Schweitzer Fachinformationen
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Minami war damals sieben Jahre alt.
Sie war ein schüchternes kleines Mädchen, das mit seinen zierlichen Fingern unentwegt kleine Kunstwerke aus Papier faltete: Orgel. Trichterwinde. Wellensittich. Sanbo - ein Tischchen für Opfergaben. All diese Werke bewahrte sie in einer mit Buntpapier beklebten Schachtel auf. Ich hatte Minami sehr jung bekommen.
Als sie sieben war und ich Mitte zwanzig, gab es Momente, in denen ich sie ganz schön satthatte. Was mir hinterher immer so leidtat, dass ich sie besonders ungestüm in die Arme schloss. Offenbar war es eine Mischung aus meiner Jugend und Minamis kindlicher Wehrlosigkeit, die diesen Widerwillen in mir hervorrief. Wenn ich sie dann an mich riss, ließ sie es stets stumm über sich ergehen. Sie war überhaupt sehr still für ein so kleines Kind.
Damals verliebte ich mich.
Liebe - was war das eigentlich?
Der Mann, in den ich mich verliebte, war ein gewisser Nishino. Er war etwa zehn Jahre älter als ich und umarmte mich ständig.
Als er es das erste Mal tat, blieb ich ganz still wie Minami. Überließ mich stumm seiner Umarmung, ohne darüber nachzudenken, ob es aus Liebe oder Verliebtheit geschah. Mit jedem Mal fühlte ich mich stärker zu ihm hingezogen, wohingegen seine Gefühle von Anfang an immer gleich zu bleiben schienen.
Was ist Liebe? Ein Mensch hat das Recht, einen anderen zu lieben, aber keinen Anspruch, von diesem wiedergeliebt zu werden. Nishino war also keineswegs verpflichtet, mich zu lieben. Dennoch litt ich darunter, dass er mich nicht so liebte wie ich ihn. Und weil ich so litt, wuchs meine Verliebtheit.
Einmal ging mein Mann an den Apparat, als Nishino anrief.
»Jemand von der Versicherung«, sagte er ruhig, als er mir den Hörer reichte.
Ich beschränkte mich auf leise Äußerungen wie »ja«, »nein« oder »ich verstehe«, während Nishino sich am anderen Ende der Leitung einen Spaß daraus machte, im Ton eines Versicherungsvertreters zu erklären, er wolle jetzt sofort mit mir schlafen. Vielleicht liebte ich ihn ja in Wirklichkeit gar nicht.
Währenddessen sah mein Mann neben mir in aller Ruhe irgendwelche Papiere durch. Vielleicht wusste er alles, vielleicht nichts. In den gesamten drei Jahren, seit ich Nishino kennengelernt und mich in ihn verliebt hatte, bis ich mich allmählich von ihm distanzierte und schließlich nicht mehr mit ihm telefonierte, hatte mein Mann mir nie eine einzige Frage gestellt.
Den Blick auf seinen sauber ausrasierten Nacken gerichtet, wiederholte ich »ja«, »aha« und »genau«. Nachdem Nishino einige Minuten gesprochen hatte, legte er abrupt auf. Es war immer er, der zuerst auflegte. Wahrscheinlich mochte ich ihn gar nicht, war aber definitiv in ihn verliebt.
Manchmal nahm ich Minami mit, wenn ich mich mit Nishino traf. Auf seinen Wunsch.
»Wenn man Kinder hat, sollten es Töchter sein«, sagte er immer. Nishino war nicht verheiratet. Obwohl er damals schon über vierzig war. Er war sieben Jahre älter als mein Mann, besaß aber nicht annähernd dessen kühle Gelassenheit. Doch obwohl Nishino eher weltfremd wirkte, schien er beruflich ziemlich erfolgreich zu sein. Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ich bei unserer ersten Begegnung auf seiner Visitenkarte las, was für eine gehobene Position er hatte.
Nishino brachte Minami immer ein kleines Geschenk mit. »Mach es nur auf«, sagte er dann, und Minami löste, ohne etwas zu sagen, mit ihren zierlichen Fingerchen die rote Schleife. Das Papier raschelte.
Ein mit Tellinamuscheln besetzter Pinselhalter. Ein Briefbeschwerer in Form eines Hündchens. Ein mit Mohn bestreutes und mit Bohnenmus gefülltes Gebäckstück. Eine handtellergroße Spieluhr. Minami betrachtete das jeweilige Geschenk, ohne eine Miene zu verziehen. »Vielen Dank«, flüsterte sie mit einer leichten Verbeugung.
Von Anfang an hatte sie mich nie gefragt, wer dieser Bekannte denn sei, und war wie ein stummer kleiner Schatten an meiner Hand neben mir hergegangen. Musste ich fürchten, dass sie meinem Mann von Nishino erzählte? Hoffte ich vielleicht sogar, dass ihr gegenüber ihrem Vater unabsichtlich etwas über Nishino herausrutschte?
