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Er hat seit Langem wieder von Jo geträumt. Sein früherer Freund lebte noch in dem Traum, aber es stand nicht gut um ihn. Er sah alt aus, blass und ausgemergelt. Niemand hatte sich um ihn gekümmert. Seit vielen Jahren. Thomas Aden fühlte sich schuldig und erleichtert zugleich, als er am späten Vormittag erwachte. Schuldig, weil er seinen Freund im Stich gelassen hatte, zumindest im Traum, und erleichtert, weil Jo noch lebendig war, eben auch nur im Traum.
Hinter seinen Vorhängen konnte Tom, so wurde er von allen genannt, schon den sattblauen Julihimmel und die grelle Sonne erahnen. Er erhob sich langsam und streifte sein verschwitztes Schlaf-T-Shirt über den Kopf. Während er auf der Bettkante saß und mit seinen Füßen die Lederlatschen in seine Richtung zog, lösten sich die Schuldgefühle auf, genauso wie die Erleichterung.
Joachim Herrmann war tot, seit 18 Jahren schon. Sternhagelvoll in einem alten, löchrigen Boot auf die Außenalster gerudert und ertrunken. Tom hatte gleich ein ungutes Gefühl gehabt, als Jo ohne Begründung und Ankündigung seiner Kanzlei für einige Tage ferngeblieben war. Er hätte niemals einfach so wichtige Mandantentermine platzen lassen. Seine Partner waren zunächst wütend, dann aber ebenfalls besorgt. Fünf Tage später erhielt Tom die niederschmetternde Nachricht. Eine Joggerin hatte Jos Leiche entdeckt, die sich an den Ästen eines bis ins Wasser des Langen Zuges reichenden Baumes verfangen hatte. Kurze Zeit darauf fanden Taucher ein gesunkenes Ruderboot mit Jos Spuren. Niemand vermisste ein Boot. Außerdem konnte sich niemand erinnern, dass Jo je ein Boot besessen hätte. Wahrscheinlich im Suff irgendwo entwendet, vermuteten die Beamten und schlossen die Ermittlungen bald ab. Im Abschlussbericht der Kripo stand am Ende der Untersuchungen einfach: »Unnatürlicher Tod«.
Tom hatte sich damals weder Selbstmord noch Unfall vorstellen können. Als Genussmensch hat Jo zwar gerne Alkohol getrunken, aber nie bis zum Exzess. Außerdem führte er ein ausgefülltes Leben, soweit Tom das beurteilen konnte. Er besaß viele Freunde, hatte ein gutes Verhältnis zu seiner Familie im Speziellen und zu Frauen im Allgemeinen. Mit seinem Alain-Delon-Gesicht konnte er das spielend leicht bewerkstelligen. Geld war auch genug vorhanden. Keine Sorgen weit und breit. Mit 38 Jahren war Jo ein rundum glücklicher Mann gewesen, der bereits viel erlebt hatte und dem sicher noch viel mehr bevorstand. Und was ebenfalls wichtig war: Mit Tom und Peter Bredenfeld verband ihn eine innige Freundschaft, die bis in ihre frühe Jugend zurückreichte. Damals mit 17 haben sie zusammen ihre ersten Frauen erobert, Drogen probiert, die Schule geschwänzt, sind in den Süden getrampt und so weiter. Egal, was passiert war, sie haben zusammengehalten. Tom und Brede waren sich sicher gewesen, dass Jo ihnen von Problemen erzählt hätte, wenn es welche gegeben hätte. Sie haben sich regelmäßig getroffen und über alles geredet. >Gut, offenbar nicht alles<, dachte Tom. Schließlich hatte Jo laut Kripo-Ermittlungen eine Affäre mit der Ehefrau des damaligen Finanzsenators von Hamburg. Davon wussten weder Tom noch Brede etwas. Der Senator stand zunächst unter Mordverdacht. Motiv: Eifersucht. Das handfeste Alibi entschärfte jedoch schnell die Anschuldigungen, denn an dem Abend, an dem er Jo betrunken gemacht und ins Boot gesetzt haben soll, hatte der Senator sich mit seiner Assistentin vergnügt. Außerdem fand man keinerlei Spuren, die auf ihn hingedeutet hätten. Kaum entlastet, zögerte der Senator keine Sekunde, sich scheiden zu lassen, um dann ebenso schnell seine Assistentin zu heiraten, mit der er schon seit Jahren ein Verhältnis gehabt haben soll. Der Kriminalkommissar war dann zu seiner ersten Vermutung, also »Unfall oder Selbstmord« zurückgekehrt.
Nachdem die Akte »Joachim Herrmann« geschlossen worden war, haben Tom und Brede so gut es ging versucht, weiterzumachen. Das war ihnen allerdings schwerer gefallen als gedacht. Überall waren sie über Erinnerungen an Jo gestolpert, immer wieder hat Jos Meinung oder wenigstens sein Lachen gefehlt. Es dauerte einige Jahre, bis er verblasst war, auch in ihren Träumen. In den letzten Jahren hat Tom fast gar nicht mehr von Jo geträumt. Warum gerade letzte Nacht?
