Fay Keenan
Annas kleiner Teeladen
Roman Aus dem Englischen von Simone Jakob Erscheint im September 2019
Über dieses Buch: Nach dem traumatischen Tod ihres Mannes möchte Anna noch einmal neu anfangen und übernimmt in Little Somerby den kleinen Teeladen ihrer Patentante.
Matthew soll nach einigen Enttäuschungen im Leben die Apfelweinplantage seines Vaters fortführen - ausgerechnet an der Seite seines ungeliebten Bruders. Sein einziger Lichtblick: die neue Besitzerin des kleinen Teeladens, die er nicht nur wegen ihrer köstlichen Cupcakes anziehend findet .
WINTER 1 »Sind wir bald zu Hause?«, fragte eine leise Stimme auf dem Rücksitz von Anna Hemingways Wagen.
Noch nicht, aber wir sind auf dem besten Weg, dachte sie. »Es dauert nur noch ein paar Minuten.«
Sie schaute sich mit halbem Auge in ihrer Umgebung um, während sie fuhr. Sie hatte Little Somerby, das Dorf in Somerset, in dem sie aufgewachsen war, oft besucht, seit sie vor achtzehn Jahren von hier weggezogen war, und es hatte sich seit ihrem letzten Abstecher kaum verändert. Doch nun, da sie wieder hier leben würde, betrachtete sie es mit ganz anderen Augen.
»Gibt es eine Schaukel im Garten?«, fragte Ellie.
»Ich weiß nicht, mein Schatz. Aber wir können eine kaufen, wenn du möchtest.« Anna erspähte die Kirche mit den Grabsteinen, die von einer makellosen weißen Frostschicht überzogen und von Eiben umgeben waren; auf der anderen Straßenseite befand sich das örtliche Pub »The Stationmaster«, Schauplatz unzähliger durchzechter Nächte und jugendlicher Liebschaften.
»Morgen?«
»Vielleicht später, wenn wir uns ein bisschen eingelebt haben.«
Sie kamen am Postamt und an der Ladenzeile vorbei, die heute nachhaltiger und bunter gemischt war, als sie sie in Erinnerung hatte. Daneben stand der Gemeindesaal, ein stolzer Ziegelbau aus dem 19. Jahrhundert, ein Stück weiter die Werkstatt, wo sie ihren ersten Wagen gekauft hatte, dann folgten die warmen, einladend wirkenden Lichter eines Cafés: The Little Orchard Tea Shop. Durch das Erkerfenster erhaschte sie einen kurzen Blick auf vollbesetzte Tische, und eine erwartungsvolle Spannung stieg in ihr auf. Von all den Entscheidungen, die sie in den letzten Monaten hatte treffen müssen, war ihr die, die Leitung des Cafés zu übernehmen, am schwersten gefallen. Aber der Umzug sollte ein kompletter Neuanfang sein, und es bestand kein Zweifel daran, dass die neue berufliche Aufgabe große Veränderungen mit sich bringen würde.
Während sie sich ihrem neuen Zuhause näherte, kamen die weitläufigen Ländereien und das Gebäude des örtlichen Mostbauernhofs in Sicht, der früher nur aus einem Schuppen und einem Geschäft bestanden hatte, sich mittlerweile jedoch zu einem internationalen Betrieb gemausert hatte, der Cider herstellte und vertrieb. Von der dominanten Präsenz des Mostbauernhofs einmal abgesehen, sah das Dorf noch fast genauso aus wie früher. Manchmal fiel es ihr schwer zu glauben, wie sehr sie selbst sich im Gegensatz dazu verändert hatte. Doch sie war jetzt eine 36-jährige Frau mit BH-Größe D, einer Kaiserschnittnarbe und einer dreijährigen Tochter, und nicht mehr das junge, hoffnungsvolle Mädchen, das das Dorf verlassen hatte, um auf die Uni zu gehen, zu arbeiten und später die Liebe zu finden.
Liebe. Anna schluckte schwer. In diesem Frühling wären sie zehn Jahre verheiratet gewesen. Beherzt schob sie den Gedanken beiseite; heute würde sie den nächsten Schritt in ihr neues Leben wagen.
Sie verspürte einen Anflug von Vorfreude, als sie in die Flowerdown Lane einbog, eine hübsche Seitenstraße etwas abseits des Dorfkerns. Pippin Cottage war das letzte Haus auf der rechten Seite, eines von nur vier Häusern in der Straße; seine weiß getünchten Mauern waren von dunklen, vertikalen Fachwerkbalken durchzogen. Die halbrunde Tür in der Mitte der Fassade war dank einer leicht verwitterten Veranda windgeschützt. Drei Fenster zierten den ersten Stock, zwei weitere befanden sich zu beiden Seiten der Haustür. Das Schieferdach war mehrfach ausgebessert worden, hatte jedoch seinen altmodisch-rustikalen Charme behalten. Der Vorgarten war von einer Steinmauer mit einem rostigen schmiedeeisernen Tor eingefasst. Am Ende der Straße lag ein Obstgarten mit ordentlichen Reihen von Apfelbäumen, deren jetzt blattlose Zweige neues Leben versprachen, sobald der Frühling anbrach.
