1. Kapitel
Dafür sorgten dann die schwarzblütigen Vorstandsmitglieder oder ihre Familienmitglieder, denn die Kanzlei beschäftigte zum größten Teil auch fähige menschliche Anwälte, die von dem dämonischen Treiben ihrer Bosse nichts wussten.
Das Bedauern, das Gordon Cramer zwar ausgesprochen hatte, war ihm rein äußerlich überhaupt nicht anzusehen, und einmal mehr wurde sich Kenneth Harding bewusst, mit welcher Sorte von Ungeheuern er es zu tun hatte. Er verstand nur noch nicht ganz, warum sein Denken nicht in ähnlichen Bahnen verlief, warum er ihnen nicht hörig war, sondern sie im Grunde verabscheute, ja gar hasste! Der Gang zur Kanzlei war notwendig geworden, wenn er seine weiteren Pläne in Gang setzen wollte. Offiziell galt er als tot, denn Zakum persönlich hatte ihn ja beseitigt. Nun, da er ein Vampir war, stellten die Rechtsanwälte keine besonderen Fragen, als er mit seinem Anliegen an sie herantrat. Zakum hatte Carina und Jasmine aufgetragen, die Jugendstilvilla zu veräußern, doch irgendwie war Ken daran gelegen, gerade dieses Bauwerk, in dem alles seinen Anfang genommen hatte, in Beschlag zu nehmen und es zum Heim seiner zukünftigen Sippschaft zu erküren. Da die beiden Vampirinnen noch nicht die Zeit gefunden hatten, den Anwälten entsprechende Anweisungen zu geben, lag nun alles in Kens Hand - er konnte die Order Zakums entsprechend umformulieren. Zuerst hatte er befürchtet, der Lordkanzler könne hinter seine Machenschaften kommen und ihn endgültig ausradieren, aber später hatte er sich mit dem Gedanken beruhigt, dass das Thema Jugendstilvilla für Zakum erst einmal abgeschlossen war. Was kümmerte ihn schon die eine oder andere Vampirsippe in London?
»Ich vermute, dass der Butler die Schuld an dem Feuer trug«, äußerte Ken auf den eingehenden Satz des Anwalts hin. »Wäre ich nur da gewesen ...«
»Machen Sie sich keine Vorwürfe«, beruhigte Cramer. »Schlimme Dinge passieren manchmal.«
Er zog unter dem Stapel seines Papierwustes ein bestimmtes Blatt hervor, und es war bei der Unordnung erstaunlich, dass er sich nicht erst stundenlanger Sucherei ergeben musste. Harding vermutete, dass auch in diesem Fall die Magie eine Rolle spielte.
»Ich sehe, mein Bruder und Templeton haben Sie unter dem Namen Kenneth Spencer als Erben eingetragen. Geschickt eingefädelt, Mr. Harding. Und nun hat Ihnen Zakum aufgetragen, das Grundstück zu veräußern?«
Harding nickte.
»Hm«, murmelte Cramer. »Ich habe zwar nicht mit meinem Bruder direkt darüber gesprochen, aber ich hatte immer das Gefühl, dass Sie ein Mensch wären ...«
»So kann man sich täuschen«, erwiderte Ken. Es lag in der Natur der Schwarzblütler, die ihnen anhaftende dämonische Aura zu erspüren. Dank des schwarzen Blutes von Carina musste eine solche Ausstrahlung auch Ken anhaften, sodass der andere ihn als Dämon erkannte, obwohl er in Wahrheit nur ein untoter Vampir war. Ohne diese besondere Nebenwirkung hätte Harding einen Haufen Fragen aufgeworfen, denn Cramer wäre sicherlich neugierig gewesen, wie ein Vampiropfer bei helllichtem Tage in sein Büro spazieren konnte, und welcher Teufel den Lordkanzler geritten haben mochte, dass er einen Untoten mit weiteren Geschäften betraute. So aber ging Harding aufgrund seiner Aura als Schwarzblütler durch und genoss einige Freiheiten.
»Es soll ein Scheinverkauf werden«, erklärte er. »Wir wollen den Dämonenkiller glauben machen, dass wir uns aus der Villa zurückgezogen haben, weil wir sie als wertlos erachten. In Wirklichkeit bleibe ich dort wohnen, jedoch unter dem Namen Ken Harding.«
Cramer machte sich einige Notizen auf dem Blatt. Dann kramte er ein Diktiergerät hervor und sprach ein paar Erläuterungen für seine Sekretärinnen auf Band, ehe er sich wieder Harding zuwandte.
»Gut, wir machen einen Scheinverkauf von Spencer auf Harding, richten ein Konto auf Ihren Namen ein und überweisen den Kaufbetrag, damit ihn auch die Banken nachvollziehen können. Das ist überhaupt kein Problem.«
Harding klatschte in die Hände. »Prima, ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann.«
»Dafür sind wir da«, erwiderte Cramer, erhob sich und beugte sich quer über den großen, vollgestopften Schreibtisch, um Ken die Hand zu reichen. »Die McTires waren recht wohlhabend. Zwar ist das Haus niedergebrannt, aber auf ihren Konten bei englischen Banken und in der Schweiz haben sich Summen von knapp über einhunderttausend englischen Pfund angesammelt. Ich werde veranlassen, dass die Beträge Ihrem Konto gutgeschrieben werden.«
»Das wäre nett«, sagte Ken einfach nur und musste aufpassen, nicht allzu viel Freude über den beträchtlichen Gewinn zu zeigen.
