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Ich würde sie nie vergessen, hatte ich gedacht, ganz gleich wo ich wohnte, ganz gleich wie alt ich würde, ganz gleich was passierte.
Doch selbst das hatte ich, ohne dass es mir bewusst gewesen wäre, bis ich ihren Namen in dem kleinen Artikel las, auf den ich zufällig gestoßen war, vergessen, wie überhaupt alles, was mit ihr zu tun hatte: ihren Namen, ihre Existenz, unsere gemeinsame Zeit und das, was wir in dieser Zeit getan hatten.
Kimiko Yoshikawa.
Vielleicht war es bloß eine Namensgleichheit, schoss es mir durch den Kopf, aber instinktiv wusste ich, dass es sich bei der Frau in dem Artikel um meine Kimiko handelte.
Am 23. Dezember begann vor dem Landgericht Tokyo der Prozess gegen die sechzigjährige, arbeitslose Kimiko Yoshikawa aus Shinjuku, die bis zu ihrer Verhaftung im Mai letzten Jahres eine Frau in den Zwanzigern aus der Stadt Ichikawa, Präfektur Chiba, fünfzehn Monate lang in ihrer Wohnung in Shinjuku festgehalten, misshandelt und schwer verletzt haben soll. Die Anklage lautet auf Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung. Die Angeklagte berief sich zu Beginn der Verhandlung auf ihr Schweigerecht, ihr Anwalt plädierte auf »nicht schuldig«.
Frau Yoshikawa wird vorgeworfen, ihre damalige Mitbewohnerin beginnend im Februar 2018 über einen Zeitraum von fünfzehn Monaten in der gemeinsamen Wohnung in Shinjuku festgehalten, misshandelt und so schwer verletzt zu haben, dass es einen Monat gedauert habe, bis alle Wunden wieder verheilt gewesen seien.
Wie der Staatsanwalt in der Anklageschrift ausführte, sei die Klägerin, die keinen festen Wohnsitz gehabt habe, 2017 bei der Angeklagten eingezogen. Das Zusammenleben habe sich zunächst reibungslos gestaltet, aber dann sei die Angeklagte mehr und mehr dazu übergegangen, die Klägerin zu überwachen, indem sie beispielsweise ihre persönlichen Sachen und Kontakte kontrolliert habe. Durch Einschüchterungen der Art »sie könne draußen sowieso nicht überleben« habe sie die Klägerin psychisch so unter Druck gesetzt, dass diese jeden Fluchtwillen aufgegeben habe. Die Staatsanwaltschaft warf der Angeklagten vor, die Klägerin wiederholt misshandelt, sie widerrechtlich festgehalten und ihr ihren Willen aufgezwungen zu haben. Zur Anzeige gebracht worden war die Tat durch die Klägerin, nachdem es ihr gelungen war, sich aus eigener Kraft zu befreien.
Nachdem ich den Artikel ungefähr dreimal gelesen hatte, stieß ich die Luft, die sich in meiner Brust gestaut hatte, in einem Schwall aus. Mein Herz raste, meine Finger zitterten. Kimiko. Kein Zweifel. Kimiko war verhaftet worden.
Ich gab den Namen Kimiko Yoshikawa in die Suchmaschine ein, fand aber bloß einen ähnlichen Artikel und eine kurze Nachricht. In beiden wurde der Fall nicht besonders hoch gehängt. Die übrigen Treffer führten zu Onomantie, Strichzahlmantik oder empfohlenen Mädchennamen. Abgesehen von dem Fall, auf den ich gerade gestoßen war, schien Kimiko im Netz nicht zu existieren.
Krampfhaft versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Ich ging zurück zum ersten Artikel und vergewisserte mich des Datums. Er war am 10. Januar 2020 erschienen. Vor etwa drei Monaten also. Kimiko war letztes Jahr im Mai verhaftet worden.