Anna hatte sich für dieses Cottage entschieden, weil es nah genug am Dorfzentrum lag, um sich nicht zu isoliert zu fühlen, jedoch als letztes Haus in der Straße ein wenig abseits lag, was ihr nur recht war. Sie hatte es nur ein Mal gesehen, bevor sie ein Angebot gemacht hatte, auch wenn sie sich fast von dem Makler hätte abschrecken lassen, der bei der Besichtigung so schroff gewesen war, dass es an Unhöflichkeit grenzte. Doch sie hatte schon immer ein eigenes Cottage gewünscht, und dieses war fast zu schön, um wahr zu sein. Die Tatsache, dass erst ihr schlimmster Albtraum wahr werden musste, bevor sie die Freiheit hatte, sich diesen Traum zu erfüllen, war eine schmerzliche Ironie des Schicksals, die sie auch fast zwei Jahre später noch quälte. Trauer schnürte ihr die Kehle zu, und sie musste ein paarmal tief durchatmen, um sich wieder zu beruhigen.
»Bist du bereit, mein Schatz?« Sie öffnete die Autotür, ging zum Rücksitz und hob ihre kleine Tochter aus dem Wagen. Ellie sah sich kurz um, dann rannte sie durch das Gartentor und den Pfad zum Haus hinunter.
»Jetzt komm schon, Mummy!«, rief sie Anna von der Veranda aus zu.
Anna schlug die Autotür zu und sah zu ihrer Tochter hinüber, die auf der Türschwelle ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfte. Es war so weit.
* »Können Sie mich dann bitte anrufen und mir Bescheid geben, sobald Sie etwas hören?«, fragte Anna, dann beendete sie das Telefongespräch mit der Umzugsfirma. Erneut verfluchte sie die Tatsache, dass sie das Ladekabel für ihr Mobiltelefon in den letzten Karton gepackt hatte, der auf den Lkw verladen worden war. Er war nur ein paar Minuten nach ihr losgefahren, aber immer noch nicht aufgetaucht. Sie warf das Handy auf die beklagenswert leere Küchenarbeitsfläche und zuckte zusammen, als plötzlich ein lautes Bellen ertönte, wie aus dem Nichts ein zottiger, schwarz-weißer Border Collie in die Küche gestürmt kam und eine empörte Frauenstimme rief: »Seffy! Komm sofort zurück!«
Obwohl es ein kalter Dezembertag war, hatte Anna die Haustür aus dunklem Eichenholz zum Lüften offen gelassen. Als sie gerade vergeblich nach dem Halsband des Hundes griff, tauchte seine Besitzerin im Türrahmen auf, ein schlankes junges Mädchen mit dunklen Haaren und blasser Haut. Sie hatte volle, rote Lippen, die strahlendsten blauen Augen, die Anna je gesehen hatte, und trug eine dunkelblaue Jeans, einen weiten gestreiften Pullover und dazu Ballerinas, die für das Dezemberwetter völlig ungeeignet waren.
»Es tut mir schrecklich leid«, sagte das Mädchen, dessen Stimme tief und wohlmoduliert auf eine Privatschulbildung schließen ließ. »Ich habe versucht, ihn an die Leine zu legen, aber er hat mich ausgetrickst.«
Anna lächelte. »Kein Problem, halb so wild.« Als der Hund seine Herrin sah, trottete er gehorsam zu ihr zurück.
Das Mädchen leinte ihn an und lächelte entschuldigend. »Ich bin übrigens Meredith. Aber die meisten Leute nennen mich Merry.« Sie schaute den Hund an. »Und das ist Sefton.«
»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte Anna und beugte sich vor, um den Hund zu streicheln. »Ich bin Anna, und irgendwo hier im Haus treibt sich meine Tochter Ellie herum.«
»Ziehst du heute ein?«, fragte Merry.
»Ja, immer vorausgesetzt, dass der Umzugswagen heute noch ankommt. Ich würde dir ja eine Tasse Tee anbieten, aber ich habe leider noch keinen Wasserkocher.« Sie schaute sich in der Küche um. Der schwere, gusseiserne Rayburn-Ofen - noch etwas, was sie sich schon immer für die Küche ihrer Träume gewünscht hatte - war blassgelb, blitzblank geschrubbt und imposant. Backen war Annas Leidenschaft, und sie freute sich darauf, ihn auszuprobieren, besonders, weil sie in ein, zwei Wochen das Café übernehmen würde. Sie hoffte, der Vorbesitzer hatte die Gebrauchsanweisung dagelassen, denn sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
»Danke für das Angebot, aber ich kann nicht bleiben, Seffy bettelt schon den ganzen Tag um einen Spaziergang, und er braucht unbedingt Bewegung. Immer wenn er eine offene Tür sieht, versteht er das als Einladung. Sorry noch mal.«
»Schon okay«, antwortete Anna. »Ich bin mir sicher, er wird nicht der letzte Besucher sein.«
»Nein, definitiv nicht.« Meredith verdrehte die Augen. »Die einheimischen Klatschtanten geben sich hier garantiert bald die Klinke in die Hand. An deiner Stelle würde ich mir eine Überwachungskamera oder einen Hund zulegen, um sie abzuschrecken.«
»Danke für die Warnung, ich lasse es mir durch den Kopf gehen.«
»Tja, also, willkommen im Dorf - und hoffentlich bis bald«, sagte Meredith, drehte sich auf dem Absatz um und ging nach draußen.
Anna stand an der Schwelle und sah dem Mädchen nach, bis es das Ende der Straße erreichte, das Gatter zum Obstgarten öffnete und hineinging. Wenn alle Teenager im Dorf so aussahen, dachte sie, dann hatte sich in der Zeit, die sie weg gewesen war, doch einiges verändert.
Ihr Handy vibrierte und riss sie aus ihren Gedanken. Sie ging zurück in die Küche; der Fahrer des Umzugswagens hatte ihr eine Nachricht...