1860 München
Jedes Mal, wenn sie zusammen in einer Bar waren oder in einem Gemüseladen oder sonst wo, kam ein Barbesucher oder der Gemüsehändler oder sonst wer auf sie zu und erklärte ihnen, was für ein wunderbares Pärchen sie seien. Es war Verlass darauf. Einer sprach sie an. Immer ein Mann. Dabei waren sie keines - sie waren kein Paar. Er war sich nicht ganz sicher, ob er verliebt war in sie, und sie liebte seit einem Jahr einen Mathematikstundenten, der sie zwar liebte, aber keine Beziehung mit ihr haben wollte. Mit dem Mathematiker schlief sie und mit dem, der aussah, als sei er ihr Freund, verbrachte sie die Stunden davor.
Ach ja, und sie glaubte an Engel. Sprach mit ihnen, bevor sie zu Bett ging oder tagsüber oder nach dem Aufstehen. Sie gaben ihr die notwendigen Antworten, weswegen sie kein zufriedenes Leben führte oder ob sie mit siebenundzwanzig noch einmal ein anderes Studium beginnen sollte oder ob sie abends in Inglorious Basterds oder Coco Chanel gehen sollte. Die Engel sagten, Coco Chanel, und sie rief ihn an und sagte, Coco Chanel und er nur: Geht klar. Er wusste, dass sie nach dem Film zu ihrem Mathematiker gehen und wieder eine sagenhafte Nacht mit ihm verbringen würde, um Tags darauf todunglücklich zu sein, und sagte zu. Er würde auch früher hingehen, zu dem kleinen Kino am Rosenheimer Platz, und zwei Karten reservieren. Eigentlich wollte er in Inglourious Basterds und zusehen, wie Brad Pitt als jüdischer Leutnant ganze Bataillone sinnloser Nazis abschlachtete, aber er war beweglich. Gern hätte er die Skalps gesehen, die die coolen amerikanischen Nazijäger den hässlichen Deutschen nahmen, aber war auch mit den erlesenen Hutschöpfungen einer jungenhaften Französin einverstanden, die eigentlich Sängerin werden wollte, aber irgendwie bei Schere, Lineal und Nähnadel landete.
Stunden vorher schrieb er ihr eine SMS:
"Zieh dir etwas Vornehmes an! Ich komme mit Stock und Hut!"
Sie antwortete: "Wir werden gut aussehen, weil wir uns Gedanken darüber machen."
Sie kam in einem einfachen Kleid, das sie schon am Tag zuvor getragen hatte, und er mit schmaler, schwarzer Krawatte und hautfarbenem Hemd und einem stilsicher zerknitterten Jackett. Er fühlte sich bescheuert und ihr tat es ein bisschen leid. Als sie dann im Kinofoyer ihre langen, stofffreien Beine auf den niedrigen Beistelltisch legte, war alles wieder in Ordnung. Während der Filmvorführung berührten sich ihre Hände. Er stierte auf die Haut ihrer Knie und dachte, wie gern er dieses Knie berühren würde und sonst auch alles.
Ihre Geschichte hatte schon früher begonnen, vor einigen Wochen, in jenen außergewöhnlich warmen Septembertagen, als es nachts noch so heiß war, dass er und sie bis nach Mitternacht kurzärmlig auf den Stufen des Königsplatzes sitzen konnten. Es war ihr zweiter gemeinsamer Abend. Kennen gelernt hatten sie sich im Café an der Synagoge, am Tag zuvor. Er war in das Café hineingegangen und hatte sie mit einem leeren Tablett am Eingang stehen sehen.
Sie sah zweimal kurz hin zu ihm. Er sah sie den ganzen Abend an. Am nächsten Tag kam er wieder. Sie war auch da. Um sie nicht dauernd anstarren zu müssen, setzte er sich an einen Tisch auf der Terrasse. Sie bediente innen. Er war furchtbar nervös und blickte unentwegt auf die Außenwand der neuen, modernen Synagoge und studierte die fraktale Struktur ihrer Travertinverkleidung. Infolge einer kurzen Unachtsamkeit drehte er sich ruckartig um und sah durch die große Frontscheibe des Cafés ins Innere. Sie sah ihn an - in eben diesem Moment, und sein Blick schnellte zurück auf den menschenleeren, großen Platz. Nach zwei weiteren Stunden, die er mit dem Schreiben eines Gedichtes über den Adel der Einsamkeit verbracht hatte, war ihm in der Mittagssonne so heiß, dass er quer über den gepflasterten Platz zu einer ebenerdigen Springfontäne ging und seine Hosenbeine bis zu den Knien mit Wasser besprengte. Als er mit seinen Schuhen in den Händen und der nassen Hose entlang der Tische zurück an seinen Platz ging, straften ihn die Blicke einiger Cafébesucher ab. Und als er dann auch noch mit steifem Hohlkreuz wie angestochen auf seinem Zettel herumstrich, hatte ihn das Pärchen am Nebentisch bereits als seltsam eingestuft. - Das alles war ihm bewusst. Dasselbe Pärchen war gleichermaßen verblüfft, als plötzlich eine ihm unbekannte Kellnerin zu seinem Tisch kam und erklärte, dass sie ihn von Innen gesehen hätte und sie heute mit dem Arbeiten schon um Drei fertig sei, und ob er nicht Lust auf einen Spaziergang habe. Und dann stellte sie sich noch mit Namen vor. Er meinte, Ja, natürlich ... das ... das wäre schön. Sie schrieb ihre Handynummer auf den Zettel mit seinem Gedicht, und er meinte, er würde sie anrufen, gegen Vier.
