1. Kapitel
Wie sinnlos der Kampf gegen die Schwarze Familie doch zu sein schien! Nicht einmal das Vermächtnis des Hermes Trismegistos hatte Dorian bisher entscheidend helfen können. Am Anfang seiner Laufbahn als Dämonenkiller hatte er noch geglaubt, durch den Tod Asmodis II. habe die ewige Schlacht eine entscheidende Wende erhalten. Doch seine Nachfolger hatten sich dem alten Fürsten der Finsternis mindestens als ebenbürtig erwiesen.
Der Druck von Ungas Hand auf seiner Schulter rief Dorian in die Wirklichkeit zurück. Sie waren zum Mummelsee zurückgekehrt - endlich. Der Dämonenkiller hoffte, hier etwas über Cocos Verbleib herausfinden zu können. Die Antworten auf seine Fragen konnten nur hier im Schwarzwald liegen.
Inzwischen hatte sich ihm ein großer Teil der Erinnerungen an sein sechstes Leben als Baron Matthias von Mummelsee offenbart. Nur konnte er sich noch immer nicht entsinnen, Coco Zamis zu jener Zeit begegnet zu sein.
Er hatte Yoshi, Phillip und Virgil nach London geschickt, um nicht auch sie noch unnötig in Gefahr zu bringen. Allein Unga hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass er keinen Schritt von seiner Seite weichen würde.
Nun waren sie am See angekommen und suchten nach einer Möglichkeit, eine wie auch immer geartete Verbindung zu Coco herzustellen. Aber war ihr aus dieser Zeit heraus überhaupt zu helfen? Musste sie den Rückweg in die Gegenwart nicht aus eigener Kraft finden?
Mittlerweile erinnerte sich Dorian auch an seine Begegnung mit dem Marchese Ottavio Arras. Er war damals noch unbarmherziger gewesen und rachsüchtiger als heute. Zwar mochte Dorian den Januskopf nicht als engen Freund bezeichnen, wohl aber als mächtigen Verbündeten. Seine Absichten und Machenschaften lagen im Dunkeln, aber er hatte sein zweites Gesicht für Dorian gegeben, um ihn von der magischen Pest des King Tattoo zu befreien.
Dafür war der Dämonenkiller ihm einiges schuldig. Aber der Olivaro der Vergangenheit würde nicht so selbstlos handeln. Wenn er Coco in der Vergangenheit wirklich getötet hatte, war ohnehin alles zu spät. Aber Dorian klammerte sich wie ein Ertrinkender an die Hoffnung, dass den Januskopf vielleicht die eigene Erinnerung trog. Vielleicht hatte Coco ihn auch überlistet und ihren Tod nur vorgegaukelt.
»So und nicht anders muss es sein!«, murmelte er. Wenn die ehemalige Hexe ihm doch nur irgendein Zeichen hätte geben können!
Unga runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Es war früher Abend, und die Sonne war gerade hinter den Bäumen versunken. Nur noch wenige Spaziergänger hielten sich am Ufer des Mummelsees auf. Der Bootsverleiher hatte seinen Stand bereits geschlossen, und auch die Imbiss- und Eisbuden hatten ihren Verkauf für heute eingestellt. Für Dorian war klar, dass er zusammen mit Unga noch einmal die unterirdischen Gewölbe des Schlosses betreten musste, wenn sie weitere Anhaltspunkte finden wollten. Allerdings stand ihnen dort der Gevatter Tod gegenüber. Die angebliche Mumie des Hermes Trismegistos hatte ihn zwar schon einmal besiegt, aber Dorian war sich bis heute nicht im Klaren darüber, welchen Zauber Hermon dabei angewendet hatte.
»Suchen wir das Schloss auf?«, fragte Unga.
Dorian schürzte die Lippen.
»Nein«, sagte er entschieden. »Ich werde stattdessen dort hinuntergehen.«
Er zeigte auf den See.
Unga ächzte überrascht. »Du willst tatsächlich tauchen? Aber was versprichst du dir davon? Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Doch. Du erinnerst dich an diese Grindel, die hier schon seit Jahrhunderten gehaust hat? Eine ihrer Töchter hat unseren Kampf neulich überlebt und ist hierhin zurückgekehrt. Niemand kann mir erzählen, dass sie nichts über den Gevatter weiß, obwohl er sich keine zweihundert Meter von ihrem eigenen Versteck entfernt verschanzt hält. Es muss einen Grund geben, warum der Gevatter Tod hier aufgetaucht und nicht beim Sturz ins centro terrae gestorben ist - und diese Hexe wird ihn mir nennen müssen!«
Dorian kehrte zum Wagen zurück. Er hatte vorsorglich zwei Tauchausrüstungen mitgenommen, obwohl der Cro Magnon die Idee von vornherein für reichlich unsinnig gehalten hatte. Vergeblich versuchte Unga, den Dämonenkiller von seinem Vorhaben abzubringen.
»Du kannst hier warten oder mich begleiten«, sagte Dorian, während er in den gummierten Anzug schlüpfte und sich die Pressluftflaschen auf den Rücken schnallte.
Unga verzog das Gesicht und legte die zweite Ausrüstung an, die ihm allerdings nicht so recht passen wollte. Nur mit Mühe konnte er sich das enge Gummi überstreifen, besaß danach aber kaum noch Bewegungsfreiheit.
»Ein Froschmann an der Angel«, witzelte Dorian bei Ungas Anblick.