Aber was bedeutete das? Das wurde mir auch nach mehrmaliger Lektüre nicht klar. Seit Prozessbeginn waren drei Monate vergangen, so viel war sicher, aber in welcher Lage sich die Klägerin befand, in welcher Lage sich die anderen Beteiligten befanden und wie es nun weiterging mit dem Fall, mit dem Prozess, das wusste ich nicht. Was war mit Kimiko? Was würde mit ihr passieren? Wie und wo ließe sich das herausfinden?
Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie polizeiliche Ermittlungen abliefen, wie Untersuchungshaft aussah oder welche Auflagen es gab. Das Einzige, was mir in den Sinn kam, waren wenig hilfreiche Fernsehbilder: Zellen in tristem Grau, Handschellen, ungerührte Staatsanwälte, Skizzen von Gerichtszeichnern.
Und - Kimiko.
Die Frau, mit der ich vor ungefähr zwei Jahrzehnten, als ich noch jung war, ein paar Jahre zusammengewohnt hatte.
Dem Artikel zufolge war sie jetzt sechzig Jahre alt. Sechzig!? Nicht zu fassen. Klar, die Zeit blieb nicht stehen, ich war inzwischen auch schon vierzig. Dennoch kam mir die Zahl unwirklich vor.
Ich schloss die Augen. Keine Panik, machte ich mir Mut. Du hast mit dem Fall nichts zu tun. Kein Grund zur Sorge. Du weißt nicht, was Kimiko in den letzten zwanzig Jahren getrieben hat, du hattest keinen Kontakt zu ihr, es gibt keine wie auch immer geartete Verbindung mehr zu ihr. Was damals passiert ist, ist lange her, aus und vorbei. Abgesehen von diesem Fall, von dieser Freiheitsberaubung, die man ihr vorwirft, legt man ihr nichts zur Last. Wenigstens nicht laut Netz. Also keine Panik, sagte ich mir wieder und wieder.
Als ich den Blick vom Handy hob, war das Zimmer von einem Abendblau erfüllt, von dem bis eben noch nicht das Geringste zu sehen gewesen war. Die Gegenstände hoben sich nur mehr als dunkle Schatten ab. Vor mir auf dem niedrigen Tisch stand ein Teller Spaghetti mit Fertigbolognese. In der hereinbrechenden Nacht sah das Gericht irgendwie nicht mehr nach etwas Essbarem aus.
Die ganze Nacht tat ich so gut wie kein Auge zu.
Im Licht der morgendlichen Frühlingssonne wirkte der Fenstervorhang wie ein überdimensionales weißes Zeichenblatt. Als ich geblendet die Augen zukniff, verschwammen die so produzierten Farben und verschwanden. Statt Dunkelblau, Tiefrot und Gelb erschien Kimiko.
Schau mal, sagte sie, ihre bis auf den Rücken reichenden pechschwarzen Locken mit den Händen zusammenfassend, in meinem Haar könnte sich ein schwarzes Kätzchen verstecken, und lachte fröhlich. Ich lachte mit; alle lachten mit. Unser altes Haus. Die Zimmer klein, vollgestellt und unaufgeräumt, aber der Eingang immer sauber. Pro Person durften nicht mehr als zwei Paar Schuhe dastehen; und weil »das Glück durch die Tür hereinkommt und das Böse durch die Toilette verschwindet«, musste der Eingang stets sauber gehalten werden.
In der Hoffnung, die aufkommenden Erinnerungen wieder zu vertreiben, schloss ich die Augen und wälzte mich auf die andere Seite. Doch längst vergessen geglaubte Erinnerungen tauchten auf, eine nach der anderen, als hielten sie sich an den Händen. Das Knarren der stellenweise verzogenen Dielen im Flur verwandelte sich in unser Lachen, die gemaserte Decke, auf die ich immer vor dem Einschlafen gestarrt hatte, in den Qualm einer Zigarette und raunte mir ins Ohr.
