1. Kapitel
Nun nicht mehr! Er hatte all seine Ersparnisse in eine Überlebensausrüstung investiert, dann auf einem Frachtschiff in die Südsee angeheuert und war letztendlich mit einem kleinen, gekauften Motorboot hier gelandet - einer Insel, die zu klein war, um auf irgendeiner Karte verzeichnet zu sein. Weit weg von jeglicher Fluglinie, ein zu unbedeutendes Fleckchen, als dass es von Spionagesatelliten beobachtet werden könnte. Das war die Freiheit!
Er hatte seiner Familie - Frau und zwei Kinder hinterließ er - einen Abschiedsbrief und ein wenig Geld dagelassen. Wohin er gegangen war, wusste niemand. Schon längst hatte er gespürt, dass er nicht mehr ins Familienleben, nicht mehr in den Alltag passte. Die Flucht in die Einsamkeit war das Einzige, was ihn vor einem geistigen Kollaps bewahren konnte. Wahrscheinlich würden Psychiater das genaue Gegenteil behaupten, nämlich dass er schon längst durchgeknallt war, wenn er für das Leben auf einer Insel seine Familie im Stich ließ und seinen Beruf als leitender Angestellter einer Lebensmittelkette einfach wegwarf für ... ja, für was eigentlich?
Ein Leben in Freiheit!, sagte sich Emilio Gonzalves selbst.
Er war vor vier Tagen hier eingetroffen und hatte sich schon bestens mit seiner neuen Heimat vertraut gemacht. Es gab alles, was er zum Leben brauchte im Überfluss, und er hatte alle Zeit der Welt, sich die Umgebung anzusehen. Natürlich konnte er in den ersten Tagen nicht auf einige Errungenschaften der Menschheit verzichten, wenn er in der Wildnis überleben wollte. So hatte er sich ausreichend mit Medikamenten eingedeckt, die die ärgsten Krankheiten bekämpfen konnten. Auch ein Einmannzelt hatte er mitgenommen, das ihm bei Regenfall Unterschlupf gewähren sollte, zumindest so lange, bis er sich selbst eine Hütte gebaut hatte. Er war nicht unbedingt ein Naturfetischist und musste sich selbst beweisen, zu welchen Taten er fähig war - er dachte eher in praktischen Bahnen, und es war für ihn kein Problem, Bäume mit einer dieselbetriebenen Kettensäge zu fällen, um eine Unterkunft zu errichten.
Aber das alles hatte noch Zeit. Zuerst wollte er seine Freiheit genießen, so als mache er einen ausgedehnten Urlaub. Dafür würde auch das Zelt erst einmal genügen. Gonzalves machte sich auch nichts vor, was die Beschaffung von fleischlicher Nahrung anbetraf. Er traute sich nicht zu, Wild mit Speer oder Pfeil und Bogen zu erlegen - so hatte er sich ein Präzisionsgewehr mit mehreren Tausend Schuss Munition besorgt und ein ausreichendes Übungstraining absolviert, ehe er hierher aufgebrochen war. In den letzten Tagen war er nicht unbedingt erpicht darauf gewesen, seine erworbenen Zielkünste an lebenden Tieren auszuprobieren, und hatte sich mit auf den Bäumen und in Sträuchern wachsenden Beeren und Zitrusfrüchten begnügt.
Vitaminreich und gesund, hatte er sich dabei eingeredet.
Doch Ananas und Beeren hingen ihm bald schon zum Hals heraus, und das hartnäckige Knurren in seinem Magen erinnerte ihn daran, dass heute Fleisch auf dem Speiseplan stand. Bevor er sein Wild jagte, richtete Emilio Gonzalves eine Feuerstelle nahe dem Zelt her. Auch hierbei griff er auf gekaufte Dinge wie Anzünder und Grillgestell zurück. Man gönnte sich ja sonst nichts.
Als er endlich alles erledigt hatte, war es bereits Mittag. Gonzalves griff nach dem Gewehr und lud das Magazin. Er verließ den Strand, an dem er das Zelt errichtet hatte, und marschierte landeinwärts. Sein Weg führte über eine Düne direkt in den dschungelähnlichen Wald hinein. Mit einer Machete bahnte er sich einen Pfad durch das Gestrüpp und die unzähligen Farne. Natürliche Wege schien der Regenwald nicht zu haben.
Emilio sah sich aufmerksam um, doch die Pflanzen wuchsen teilweise so dicht beieinander, dass er kaum mehr als ein paar Meter weit schauen konnte. So würde er nie Tiere ausmachen - er musste sich irgendwo auf die Lauer legen. Aber vielleicht gab es von weiter oben eher die Möglichkeit, seine Beute zu beobachten. So stieg er weiter auf und kämpfte sich mühselig durch den Urwald. Schweißgebadet erreichte er schließlich eine Lichtung, von der aus tatsächlich ein Pfad zu den Bergen hinauf führte. Überrascht und neugierig geworden folgte Emilio dem Weg. Unterwegs hielt er mehrmals an und trank fast die Hälfte seines Wasservorrats aus. Er hoffte, dass er auch hier im Gebirge auf eine Süßwasserquelle stieß.
Der Weg schlängelte sich noch eine geraume Zeit durch den Dschungel und mündete schließlich vor einer Bergwand. Emilio konnte sich nicht des Gedankens erwehren, dass der Pfad künstlich angelegt worden war.