"Gut!"
"Gut!"
Er versuchte sich noch kurz an seinem Gedicht und verwarf es schließlich als kindisch und peinlich. Er konnte sich nicht mehr auf seine Verse konzentrieren und versuchte, sich das Verhalten der Kellnerin zu erklären. Es wollte ihm nicht gelingen. Sie musste bemerkt haben, wie er sie beobachtete. Als er aufstand und ging, sah ihn der Mann des Pärchens vom Nebentisch mit großen Augen an und verfolgte seinen Abgang. Sie verabredeten sich telefonisch für Fünf in einem türkischen Restaurant am Roecklplatz.
Kurz vor Fünf stieg er von seinem Fahrrad und sah, wie sie ihr Rad eben an einer Straßenlaterne ankettete. Er dachte: Licht. Sie trug jenes schwarze Kleid und er bemerkte, dass sie sehr groß war. Am Tisch erzählte sie ihm zuerst, dass sie mit den Engeln rede und fragte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen, ob er das komisch fände.
"Was sagen sie dir denn?"
"Sie beantworten meine Fragen."
"Und was fragst du sie?"
"Ich frage sie, weswegen ich unzufrieden bin." Und sie lächelte und ihre Augen strahlten und zwei schneeweiße, zusammengepresste Zahnreihen kamen zum Vorschein.
Er dachte, was für gesunde, vitale Zähne! "Weswegen bist du unzufrieden?"
"Das kann ich dir nicht sagen."
"Wieso?"
"Weil du dann vielleicht gleich wieder gehst."
"Jetzt sag!"
"Da gibt es einen Typen. "
"Ja?"
"In den bin ich verliebt."
"Und?"
"Er will keine Beziehung mit mir."
Währenddessen kommt der türkische Besitzer an ihren Tisch, schickt den Kellner wieder weg, der gerade ihre Bestellung aufnehmen wollte, und fragt sie, was sie essen möchte und wo sie arbeitet.
"Im Café an der Synagoge!"
"Wann arbeitest du wieder da?"
"Weiß' noch nicht."
"Hm, wann?"
"Äh, ... am ... Dienstag ... wahrscheinlich."
"Ich komme vorbei!" Er zwinkert mit einem Auge und geht.
"Wollen wir zusammen Türkischen Honig essen?"
Er nickt.
"Oh, wie schön!" Ihr Ellbogen berührt seinen Arm und sie zieht ihn nicht weg und strahlt ihn an. Er erklärt ihr, dass er zwar nicht unbedingt an Engel glaube, aber sehr wohl an Energien. Der Kellner zum Beispiel, der sie vorher bediente, fürchte sie. Natürlich, ohne es zu wissen.
Er spüre unbewusst ihre Licht-Kraft. Doch er habe hier alles verdunkelt. Hier draußen. Die ganze Stimmung an den Tischen sei schlecht. Er könne das spüren.
"Das stimmt. Du hast recht!"
"Ich kann dunkle Stimmungen aber brechen." Er betrachtet ihre Augen.
Er ist sich nicht sicher, ob er an Engel glauben soll oder nicht. Er denkt, sie könnte einer sein. Ausschließen will er deren Existenz nicht. Sie könnte ebenso keiner sein ... und schlimmer.
Sie sagt: "Ich sehe dein Licht. Es ist total stark."
Sie sagt: "Du hast Angst vor deinem Vater."
Er: "Woher weißt du das?"
Ein Lächeln von ihr.
Er erwidert: "Es stimmt. Beides stimmt."
Zwei breite, entblößte Zahnreihen.
Er sagt: "Du hast tolle Zähne."
"Sind sie zu groß?"
"Nein ..." Er stiert auf ihre riesigen Schneidezähne. "... mach mal weiter auf!"
Sie: "Was?"
Er: "Deinen Mund."
"Wieso?"
"Bitte! Weil ich deine Kauflächen sehen will."
"Wieso willst du meine Kauflächen sehen!?"
"So, halt."
Er denkt, sie macht nicht mit. Sie macht nicht alles mit.
Sie sieht ihn stumm an, mit geschlossenen Lippen. Dann nimmt sie einen Schluck von ihrem Hellen. Er zieht die Arme an den Körper. Er denkt, ich bin dämlich, komisch und seltsam. Und: 'Es ist nicht so, wie es ist. Wir sind nicht gleich. Wir sind verschieden.'
Sie entschuldigt sich für einen Moment und geht ins Innere des Restaurants.
Der barsche Kellner geht an ihrem Tisch vorbei,...