Ich sah die Schminkutensilien, die verstreut vor dem Spiegel lagen, das mit Kleidern und Unterwäsche vollgestopfte, bunt angestrichene Sperrholzregal im Wandschrank, die Cup Noodles, die sich in einem Korb in der schmalen Küche stapelten, und sofort hatte ich wieder den Geruch unseres gemeinsamen Lebens in der Nase.
Nachdem ich eingerollt in meine Bettdecke ungefähr eine halbe Stunde mit mir gekämpft hatte, schrieb ich meinen Kollegen eine Nachricht in den Gruppenchat.
GUTEN MORGEN. ICH HABE SEIT GESTERN EINEN LEICHTEN HUSTEN. FIEBER HABE ICH NICHT, WÜRDE TROTZDEM VORSICHTSHALBER HEUTE GERNE ZU HAUSE BLEIBEN. ICH HOFFE, DAS GEHT. TUT MIR LEID FÜR DIE UMSTÄNDE. HERZLICH, ITO.
Die Verantwortliche für die Dienstpläne der Aushilfen antwortete sofort.
ALLES KLAR, KEIN PROBLEM. ANFANG NÄCHSTER WOCHE WIRD ENTSCHIEDEN, WIE ES WEITERGEHT. ICH MELDE MICH. GUTE BESSERUNG!
VIELEN DANK! ICH GLAUBE, ES IST NUR EINE ERKÄLTUNG, ABER FALLS ICH DOCH NOCH FIEBER BEKOMME, GEBE ICH SOFORT BESCHEID. DANKE NOCH MAL!
Bis Mitte letzten Monats hatte bezüglich der neuen Infektionskrankheit allgemeine Skepsis geherrscht. Hier und da war Alarm geschlagen worden, aber viele hatten auch behauptet, man brauche sich nicht zu fürchten, die Krankheit sei nicht schlimmer als eine Grippe und Masken würden nichts nützen. Man schwankte zwischen Angst und merkwürdiger Erregung, dachte aber, im Großen und Ganzen sei alles im grünen Bereich.
Als sich allerdings Ende des letzten, Anfang dieses Monats die Schreckensbilder aus dem Ausland häuften, kamen auch in Japan Gerüchte über einen bevorstehenden Lockdown auf. Und als vor fünf Tagen schließlich der Notstand ausgerufen wurde, explodierte die Spannung, die sich langsam, aber sicher aufgebaut hatte, mit einem Schlag. Nicht nur die Medien verbreiteten Panik, in den Supermärkten der Nachbarschaft wurden tatsächlich ganze Regale leer gekauft, in den Drogerien gab es keine Masken mehr, kein Desinfektionsmittel und kein Toilettenpapier, Menschen verschwanden, und auch an meinem Arbeitsplatz mussten Maßnahmen ergriffen werden. Ich jobbte als Verkäuferin in einer der über die ganze Stadt verteilten Filialen eines Geschäfts für Feinkost und Fertiggerichte, das zu einem großen Supermarkt gehörte, wenige Gehminuten von meinem Apartment entfernt.
Der Laden in der Arkade war klein. Auf der Theke und im Kühlregal standen etwa dreißig Schüsseln mit Salat und Beilagen, aus denen sich die Kunden nach Belieben eine Mahlzeit zusammenstellen konnten, die wir in Menüboxen aus Plastik verpackten. Da wir das Essen, das morgens aus einer Großküche angeliefert wurde, bloß verkaufen mussten, gab es keine Küche, und mit nur vier Personen war der Laden schon voll. Obwohl sich die Karte in den drei Jahren, die ich bereits dort arbeitete, kein bisschen verändert hatte und die meisten Käufer obendrein Stammkunden waren, war der Umsatz gut und der Laden so beliebt, dass die Leute mittags und abends Schlange standen. Entgegen meiner Vermutung schien ihnen das gleichbleibende Menü nicht zum...
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