Schweitzer Fachinformationen
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I
»Warum bist du in Hokkaido?«
Kei Tokitas Stimme klang blechern aus dem Hörer.
»He, bleib ganz ruhig . Alles in Ordnung.«
Nagare Tokita hörte zum ersten Mal seit vierzehn Jahren wieder die Stimme seiner Frau. Er befand sich in Hokkaido - in Hakodate, genau genommen.
Hakodate ist voll von Häusern im westlichen Stil, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut wurden. Diese Häuser finden sich in der ganzen Stadt und sind architektonisch durchaus einzigartig - japanisch im Erdgeschoss, aber in den oberen Etagen nach westlichem Zuschnitt. Direkt am Fuß des Mount Hakodate liegt der Stadtteil Motomachi (was so viel wie »Altstadt« bedeutet), ein beliebtes Ziel für Touristen. Er besitzt großen altertümlichen Charme, der noch verstärkt wird durch historische Gebäude wie die ehemalige Stadthalle, einen Strommast aus Beton mit quadratischem Querschnitt - dem ersten in ganz Japan - und die bekannten Lagerhäuser aus roten Backsteinen im historischen Hafenbezirk.
Kei befand sich am anderen Ende der Leitung im weit entfernten Tokio in einem gewissen Café, das seinen Kunden Gelegenheit zu Reisen durch die Zeit bot. Sein Name war Funiculi Funicula. Kei war aus der Vergangenheit fünfzehn Jahre in die Zukunft gereist, um ihre Tochter zu treffen. Dazu blieb ihr im Café in Tokio nur die kurze Zeitspanne, die sie brauchte, um ihren Kaffee auszutrinken, bevor er kalt war. Da sich Nagare im fernen Hokkaido im Norden Japans befand, hatte er keine Ahnung, wie weit ihr Kaffee schon abgekühlt war. Deshalb beschränkte er seine Worte auf das Notwendigste.
»Ich habe keine Zeit zu erklären, warum ich in Hokkaido bin. Bitte hör mir einfach zu.«
Kei wusste natürlich nur zu gut, wie knapp ihre Zeit bemessen war.
»Was sagst du? Du hättest keine Zeit? Ich bin es doch, die keine Zeit hat!« Sie klang aufgebracht.
Aber Nagare ging nicht darauf ein. »Da ist ein Mädchen bei euch, nicht wahr? So alt, dass sie in die Middleschool gehen könnte.«
»Was? Eine Schülerin? Ja, sie ist hier. Es ist die, die schon vor zwei Wochen hier im Café war; sie kam aus der Zukunft, um ein Foto mit mir zu machen.«
Für Kei war das erst zwei Wochen her, aber sie sprach von etwas, das für Nagare volle fünfzehn Jahre zuvor geschehen war.
»Hat sie große runde Augen . und trägt sie einen Rollkragenpulli?«
»Ja, schon. Was ist mit ihr?«
»Okay, beruhige dich einfach und hör mir zu. Du bist aus Versehen fünfzehn Jahre in die Zukunft gereist.«
»Wie ich schon sagte, ich kann dich hier kaum verstehen.«
Ein heftiger Windstoß hatte Nagare gerade in dem Augenblick getroffen, als er ihr etwas Entscheidendes sagen wollte. Selbst Kei hörte im Telefon den Sturm heulen, und eine vernünftige Verständigung war fast nicht möglich. Doch die Zeit drängte, und Nagare fuhr unbeirrt fort.
»Jedenfalls, das Mädchen, das du da siehst«, sagte er, lauter diesmal.
»Wie? Was!? Das Mädchen?«
»Sie ist unsere Tochter!«
»Was?«
In Nagares Telefon wurde es totenstill. Und dann hörte er statt Keis Stimme das vertraute Dong, dong der mittleren Standuhr im Funiculi Funicula. Er stieß einen leisen Seufzer aus und begann ganz ruhig zu erklären.
»Eigentlich wolltest du zehn Jahre in die Zukunft reisen und hattest erwartet, dass dein Kind ungefähr zehn sein müsste, aber es muss ein Missgeschick passiert sein, und du bist fünfzehn Jahre weit gereist. Bei zehn Jahren und fünfzehn Stunden ist irgendwas mit fünfzehn Jahren und zehn Stunden durcheinandergekommen. Schau mal zur mittleren Standuhr. Sie müsste zehn Uhr anzeigen, richtig?«
»Mhm.«
»Wir hatten nach deiner Rückkehr davon gehört. Aber jetzt sind wir leider in Hokkaido, und mir fehlt die Zeit, die Gründe dafür zu erklären.«
Nagare hatte seine Erklärung heruntergerattert, aber nun hielt er inne.
»Auf alle Fälle solltest du die knappe Zeit nutzen und dir unsere fast ausgewachsene, gesunde und muntere Tochter gut ansehen, bevor du in deine Gegenwart zurückkehrst«, bemerkte er zum Schluss und legte auf.
Von dort, wo er stand, konnte Nagare die ganze schnurgerade Straße überblicken, die bis zur blauen Weite des Ozeans abfiel, und darüber den Himmel, der sich wie eine Krone über den Hafen von Hakodate wölbte. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück ins Café.
