1. Kapitel
Reese
So weiche, glattrasierte Beine - was für eine Verschwendung.
»Jules? Hier spricht Reese. Wo zum Teufel steckst du? Ich brauche dich. Das hier ist das schlimmste Date meines Lebens. Ich schlafe gleich ein, ehrlich. Ich hab schon überlegt, ein paar Mal mit dem Kopf auf die Tischplatte zu hämmern, nur um wach zu bleiben. Wenn du nicht willst, dass ich mich verletze, ruf mich an und täusch einen Notfall vor. Bitte!« Verzweifelt stieß ich die Luft aus und legte auf. Ich stand im dunklen Korridor vor der Damentoilette im hinteren Teil des Restaurants.
Völlig unerwartet meldete sich hinter mir eine tiefe Stimme zu Wort: »Das merkt er. Es sei denn, er ist nicht nur langweilig, sondern auch noch ein totaler Trottel.«
»Wie bitte?« Ich drehte mich um.
An der Wand lehnte ein Mann, den Blick nach unten gerichtet, weil er auf seinem Handy eine Nachricht tippte. Ohne aufzusehen, fuhr er fort. »Das ist der älteste Trick der Welt - der Anruf mit dem plötzlichen Notfall. Sie könnten sich wenigstens ein bisschen mehr Mühe geben. Es dauert zwei Monate, bis man für den Laden hier eine Reservierung bekommt, und billig ist es auch nicht, Süße.«
»Vielleicht sollte er sich etwas mehr Mühe geben. Seine Trainingsjacke hat ein riesiges Loch unterm Arm, und er hat den ganzen Abend nur von seiner Mutter geredet.«
»Haben Sie schon mal überlegt, dass Sie ihn mit Ihrer überheblichen Art vielleicht nervös machen?«
Ich traute meinen Ohren nicht. »Sie wollen mir erzählen, ich wäre überheblich? Sie belauschen einfach mein Telefonat, geben ungefragt Ihren Senf dazu und starren dabei auch noch die ganze Zeit auf Ihr Telefon. Sie haben mich nicht ein einziges Mal angesehen, während Sie mit mir gesprochen haben.«
Die Finger des Blödmanns erstarrten mitten im Tippen. Dann hob er langsam den Kopf und ließ den Blick dabei lasziv von meinen Knöcheln über meine nackten Beine nach oben gleiten, an meinem Rocksaum hielt er inne, strich dann weiter meine Hüften hinauf, verharrte kurz auf meinen Brüsten und erreichte schließlich mein Gesicht.
»Ja, ganz genau. Das hier oben. Das sind meine Augen.«
Er stieß sich von der Wand ab und richtete sich in dem einsamen Lichtstrahl, der den Flur erhellte, zu voller Länge auf. Das Licht fiel auf sein Gesicht, und zum ersten Mal konnte ich ihn richtig sehen.
Im Ernst? Das hatte ich nicht erwartet. Bei der tiefen, rauen Stimme und seinem Benehmen war ich davon ausgegangen, dass er älter war und bestimmt einen spießigen Anzug trug. Doch dieser Kerl sah fantastisch aus. Jung und fantastisch. Er war komplett schwarz gekleidet - schlicht und elegant, dennoch hatte er etwas ganz Besonderes an sich. Sein goldbraunes Haar war auf diese erotische »Ist-mir-doch-egal-Weise« zerzaust, wirkte aber dennoch perfekt. Männliche Gesichtszüge - ein kräftiges Kinn mit Dreitagebart über leicht gebräunter Haut, eine gerade, markante Nase und große schokoladenbraune Augen mit sinnlichem Blick, die Lider auf halbmast. Und aus eben diesen Augen sah er mich jetzt durchdringend an.
Ohne den Blick von meinem zu lösen, hob er die Arme über den Kopf. »Wollen Sie mich vielleicht noch abtasten, bevor Sie entscheiden, ob ich es wert bin, sich mit mir zu unterhalten?«
Er mochte zwar gut aussehen, war aber eindeutig ein Arschloch. »Das ist nicht nötig. Aufgrund Ihres Benehmens habe ich mich bereits dagegen entschieden.«
Er ließ die Arme sinken und grinste. »Wie Sie meinen. Noch einen schönen Abend, Süße.«
Ich schnaufte, warf jedoch einen letzten verstohlenen Blick auf den attraktiven Mistkerl, bevor ich zu meinem Date zurückging.
Als ich mich wieder an unseren Tisch setzte, wartete Martin mit gefalteten Händen auf mich.
»Tut mir leid«, entschuldigte ich mich, »da war eine Schlange.«
»Dazu fällt mir eine lustige Geschichte ein. Als ich mal mit meiner Mutter in einem Restaurant war und sie zur Toilette ging .«
Martins Stimme verebbte zu einem Hintergrundrauschen, während ich auf mein Handy starrte und hoffte, dass es endlich klingelte. Verdammt noch mal, Jules, wo bist du, wenn ich dich wirklich brauche? Martin war gerade in der Mitte seiner Geschichte angelangt - jedenfalls vermutete ich, dass es die Mitte war -, als ich den Mistkerl bemerkte, den ich bei den Toiletten getroffen hatte. Er ging an unserem Tisch vorbei. Nach einem Blick auf meinen schwadronierenden Tischgenossen und in meine gelangweilte Miene grinste er mich schief an. Neugierig schaute ich ihm hinterher, um zu sehen, mit wem er hier war.
Kurven.
