2. Kapitel
Der Kloß in Toshiro Ishidas Kehle hatte die Ausmaße einer männlichen Faust angenommen. Er glaubte daran ersticken zu müssen, würgte verzweifelt, doch er konnte sich nicht erbrechen. Die Schrecken, die er gerade noch erlebt hatte, lähmten seinen Verstand. Fassungslos starrte er in die Höhle hinab und konnte nicht begreifen, was dort geschehen war. Da hing der nackte Körper seiner Verlobten Minako, bleich wie ehedem, anmutig schön ... und tot!
Die dunklen Gestalten in der Grotte waren für den Tod seiner Geliebten verantwortlich. Und er konnte sich beim besten Willen keinen Reim darauf machen, wie ihr Brustkorb von unsichtbarer Hand geöffnet worden war. Er sah nur ihre leichenblasse Gestalt, die vor Schmerz aufschrie - dann die Unmengen an Blut, die in Sekundenschnelle ihren Körper verließen. Kostbarer Lebenssaft! Einem Impuls folgend wäre Toshiro Ishida fast hinuntergesprungen, um das hervorsprudelnde Blut aufzufangen und in den Körper zurückzuführen, so unsinnig dies auch war. Doch stattdessen war sein Verstand nur zu einem kehligen Aufschrei fähig - einem Laut, der zu seinem Verderben führen sollte, denn just in diesem Moment fuhren die unten Versammelten herum und schauten zu ihm hinauf. Toshiro sah nur mit verschwommenem Blick, was dort geschah. Erst ein greller Blitz holte ihn in die Wirklichkeit zurück und machte ihm bewusst, in welcher Gefahr er selbst schwebte. Für die Dauer eines Sekundenbruchteils wollte es ihm gleichgültig sein, was mit ihm geschah, denn mit Minakos Tod war auch sein Leben sinnlos geworden - doch der nüchterne Verstand vertrieb die suizidären Gedanken und redete ihm ein, dass Minako keineswegs gewollt hätte, wenn er nun auch noch sein eigenes Leben fortwarf.
Gesteinssplitter prasselten auf ihn nieder und hinterließen blutige Schrammen in seinem Gesicht. Von der Explosionsdruckwelle wurde Toshiro zurückgeschleudert und gegen die hinter ihm liegende Wand gepresst. Er stöhnte vor Schmerzen auf, als sich etwas Hartes in seinen Rücken bohrte. Für einen Augenblick blieb ihm die Luft weg, wohl aber vernahm er die Worte, die von unten aus der Grotte zu ihm hinaufwehten. Sie brüllten Anweisungen, dass man ihn schnappen sollte. Er wusste, dass er so wie Minako und all die anderen bedauernswerten Geschöpfe, die noch apathisch an den Seilen hingen, enden würde, wenn sie ihn erwischten. Ohne weiter zu zögern, sprang Toshiro Ishida auf die Knie und kroch den Gang zurück, den er gekommen war. Sobald es die niedrige Höhlendecke zuließ, dass er wieder aufrecht gehen konnte, stemmte er sich hoch und rannte aus Leibeskräften weiter, als wäre der sprichwörtliche Teufel in seinem Nacken, was bei näherer Betrachtung gar nicht mal so falsch war.
Instinktiv fand er den Weg wieder, den er gekommen war, doch sobald er den Höhlengang verließ und wieder in den Turm einkehrte, brach Dunkelheit über ihn herein. Vorhin hatte ihm das schwache Tageslicht, das durch die Turmöffnung hereinschien, geholfen, seinen Weg einigermaßen zu finden, aber mittlerweile musste draußen die Sonne untergegangen sein. Toshiro biss sich auf die Lippen, machte auf dem Absatz kehrt und rannte in den ersten Gang hinaus. Von weither drangen Stimmen an seine Ohren. Ihn fröstelte. Die Häscher waren ihm auf der Spur. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie ihn erreicht hatten. Vor allen Dingen kannten sie sich in diesen Gewölben besser aus als er und würden wissen, wo genau sie nach ihm zu suchen hatten.
Entschlossen langte Toshiro nach einer der brennenden Fackeln und zog sie aus der Wandhalterung. Dann drehte er sich herum -
- und erstarrte!
Keine vier Schritt von ihm entfernt stand eine hochgewachsene Frau in einem langen Abendkleid. Ihr kupferfarbenes Haar glänzte matt im Schein des Fackellichts, und auf ihren blutroten Lippen lag ein anzügliches Lächeln. Ihre dunklen Augen schienen Toshiro bis tief auf den Grund seines Verstandes zu sehen, und von einem Moment auf den nächsten war er in ihren Bann geraten. Sie hauchte seinen Namen, und der Japaner fühlte sich schmerzhaft an Minakos Stimme erinnert, mit der ihn diese Frau vorhin hier heruntergelockt hatte.
»Komm zu mir, Toshiro.«
Der einschmeichelnde Klang ihrer Stimme verzauberte seine Sinne. Er vergaß die Gefahr, in der er schwebte, vollkommen und schloss sogar für eine Sekunde die Augen. Als er die Lider wieder hob, war es nicht die fremde Schönheit, sondern Minako Koyama, die da vor ihm stand. Toshiro schüttelte den Kopf und ging zwei Schritte vorwärts. Minako streckte ihm die Hände entgegen.