Hakodate ist bekannt für seine vielen steilen Straßen. Neunzehn von ihnen haben Namen erhalten, so die Twenty Astride Rise, die sich von Japans ältestem Strommast hinaufzieht, oder die Eight Banner Rise, die in der Nähe der roten Backstein-Lagerhäuser an der bei Touristen so beliebten Bucht von Hakodate beginnt. Daneben gibt es die Fish View Rise und die Ship View Rise, die sich ebenfalls vom Ufer aufwärts ziehen. Weiter oben am Hang liegen die Cockle Rise und die Green Willow Rise, die in Richtung Yachigashiracho ansteigen, was so viel wie Talende bedeutet. Eine weitere steile Straße ist auf den Stadtplänen für Touristen nicht verzeichnet. Ortsansässige nennen sie die No Name Rise. Das Café, in dem Nagare arbeitete, lag auf halber Strecke die No Name Rise hinauf. Es hieß Donna Donna, und um einen ganz bestimmten Platz in diesem Café rankte sich eine merkwürdige urbane Legende.
Wenn man diesen Platz einnahm, so hieß es, dann würde er einen an einen beliebigen gewünschten Zeitpunkt befördern.
Dabei galten allerdings eine Reihe ärgerlicher und lästiger Regeln:
Man konnte in der Vergangenheit nur jemanden treffen, der das Café schon einmal besucht hatte.
Egal, was man in der Vergangenheit unternahm, man konnte nichts an der Gegenwart verändern.
Die Reise in die Vergangenheit war nur möglich, wenn man auf diesem einen Platz saß. War er besetzt, dann musste man warten, bis er frei wurde.
In der Vergangenheit angekommen, musste man unter allen Umständen auf diesem Platz sitzen bleiben.
Die Zeitreise begann mit dem Eingießen des Kaffees und musste beendet sein, bevor er kalt geworden war.
Und das waren noch nicht einmal alle ärgerlichen Regeln. Trotz alledem sollte sich auch heute wieder eine Person einfinden, die von dem Gerücht gehört hatte.
Nagare war kaum vom Telefonat zurück, als Nanako Matsubara vom Barhocker an der Theke unumwunden fragte: »Nagare, warum bist du nicht in Tokio geblieben? Findest du immer noch, dass es gut war, hierherzukommen?«
Nanako studierte an der Universität von Hakodate. Ihr hellbeiges Top hatte sie, wie es gerade modisch war, in die weite Hose gesteckt. Dazu trug sie dezentes Make-up, und ihr locker dauergewelltes Haar war mit einem Haargummi nach hinten gebunden.
Nanako hatte gehört, dass Nagares verstorbene Frau aus der Vergangenheit kommen und ihre Tochter im Café in Tokio besuchen wollte. Für Nagare war das eine einmalige Gelegenheit, seine Ehefrau zu treffen, die er vierzehn lange Jahre nicht gesehen hatte, und Nanako fand es unbegreiflich, dass er mit ihr nur kurz telefoniert hatte, anstatt sie persönlich zu treffen.
»Ja, vielleicht«, erwiderte Nagare unbestimmt, ging an ihr vorbei und weiter hinter die Theke. Auf dem Hocker neben Nanako saß die schläfrig wirkende Saki Muraoka mit einem Buch in der Hand. Saki arbeitete in einem der örtlichen Krankenhäuser auf der psychiatrischen Station. Sowohl sie als auch Nanako waren hier im Café Stammgäste.
»Wolltest du sie denn nicht wiedersehen?« Nanako blickte Nagare, einen Riesen von annähernd zwei Metern Körpergröße, eindringlich an.
»Schon, aber ich musste die Tatsachen anerkennen.«
»Und die wären?«
»Sie kam, um ihre Tochter zu treffen, nicht mich.«
»Trotzdem.«
»Ist schon in Ordnung. Natürlich ist es inzwischen lange her, aber ich habe immer noch lebhafte Erinnerungen .«
Nagare wollte damit sagen, dass er alles unternommen hätte, um für Mutter und Tochter die knappe gemeinsame Zeit so wertvoll wie möglich zu machen.
»Du bist so gütig, Nagare«, bemerkte Nanako voller Bewunderung.
»Jesus!«, erwiderte er aufbrausend und bekam ganz rote Ohren.
»Kein Grund, sich zu schämen.«
»Davon bin ich weit entfernt«, entgegnete er und verzog sich eilig in die Küche, um Ruhe vor ihr zu haben.
An seiner Stelle kam Kazu Tokita aus der Küche. Über ihrer weißen Bluse und dem beigen Rüschenrock trug sie eine aquamarinblaue Kellnerschürze. Sie war siebenunddreißig, aber mit ihrer offenen und unbekümmerten Art wirkte sie deutlich jünger.
»Und? Bei Frage Nummer wie viel bist du gerade?«, fragte sie in Richtung Dr. Saki.
Jetzt wo Kazu hinter der Theke stand, wurde das Gesprächsthema gewechselt.
»Äh, Frage Nummer vierundzwanzig«, antwortete Saki, die neben Nanako saß. An deren Unterhaltung mit Nagare hatte sie nicht das geringste Interesse gezeigt und sich ganz ihrem Buch gewidmet.
»Ach ja .«, schaltete sich Nanako ein, als erinnere sie sich plötzlich. Verstohlen warf sie einen Blick auf Sakis Buch. Die blätterte mehrere Seiten zurück und las laut vor.
»Was, wenn die Welt morgen untergeht? Hundert Fragen.
Frage Nummer vierundzwanzig. Es gibt eine Person - Mann oder Frau -, die du sehr liebst. Wenn die Welt morgen unterginge, was würdest du tun?
1. Der Person einen Heiratsantrag machen.
2. Keinen Heiratsantrag machen, weil es sinnlos...
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