Tom stützte sich mit seinen Armen vom Bett ab und stand langsam auf. Er fühlte sich wie gerädert. Der Schlaf hatte ihn spät erlöst, vielleicht erst als es dämmerte. Zum Schlafen war er viel zu unruhig gewesen, sogar verängstigt, auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte. Vor dem Schloss hat jemand gestanden und zu ihm hochgeblickt, als er wie jeden Abend am Fenster seines Salons in der zweiten Etage stand, die reine Landluft einatmete und den Geräuschen der beginnenden Nacht lauschte. Aber das allein wäre vielleicht gar nicht so schlimm gewesen. Was ihm Angst machte, war diese Geste: Die Person zog die waagerecht gehaltene Hand wie ein Messer am Hals vorbei. Als Tom an das hohe Fenster getreten war, sah er noch niemanden. Am Gebäude gab es zwei Scheinwerfer, die automatisch leuchteten, sobald es dunkel wurde. Erst nach einer Weile kam die schwarze Gestalt hinter der alten Eiche hervor und bewegte sich langsam auf das Schloss zu, wie ferngesteuert. Tom musste an den Film »Die Nacht der lebenden Toten« von Romero denken, den er mit zwölf Jahren zum ersten Mal gesehen hat. Noch auf dem Rasen war die Gestalt stehengeblieben und hatte nach oben geschaut, zu Tom. So zumindest war es ihm vorgekommen. Er hatte weder ein Gesicht, geschweige denn Augen erkennen können. Die Person war vollkommen in schwarz gekleidet, und über den Kopf war eine Kapuze gezogen. Auch in der Kapuze war nur Schwarz zu sehen, als würde man in ein Loch blicken. So viel stand fest: Ein Spaziergänger, der den warmen Sommerabend genießen wollte, war das nicht.
Wer hatte sich um 23 Uhr hierher in diese Einöde verirrt? Das Schloss Ulrichshusen lag von den nächsten Ortschaften ein Stück entfernt. Die Leute, die in den Häusern an der am Schloss entlangführenden Seestraße lebten, kannte Tom. Gäbe es etwas zu besprechen, würden sie das am Tag erledigen. Außerdem hatte dieser seltsame Auftritt etwas Bedrohliches. Es gab jedoch kein Zerwürfnis mit auch nur einem seiner Nachbarn. Allesamt waren liebenswürdige und offenherzige Leute. Dem Klischee vom maulfaulen und eigenbrötlerischen Mecklenburger wurde hier niemand gerecht. Alle freuten sich, dass ins Schloss endlich wieder Leben einzog. Nicht zuletzt wegen des touristischen Reizes, der den bereits ansässigen Ferienunterkünften nützen würde. Kurz und gut: Nächtliche Besuche mit Drohgebärden passten hier zu niemandem. Wer also dann?
Es gab noch die guten Seelen des Schlosses: Carmen Olschewski und Katja Naumann, für Freunde Kat. Die erste war Köchin und Haushälterin, die zweite Gärtnerin und Hausmeisterin, jeweils in Personalunion. Letztere hatte Tom bei der Vorstellung für einen Mann gehalten. Der optische Eindruck war bereits durch einen akustischen am Telefon vorbereitet worden, als Kat sich mit tiefer Stimme als »jemand, der zupacken kann«, angepriesen hatte. Genau das, was Tom hier brauchte. Dann stellte sich der Gärtner als Katja vor. Die Frauen waren ein Paar und aus Rostock in das neben dem Schloss liegende Verwalterhaus gezogen. Anpacken konnten sie wirklich. Aber auch sie kamen nicht infrage, sich vermummt vor das Schloss zu stellen, um ihm Angst zu machen.
Tom streckte sich, schlurfte zu den Fenstern und öffnete eins. Dicke Sommerluft drückte sich ins Zimmer und nahm ihm für einen Moment fast den Atem. Wie gut doch die dicken Schlossmauern vor der Hitze schützten. Wärme und Licht verbesserten schlagartig seine Stimmung. Irgendwo auf seiner Etage wurde gebohrt und gehämmert. Der Innenausbau lief auf Hochtouren. Eigentlich wollte Tom bereits seit Beginn des Sommers vermieten, doch die beauftragte Baufirma hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht: Nachdem sie ihre Termine nicht eingehalten hatte, musste sie auch noch Konkurs anmelden, mit seiner Vorauszahlung von 200.000 Euro in der Konkursmasse. In der Hoffnung, mit der neuen Firma einen besseren Griff getan zu haben, ertrug er nun den gesamten Sommer lang noch Baulärm und konnte erst ab Herbst vermieten.
Das Wichtigste aber schien gesichert: sein 55. Geburtstag. Am 21. August sollten die Gästezimmer unter dem Dach fertig sein. Damit könnten seine Freunde und Familie nicht nur in der Woche um seinen Geburtstag, sondern zu jeder Zeit bei ihm komfortabel übernachten. Urlaubern sollten künftig die Räume in der ersten Etage und weitere im Dachgeschoss zur Verfügung stehen. Chambre d'hôtes schwebte ihm vor. Täglich Frühstück, abends Menü - die meisten Zutaten gab der Schlossgarten her. So kannte er es aus seinen zahlreichen Frankreichreisen.
Wieder kehrten seine Gedanken zu dem unheimlichen Besucher vom Vorabend zurück. Dabei fiel Tom plötzlich jemand ein, der ihn tatsächlich schon bedroht hatte: Harald Großmann, der insolvente Bauunternehmer. Tom hatte das Gericht eingeschaltet, um sich seine 200 000 Euro zurückzuholen. Es sah gut für ihn aus, und schlecht...
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