In Minamis Gegenwart verzichtete Nishino darauf, mich zu umarmen. Stattdessen führte er uns in ein Terrassenlokal und bestellte, ehe Minami noch den Mund aufmachte, ein Erdbeerparfait für sie und zwei Tassen Kaffee für uns. Wenn keine Erdbeersaison war, gab es ein Bananenparfait.
»Man spricht das >Parfee< aus, also zum Beispiel Schokoladenparfeee«, erklärte Nishino, indem er das e übertrieben dehnte. Minami nickte unverbindlich. Auch ich nickte vage.
Dabei wechselten wir einen Blick. Das Weiße in ihren Augen war fast bläulich und die Pupillen in der dunklen Iris vollkommen rund. Als ich ein wenig die Stirn runzelte, zog auch sie die Brauen zusammen, lächelte aber dabei.
Minami aß ihr Parfait nie auf. Dennoch bestellte Nishino unweigerlich eins für sie - Erdbeer oder Banane.
»Ein Parfait für unsere kleine Minami, ja?«, sagte er stets lauter als nötig und sah Minami, die den Blick gesenkt hielt, eindringlich ins Gesicht.
Nach dem Café drehten wir jedes Mal eine Runde in einem Park und gingen anschließend geradewegs zum Bahnhof. Nishino kaufte die Fahrkarten und drückte jeder von uns eine in die Hand, mir eine für Erwachsene, Minami eine für Kinder. An der Fahrkartensperre trennten wir uns.
Als ich sie entwertet hatte und mich umdrehte, stand Nishino noch an der Sperre und winkte mir lächelnd zu. Obwohl Minami immer, ohne sich umzuwenden, schnurstracks auf die Treppe zusteuerte, galt Nishinos Winken auch ihr. Er winkte uns beiden und sogar dem leeren Raum zwischen uns.
»Du, Mama?«, sagte Minami in dem Frühjahr, als sie gerade fünfzehn geworden war. »Dieser Herr Nishino war schon ein komischer Typ, findest du nicht?«
Unsere letzte Begegnung mit ihm hatte stattgefunden, als sie zehn war, im Winter. Damals hatte ich mich von Nishino getrennt, ohne ihr zu erklären, warum wir uns nicht mehr mit ihm trafen, aber auch sie hatte ihn nie wieder erwähnt.
Übrigens war Minami bei unseren Treffen mit Nishino mehrmals in Gelächter ausgebrochen, aber sichtlich verlegen verstummt, sobald sie merkte, dass ich sie ansah. Anschließend hatte sie immer ein paar Mal leise geniest.
Als Minami fünfzehn war, dachte ich kaum noch an Nishino. Dass sie in jenem Frühjahr plötzlich seinen Namen erwähnte, erstaunte und berührte mich. Seit langem hatte ich wieder einmal das Gefühl, als öffne sich ein Loch in meinem Bauch, aus dem sämtliche Luft aus mir herausströmte.
»Ihr wart damals doch ein Liebespaar, oder?«, fragte Minami und sah mir gerade in die Augen.
Ich überlegte, konnte mich aber nicht richtig erinnern. Ich wusste nicht einmal mehr, ob wir uns öfter getroffen hatten. War ich in ihn verliebt gewesen? Oder hatte ich ihn sogar geliebt? Ich wusste kaum noch, ob es diesen »Herrn Nishino« wirklich gegeben hatte oder nicht.
»Manchmal nannte mich Herr Nishino seine kleine Minami. Es fühlte sich an, als würde schwarze Farbe an meiner Hand kleben. Und ich konnte reiben und waschen, wie ich wollte, sie ging nicht ab«, flüsterte sie in singendem Tonfall.
Seit dem Vorjahr wurde Minami rasch größer. Ihre Arme und Beine wollten gar nicht aufhören zu wachsen. Ich hatte die Vorstellung, dass die Zellen, die Minami im Zuge dieser dramatischen Entwicklung ausbildete, sich alle paar Tage komplett erneuerten und ihr Körper ständig von frischen Zellen erfüllt war.
»Es war irgendwie blöd, als wir uns nicht mehr mit Herrn Nishino getroffen haben. Seine Präsenz wollte ewig nicht verschwinden.«
»Seine Präsenz?«
»Ja, es blieb lange so was bittersüß Nostalgisches.«
»Wir waren lange nicht Parfeee essen, kleine Minami. Möchtest du?«, imitierte ich Nishino, und sie lachte.
»Ob es ihm gut geht?«
»Ganz bestimmt.«
»Über den Hündchen-Briefbeschwerer habe ich mich gefreut.«
Auch nach meiner Trennung von Nishino hielt Minami den silbernen Briefbeschwerer in Ehren. Sie nannte ihn Koro und polierte ihn hin und wieder mit Sand.
»Und das Gebäck mit Bohnenmus und Mohn hat mir auch geschmeckt.«
Nishino hatte ein Talent dafür, Geschenke auszuwählen. Auch mir hatte er eins gemacht. Ein silbernes Glöckchen mit einem sehr hellen Klang.
»Das musst du jetzt ständig bei dir tragen, Natsumi«, hatte er gesagt und dabei gelacht. »Damit ich immer weiß, wo du bist.« Und wenn du es weißt, hatte ich gefragt,...
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