»Komm in meine Arme, Toshiro!«, sagte sie mit zuckerweichem Klang in der Stimme.
O Minako ... Geliebte Minako!
Der Wunsch, einfach in die Arme der Verlobten zu flüchten, wurde übermächtig. Nur noch zwei Meter trennen ihn von der verloren geglaubten Frau. Er setzte zum entscheidenden Schritt an und wollte sich einfach an Minako anlehnen, als plötzlich etwas die Illusion brutal zerschnitt.
Toshiro ... Sie hatte ihn Toshiro genannt, nicht in der Koseform Tosh.
Vor Ishidas Augen erschien wieder das Bild der toten Minako, wie sie leblos und blutleer an dem Seil hing, den Bauch vom Brustkorb bis zum Nabel geöffnet, die Augen starr und leer. Toshiro schüttelte sich und damit auch das Trugbild ab, das die Fremde ihm suggeriert hatte. Die Züge Minakos verschwammen vor seinem Auge und machten wieder dem Bildnis der Fremden Platz. Doch auch sie hatte sich verändert. Ihre Miene war auf erschreckende Weise entgleist und glich mehr der eines Tieres als eines Menschen. In ihren Augen glomm ein rötliches Licht, und hauerartige Eckzähne hatten sich über ihre sinnlichen Lippen gestülpt. Die Finger der Frau waren zu Klauen mutiert, und insgesamt hatte sie eine gedungene Haltung angenommen.
Das Fauchen alarmierte Ishida.
Vampire!, hämmerte es in seinem Schädel. Die Sage von blutsaugenden Kreaturen gab es auch in Japan ... aber es war eben nur eine Sage. Angesichts des schrecklichen Todes von Minako war Toshiros Verstand bereit, den Umstand, es hier mit einer Vampirin zu tun zu haben, zu akzeptieren. Die Dämonin sprang vor und wollte Ishida allein mit ihrer rohen Kraft niederringen, doch die antrainierten Reflexe übernahmen nun sein Handeln. Mit einem raschen Schritt trat er, soweit es der schmale Gang zuließ, beiseite. Die Vampirin war bereits vom Boden abgefedert und konnte ihren Sprung nicht mehr korrigieren. Sie fegte mit gebleckten Augzähnen an dem Japaner vorbei. Toshiro holte mit der Fackel aus und hieb ihr das brennende Holz von hinten auf den Kopf.
Die Vampirin stürzte zu Boden. Toshiro setzte nach und stach ihr die Fackel in den Nacken. Ein animalisches Gekreische erfüllte den Gang. Es roch nach verbranntem Fleisch, und ein dunkler Fleck malte sich auf der Haut der Dämonin ab. Vereinzelte Funken sprangen auf ihr langes Haar über und fingen darin Feuer. Im Nu brannte ihr Schopf. Das Geschrei wurde lauter und hysterischer.
Toshiro wartete nicht ab, sondern drehte sich um und rannte mit vorgestreckter Fackel in den Turm des Klosters zurück. Hinter ihm gellten noch immer die Schreie der Vampirin. Er glaubte nicht, dass er sie außer Gefecht gesetzt hatte. In der japanischen Sage besaßen solche Geschöpfe der Nacht große Selbstheilungsfähigkeiten. Er atmete tief durch und fand seinen Weg zurück. Die Fackel spendete genügend Licht, um die Wendeltreppe zu finden, die ihn nach unten geführt hatte. Mit letzter Anstrengung rannte er nach oben, und als er die Hälfte der Strecke geschafft hatte, hörte er ihre Stimme!
»Ich kriege dich, Toshiro Ishida!«
Es war mehr ein Krächzen, erfüllt von Hass und dunkler Macht. Obwohl sie kaum mehr zu identifizieren war, erkannte Ishida in ihr die Stimme der Vampirin. Wie er vermutet hatte, musste sie sich erholt haben und würde sich nun fürchterlich rächen. Er machte sich nichts vor. Trotz des großen Vorsprungs, den er herausgeschlagen hatte, würde ein solches Geschöpf ihm sicherlich an Geschwindigkeit, Kraft und Ausdauer überlegen sein.
Und vermutlich verfügt sie noch über andere Möglichkeiten, sinnierte er, als er ein leises Flügelschlagen von unten zu hören glaubte. Toshiro verdoppelte seine Bemühungen und hetzte schneller als zuvor die Stufen hinaus. Bald wurde ihm schwindelig, da die Treppe in einem immer enger werdenden Kreis nach oben führte. Alles drehte sich um ihn, und die Übelkeit setzte ihm arg zu - das ständige Gefühl des sich Übergebenmüssens wollte ihn mehr als einmal anhalten lassen, doch er schonte sich nicht und lief die Treppe höher hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.
Schließlich erreichte er den kleinen Durchlass, durch den er den Turm betreten hatte. Toshiro zwängte sich durch die Öffnung und atmete die kühle Abendluft ein. Tatsächlich war es draußen bereits dunkel, und der Himmel wurde von einer Wolkendecke verborgen. Nur vereinzelt drang das Licht des aufgehenden Mondes durch die nebelartigen Schleier. Toshiro umrundete die Außenmauern des Turmes auf dem schmalen Sims und kletterte denselben Weg hinunter, den er zuvor hinaufgelangt war. Als er sicheren Boden unter seinen...