Blondierte Haare, hübsch, aber auf eine ordinäre Weise: Die üppige Oberweite quoll geradezu aus ihrem tief ausgeschnittenen Kleid hervor. Als er an ihren Tisch zurückkehrte, himmelte sie ihn mit verträumtem Blick an - woraufhin ich mit den Augen rollte. Trotzdem musste ich unwillkürlich immer wieder zu ihrem Tisch hinübersehen.
Als unsere Salate gebracht wurden, erzählte Martin gerade von der Blinddarmoperation, der sich seine Mutter kürzlich hatte unterziehen müssen, und meine Langeweile wuchs ins Bodenlose. Mein Blick musste eine Minute zu lang an dem Typen von der Toilette geklebt haben, denn er erwischte mich dabei, wie ich ihn anstarrte. Quer durchs Restaurant zwinkerte er mir zu, zog eine Braue hoch und prostete mir mit seinem Glas zu.
Blödmann.
Nachdem er mich einmal erwischt hatte, brauchte ich auch keinen Hehl daraus zu machen, dass ich ihn beobachtete, oder? Er war mit Sicherheit interessanter als mein Begleiter. Und er hatte ebenfalls keine Hemmungen, in meine Richtung zu sehen. Als der Kellner an seinem Tisch stehen blieb, sah ich, wie der attraktive Toilettentyp in meine Richtung zeigte und etwas sagte. Martin erzählte immer noch von seiner lieben Mama. Ich drehte mich um und blickte hinter mich, um herauszufinden, worauf der attraktive Mistkerl von der anderen Seite des Saals wohl gezeigt haben mochte. Als ich mich wieder umwandte, waren der Blödmann und seine Begleiterin bereits aufgestanden. Ich versuchte, seine Lippen zu lesen, und verstand einen Teil von dem, was er sagte. Anscheinend ging es darum, dass er sich zu einer alten Freundin setzen wollte. Dann kamen sie plötzlich an unseren Tisch marschiert.
Ob er Martin wohl stecken wollte, was er belauscht hatte?
»Reese! Bist du es wirklich?«
Was zum Teufel?
Ȁh . ja.
»Wow. Wie lange ist das her!« Er klopfte sich mit der Hand auf die Brust. »Ich bin's, Chase.« Bevor ich wusste, wie mir geschah, beugte sich der Blödmann (der offenbar Chase hieß) zu mir herunter und umarmte mich. Als ich in seinen Armen war, flüsterte er: »Spiel mit. Lass uns deinen Abend etwas interessanter gestalten, Süße.«
Ich war völlig perplex und beobachtete mit großen Augen, wie er sich anschließend Martin zuwandte und ihm die Hand reichte.
»Ich bin Chase Parker. Reese und ich kennen uns schon seit Ewigkeiten.«
»Martin Ward.« Mein Begleiter nickte.
»Martin, ist es dir recht, wenn wir uns zu euch setzen? Butter Cup und ich haben uns seit Jahren nicht gesehen. Ich wüsste zu gerne, wie es ihr inzwischen ergangen ist. Du hast doch nichts dagegen, oder?«
Chase wartete die Antwort auf seine Frage gar nicht erst ab. Stattdessen zog er für seine Begleiterin einen Stuhl unter dem Tisch hervor und machte uns bekannt.
»Das ist Bridget .« Er blickte sie hilfesuchend an, und sie sprang ihm zur Seite.
»McDermott. Bridget McDermott.« Sie lächelte. Dass es auf einmal eine Doppelverabredung geworden war und sich Chase offenbar nicht mehr an ihren Nachnamen erinnern konnte, schien ihr nichts auszumachen.
Martin hingegen wirkte enttäuscht, dass aus unserem Zweier jetzt ein Vierer wurde, obwohl ich mir sicher war, dass er das niemals aussprechen würde.
Er sah Chase an und richtete sich in seinem Stuhl auf. »Butter Cup?«
»So haben wir sie damals genannt. Reeses Peanut Butter Cups. Das waren damals meine absoluten Lieblingskekse.«
Nachdem Chase und Bridget Platz genommen hatten, herrschte einen Moment lang verlegenes Schweigen. Ausgerechnet Martin ergriff als Erster wieder das Wort. »Und? Woher kennt ihr zwei euch?«
Obwohl Martin uns beide angesehen hatte, wollte ich Chase klarmachen, dass er jetzt in der Bredouille saß. Dies war sein kleines Spielchen.
»Chase muss euch erzählen, wie wir uns kennengelernt haben. Eigentlich ist es wirklich eine lustige Geschichte.« Ich stützte die Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf die gefalteten Hände. Dann wandte ich mich ganz zu Chase um und blinzelte ihn mit einem verschlagenen Grinsen an.
Er zuckte nicht mit der Wimper und brauchte nur ein paar Sekunden, bis ihm eine Geschichte einfiel. »Lustig war im Grunde gar nicht so sehr, wie wir uns kennengelernt haben, sondern vielmehr das, was danach passierte. Als ich in der achten Klasse war, ließen meine Eltern sich scheiden, und ich musste auf eine neue Schule wechseln. Es ging mir ziemlich schlecht, bis ich in der ersten Woche im Bus unsere Reese hier kennenlernte. Eigentlich war sie viel zu hübsch für mich. Aber ich dachte, ich könnte sie ruhig fragen, ob sie mit mir ausgeht, und riskieren, dass sie mir einen Korb gibt. Schließlich hatte ich sowieso keine Freunde, die mich hinterher damit aufziehen konnten. Also:...