Vielleicht bin ich doch nicht der Erste, der diese Insel betreten hat, sinnierte er und entschloss sich, falls er tatsächlich auf Spuren anderer Menschen stoßen sollte, und seien es nur Eingeborene, sofort kehrtzumachen und sich eine andere Insel zu suchen.
Neben dem Bergmassiv reichte der Pfad weiter hinauf und bog dann links ab. Emilio verzog den Mund, gab sich aber einen Ruck und wollte zumindest noch herausfinden, was hinter dieser Biegung lag. Er legte die letzten zwanzig Meter zurück und war überrascht, auf den Eingang zu einer Höhle zu stoßen. Interessiert ging er näher heran und nahm die mitgebrachte Taschenlampe vom Gürtel. Als er die ersten Schritte in die Höhle gesetzt hatte, stellte er fest, dass das künstliche Licht gar nicht notwendig war, da irgendeine fluoreszierende Substanz von den Wänden strahlte und ausreichend Licht spendete, um zumindest den Weg zu sehen. Die stickige und feuchte Luft wollte Emilio zuerst veranlassen, wieder zurückzugehen, doch die Neugierde obsiegte. Der niedrige Gang wand sich tiefer in den Fels hinein und mündete in eine größere Grotte. Auch hier war es seltsam hell, sodass Emilio sofort erkennen konnte, in eine Sackgasse geraten zu sein. Doch er erkannte noch mehr ...
Die Frau war in schwarzes, enges Leder gekleidet, das bei der kleinsten Bewegung knirschte. Sie hockte in der Mitte der Grotte auf dem Boden und betrachtete nachdenklich ein Häufchen Asche, wie es fein durch ihre behandschuhten Finger zu Boden rieselte. Als die letzte Flocke ihre Hand verlassen hatte, zog eine leichte Brise auf. Irritiert schaute sich Gonzalves um, konnte aber keinen Auslöser für den aufkeimenden Wind ausmachen. Der Aschestaub wehre in alle Richtungen davon.
Emilio interessierte in diesem Moment aber gar nicht mehr, woher die Böe kam oder was die Frau allein auf einer so verlassenen Insel zu suchen hatte. Alles, was seinen Blick ausfüllte, war das weibliche Wesen selbst. Mit seinen Augen zog er ihre hinreißenden Formen nach. Ihre Haut war tiefbraun, dunkler noch als seine. Und die langen, schwarzen Haare fielen lockig bis weit auf ihren Rücken. Als sie ihren Kopf zu ihm wandte, erkannte er, dass sie negrider Abstammung war, wenn auch ihre Nase schmaler und zierlicher war, als man es sonst bei diesem Typ vermutete. Als sich ihre Blicke trafen, fühlte Emilio ein schwaches Prickeln in seinen Augen. Dann war ihm, als tauche etwas von außen durch seine Pupillen in seinen Körper, seine Gedanken.
Das war der Augenblick, an dem Jesus Emilio Gonzalves zu einem reinen Beobachter wurde. Er konnte nichts von dem, was um ihn und mit ihm geschah, noch steuern. Wie eine willenlose Marionette stand er am Eingang der kleinen Grotte, unfähig, sich auch nur in irgendeiner Weise zu bewegen. Emilio wusste selbst nicht, wie ihm geschah - aber noch gab es keinen Grund zur Beunruhigung.
Die farbige Frau erhob sich und stolzierte hüftschwingend auf den mexikanischen Aussteiger zu. Ihr Blick wich dabei für keine Sekunde von seinen Augen, und je näher sie kam, desto unwohler fühlte sich Emilio plötzlich. Von der Frau ging eine unbekannte Ausstrahlung aus, etwas, das Gonzalves nie zuvor in seinem Leben gespürt hatte. Und jetzt war es einfach da. Unerklärlich!
Das Kribbeln in seinen Augen nahm zu, und mit einem Mal verschleierte sich seine Sicht. Nebelgespinste huschten vor seinen Augen her, bläuliche und violette Fäden tanzten auf und ab und schienen zu der Fremden hinüberzugleiten. Fasziniert beobachtete Emilio für eine kurze Weile das Spektakel.
Dann kam der Schmerz!
Aus dem leichten Kribbeln wurde ein glühendes Stechen. Er versuchte zu blinzeln, die Lider ganz zu schließen, aber die Motorik seines Körpers ließ dies nicht zu. Er war in den Bann der Fremden geraten, und nur sie konnte für all dies verantwortlich sein. Alles in Emilio schrie danach, sich abzuwenden und davonzulaufen, aber sein Leib gehorchte einfach nicht mehr. So musste er untätig mit ansehen, wie die Frau ihn erreichte. Das Brennen in den Augen trieb ihm die Tränen ins Gesicht. Nur noch verschwommen nahm er sein Gegenüber wahr.
Gran dios, ayuda!, dachte Emilio und wurde sich mit einem Mal bewusst, dass er sich besser eine andere Insel ausgesucht hätte.
Die Fremde legte ihre Hände auf seine Schultern und zog ihn zu sich heran. Gonzalves hatte das Gefühl, als würden ihm die Augen platzen, dann nahm die Hitze, die sich bis in sein Hirn fortgepflanzt hatte, plötzlich ab. Die Schlieren zogen an seinen Augen vorbei, und sein Blick klärte sich wieder. Er sah das...