. Selbst seine Mutter, die seit dreißig Jahren inmitten eines üppigen Gewächshauses wohnte, fragte ihn neuerdings immer wieder, wie sie denn nun ihre Alpenveilchen gießen solle.
Niemand schien zu begreifen, dass die Natur etwas so Riesenhaftes, so unendlich Vielfältiges war, dass man unmöglich alles kennen konnte und auf ewig dazu verurteilt war, bei neunzig Prozent aller Fragen ratlos mit den Achseln zu zucken.
Er legte das Herbarblatt zur Seite - Botanik war nicht gerade seine Stärke, und das fragliche Exemplar sah für ihn zunächst einmal aus wie jede andere plattgepresste und vertrocknete Pflanze auch - und widmete sich der Zigarettenschachtel. Neben einigen Blatt zusammengeknüllten Toilettenpapiers beförderte er schließlich einen schillernden, etwa vier Zentimeter großen Käfer zutage, der in einem kleinen durchsichtigen Kunstharzblock eingeschlossen war.
»Ohh, ein Buprestide.«
Ein Prachtkäfer, und was für einer. Die länglich-ovalen Flügeldecken glänzten wie ein Juwel und schimmerten je nach Lichteinfall in allen Farben des Regenbogens. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie in der Hand gehabt. Flügeldecken, Halsschild und Kopf des Tieres schillerten in metallischem Blau und Grün. Auf mehreren der inneren Flügeldeckenrippen zogen sich unterbrochene, bronzefarbene Linien entlang. Er war wirklich wunderschön, prächtig.
Dann stutzte er. Micha bildete sich ein, schon recht gut mit den einheimischen Käferarten vertraut zu sein, aber ein solches Juwel war ihm noch nie untergekommen. Wenn er es sich recht überlegte, war er eigentlich ziemlich sicher, dass dieses Tier nicht zur einheimischen Fauna gehörte. Und jetzt, da er darüber nachzudenken begann, konnte er sich auch kaum vorstellen, dass ein paar hundert Kilometer weiter - in der Slowakei - plötzlich Spezies vorkommen sollten, die aufgrund ihrer Größe und Farbausstattung eher in die Tropen passten. Einheimische Arten konnten da in der Regel nicht mithalten. Bloß nicht auffallen, hieß die Devise. Da unterschieden sie sich kaum von den Menschen, die hier lebten. Für mitteleuropäische Verhältnisse präsentierte ja ein Marienkäfer mit seinem schlichten Rot-Schwarz schon eine zügellose Farborgie. Aber die Käfer waren ungeheuer vielgestaltig, die artenreichste Tiergruppe, die es überhaupt gab. Bei weltweit fast einer halben Million Arten war sein Wissen notgedrungen lückenhaft. Er konnte nicht restlos ausschließen, dass es in der Slowakei nicht doch schon ganz andere, etwa aus den Steppengebieten Osteuropas stammende Käferarten gab, von denen er nichts wusste.
Außerdem, wo sollte das Tier denn sonst herkommen? Tobias hatte doch sowohl am Telefon als auch in seinem Brief eindeutig von einem Mitbringsel gesprochen, von einem Tier, das ihm gegen die Campinglampe geflogen war.
Vielleicht trieb er nur einen Scherz mit ihm. Mit seinen Kommilitonen hatte Micha sich auch schon das verblüffte Gesicht von Professor Rothmann ausgemalt, einem Insektenkundler, der mit Hilfe von alten, in den Boden gegrabenen Joghurtbechern den Käfern des heimischen Grunewaldes nachstellte, wenn er einmal einen Exoten, vielleicht eine mediterrane Art, vorfände, die sie ihm unter des Grunewalds Käfereinerlei geschummelt hätten. Sie waren sich alle sicher, dass er in heller Aufregung die Institutsgänge entlangstürmen und jedem, der ihm über den Weg lief, von seinem sensationellen Erstnachweis dieser Käferart für Mitteleuropa berichten würde. Das sind die raren Höhepunkte eines Forscherlebens.
So wie sich Tobias ihm bisher präsentiert hatte, traute er ihm hintergründigen Humor dieser Art durchaus zu. Er nahm sich vor, in den nächsten Tagen einmal in der Institutssammlung nachzuschauen, ob es eine solche Art in Deutschland gab. Und wenn er in der Sammlung nicht fündig werden sollte, gab es da zumindest reichlich Literatur und sicherlich auch eine Fauna Tschechoslowakia oder so etwas, wo er sich Klarheit verschaffen konnte.
Er legte den Harzblock mit dem Käfer auf seinen Schreibtisch, verstaute das Herbarblatt in einer der Schreibtischschubladen und zündete sich dann schmunzelnd eine Zigarette an. Nein, so leicht würde Tobias ihn nicht hinters Licht führen.
Ein paar Tage später suchte er in der Zoologischen Sammlung des Instituts in dem Schrank mit der Käfersammlung nach den Buprestiden, den Prachtkäfern. Er war zwar überrascht, dass einige der einheimischen Arten sich, was Schönheit, Farbenpracht und Metallglanz anging, durchaus mit Tobias' Mitbringsel messen konnten, aber nicht hinsichtlich ihrer Körpergröße, und das gab seinem Verdacht letztlich recht. Die größten deutschen Prachtkäfer maßen kaum mehr als...
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