»Ich glaube, ich habe mir was eingeklemmt«, erwiderte der Cro Magnon mit einem Augenzwinkern.
Es war nun vollends dunkel geworden, und am Seeufer trieb sich niemand mehr herum. Dorian prüfte ein letztes Mal den Druck der Flaschen, schaltete dann die festgeschnallte Leuchte ein und watete mit dem Kommandostab in der Hand ins Wasser. Unga folgte ihm auf dem Fuße, und nur Sekunden später schwappte das kalte Nass über ihren Köpfen zusammen.
Auch wenn über der Wasseroberfläche bereits die Nacht hereingebrochen war, hier unten herrschte regelrechte Schwärze. Nur die Lichtkegel der Scheinwerfer durchstachen das Dunkel des Sees.
Der Boden war sandig, schlammig und stark von Algen überwuchert. Vereinzelt huschten Fische vor den beiden Tauchern umher, aufgeschreckt durch das grelle Licht.
Trotz der hellen Scheinwerfer konnte man nur fünf, sechs Meter weit sehen, danach wurde das Licht einfach von der Dunkelheit verschluckt.
Die beiden Dämonenjäger suchten den Boden nach irgendwelchen Anzeichen einer dämonischen Präsenz ab, wurden jedoch nicht fündig. Dorian ließ sich im Wasser treiben und richtete den Kommandostab aus. Mit Hilfe des magischen Utensils des Hermes Trismegistos war es ihm möglich, dämonische Ausstrahlungen zu lokalisieren. Unga tat es ihm mit seinem eigenen Stab gleich. Schon kurz darauf konnten sie einen Erfolg verbuchen. Die Stäbe wiesen ihnen die Richtung. Zur Mitte hin wurde der See tiefer. Sie hielten sich am Grund und hatten bald eine Tiefe von fast zwanzig Metern erreicht. Immer wieder mussten sie aufpassen, sich nicht in Schlingpflanzen zu verheddern.
Da schlug der Kommandostab Ungas plötzlich aus. Dorian spürte die Gefahr instinktiv. Von rechts schoss etwas auf ihn zu. Der grüne Arm eines Algenbusches legte sich ihm um seinen Hals. Das Mundstück wurde fortgerissen. Der Dämonenkiller gurgelte und ruderte wie wild. Unga erging es nicht anders, aber der Cro Magnon hieb geistesgegenwärtig mit dem Kommandostab auf die Algenstränge ein. Irgendwie schaffte er es, sich zu befreien und schwamm zu Dorian, dem bald die Luft ausgehen musste. Er hob das Mundstück an Dorians Lippen und befreite den Gefährten dann mit einem Tauchermesser.
Nachdem Dorian sich erholt hatte, setzten sie die Suche fort. Sie achteten jetzt sorgfältiger auf ihre Umgebung. Das Ausschlagen des Kommandostabs hatte ihnen gezeigt, dass hier dämonische Kräfte am Werk waren.
Unga deutete nach vorn. Dort trieb ein weiteres Algenbüschel durchs Wasser, und in seinen Ranken befand sich eine menschliche Gestalt. Die beiden Gefährten tauchten zu dem Gebilde hinüber und erkannten in der Toten die letzte Tochter der Hexe Grindel. Verwundert betastete Dorian den gut erhaltenen Körper des Wassergeistes. Der See musste den Leib konserviert haben, statt ihn wie sonst zu Asche zerfallen zu lassen. Aber wer hatte die Tochter Grindels getötet?
Die beiden erhielten die Antwort schneller, als ihnen lieb war. Aus dem Nichts heraus wurden sie von einer Druckwelle gepackt und von der Wasserleiche fortgetrieben. Sie ruderten gegen den Sog an und suchten das Wasser nach dem Ursprung der geheimnisvollen Kräfte ab, konnten jedoch nichts entdecken. Unga deutete mit dem Finger nach oben. Dorian nickte nur und tauchte auf. Bevor einer der beiden die Wasseroberfläche erreichte, spürten sie einen Ruck an ihren Beinen, und irgendetwas zerrte sie wieder in die Tiefe hinab. Ein Schatten fegte heran und riss zuerst Dorian, dann Unga die Schläuche aus den Aqualungen. Sprudelnd strömten Tausende von Luftbläschen zur Oberfläche, und wertvolle Atemluft entwich ungenutzt ins Wasser.
Unga stemmte sich gegen den Sog. Er machte heftige Schwimmbewegungen und trat kräftig mit den Flossen aus. Irgendwie konnte er sich befreien, schwamm zur Oberfläche und durchstieß sie mit einem Aufschrei. Gierig sog er frische Luft in seine Lungen und kraulte zum Ufer zurück. Erst da merkte er, dass sein Freund noch immer nicht aufgetaucht war.
Mit der Lampe suchte er die Oberfläche des Sees ab, konnte den Dämonenkiller jedoch nirgends entdecken. Der Steinzeitmann atmete tief durch und wollte wieder ins Wasser springen, als ein seltsames Leuchten über den See glitt und seine Aufmerksamkeit weckte. Unga verfolgte den Glanz, der wie ein Irrlicht über die Wasseroberfläche tanzte und dann ans andere Ufer huschte. Durch die Bäume hindurch drang der Schimmer weiter zu Unga herüber, und dann zeichneten sich plötzlich die Umrisse der alten Schlossruine hinter den...