»Wenn es keine weiteren Fragen gibt, entschuldigen Sie mich jetzt, ich habe noch eine Menge um die Ohren. Ansonsten wissen Sie ja, wo Sie uns finden.«
»Richtig.«
Harding drückte kurz die Hand des anderen und beeilte sich dann, aus dem Büro zu kommen.
Viel zu glatt!, dachte er. Es war zwar erfreulich, dass er alles schnell und sauber über die Bühne gebracht hatte, allerdings passte es irgendwie nicht in den Stil der Schwarzen Familie hinein. Ken hatte mit wesentlich mehr Komplikationen gerechnet. Irgendwie hatte er das ungute Gefühl, dass die Angelegenheit noch ein Nachspiel haben könnte - er musste auf der Hut sein!
Nachdem er die Tür zu Cramers Büro hinter sich geschlossen hatte und gedankenlos am Schreibtisch der Chefsekretärin vorbeigehen wollte, nahm er aus den Augenwinkeln wahr, dass die Person nicht mit der übereinstimmte, die ihn vorhin empfangen hatte. Da wandte er doch leicht den Kopf und kam augenblicklich auf andere Gedanken. Vor einer halben Stunde hatte noch eine steinalte Schabracke dort gesessen, doch die junge Frau, die jetzt mit flinken Fingern über die Tastatur einer elektronischen Schreibmaschine huschte, war der reinste Augenschmaus für Harding. Sie mochte nicht älter als dreiundzwanzig sein, hatte eine Top-Figur und brünettes, hochgestecktes Haar, das ihr in vereinzelten Strähnen an den Seiten herabfiel. Das dezent aufgetragene Make-up unterstrich ihre natürliche Schönheit, statt sie zu verschandeln, und selbst die modische Brille, die ihre rehbraunen Augen verzierte, lieferte ihren Beitrag dazu, dass Ken Harding auf den ersten Blick hin und weg war.
»Soll ich ein Glas holen?«, sagte sie.
Ken war gar nicht aufgefallen, dass sie sich zu ihm umgedreht hatte.
»Bitte?«, fragte er.
»Um Ihre Augen aufzufangen, falls sie herausfallen sollten«, erwiderte die Sekretärin mit einem Augenzwinkern.
Wäre er noch menschlich gewesen, wäre er wohl in dieser Sekunde errötet, obwohl er eigentlich immer schon Erfolg beim weiblichen Geschlecht gehabt hatte. Aber er war kein Mensch mehr, und die Kräfte, die er unfreiwillig erhalten hatte, befähigten ihn, noch mehr Macht und Faszination auf die Frauen auszuüben als in seinem früheren Leben.
»Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit«, brachte er hervor und hielt ihr seine Hand hin. »Mein Name ist Ken Harding, ich bin ein Klient Ihres Chefs.«
Zögernd näherte sich die Hand der Sekretärin der seinen, doch als sie ihm dabei in die Augen blickte, verlor sie sich in seinem hypnotischen Bann, der allen Vampiren anhaftete.
»Ich fand es nicht unhöflich«, gestand sie. »Eher ein Kompliment.«
»Danke, aber nun sind Sie dran«, forderte er sie auf.
»Deborah Scarwind. Ich bin ab mittags in der Kanzlei.«
»Und ich habe mich schon gefragt, wie sich die alte Schnepfe in ein so wundervolles Geschöpf verwandeln konnte«, schmeichelte Ken Harding und erntete dafür ein in seinen Augen bezauberndes Lächeln. Er wollte noch etwas hinzufügen, als die Wechselsprechanlage aufleuchtete und kurz darauf die Stimme Cramers zu hören war.
»Miss Scarwind, kommen Sie in mein Büro!«
»Kein bitte?«, fragte Ken, nachdem die rote LED erloschen und damit die Verbindung zum Chefbüro getrennt war.
Deborah zuckte die Achseln. Sie stand auf und sagte im Vorbeigehen: »So ist er halt.«
So sind Dämonen halt, verbesserte Ken in Gedanken. Laut rief er: »Haben Sie heute Abend schon etwas vor?«
Er wollte sich die einmalige Chance jetzt nicht entgehen lassen. Etwas in ihm drängte ihn dazu, diese Frau auszuführen, sie zu besitzen.
Deborah drehte sich kurz vor der Tür ihres Chefs noch einmal um. Sie lächelte und hatte eine entschuldigende Ausrede auf den Lippen, die sie aber in eine positive Bestätigung umwandelte, als sie sich erneut in Hardings hypnotischen Blick verfing.
»Um acht?«, fragte sie.
»In Ordnung, treffen wir uns bei mir. Baring Road, eine Villa, die im Jugendstil gebaut wurde.«
Die Sekretärin nickte kurz, drückte dann die Klinke hinunter und verschwand im Chefbüro.
Harding atmete tief durch und ballte in Gedanken triumphierend die Faust. Er verließ die Kanzlei, nahm sich ein Taxi und fuhr auf direktem Wege zu seinem neuen...