Schweitzer Fachinformationen
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Das wird es sein. Mein neues Leben. Vermutlich beginnt es genau in diesem Moment.
Ich drücke mir den Ärmel meiner Lederjacke vor die Nase. Dass mein neues Leben nach Gülle riechen würde, hat mir keiner gesagt. Und auch nicht, dass der Startschuss gerade dann fällt, wenn mein Kopf im Fenster eines klapprigen Kleinbusses auf und ab federt. Unter meinem Kinn ein großes geschwungenes »Schau hair!«, Werbung für Haar-Moni, den Friseursalon einer gewissen Monika. In großen Lettern steht da einmal quer über der Außenseite des Busses: »Senioren-Kranzhaarschnitt 11 Euro.«
Wenn ich darüber nachdenke, hätte ich den Duft von heißer Schokolade für den Anfang ziemlich passend gefunden, und eigentlich wäre ein Flugzeug ganz schön gewesen, als Symbol. Irgendetwas, das mich möglichst schnell von meinem alten Leben trennt - von dem, was davon übrig geblieben ist. Am besten wäre es, wenn ein ganzer Ozean zwischen meinen zwei Leben läge. Oder der Ärmelkanal, da könnte ich mich zur Not am Rücken eines Kanalschwimmers festklammern und wieder zurückziehen lassen. Wenn das mit dem neuen Leben doch nicht klappt.
Es wird gehen.
Es muss gehen! Einen Plan B gibt es nämlich nicht.
Ich lehne meinen Kopf an die Fensterscheibe, draußen ist alles grau, so grau und diesig, dass Felder und Himmel eine einzige kahle Fläche bilden. Hier und da ein Baum, ein Mast und immer wieder Stromleitungen. Leere Wäscheleinen am Horizont.
Eigentlich müsste ich sogar sagen: Einen Plan C gibt es nicht. Denn das, was ich hier tue, ist bereits die B-Variante dessen, was ich mit meinem Leben vorhatte. Mein ursprünglicher Plan existiert nicht mehr, er wurde vor genau zehn Wochen, zwei Tagen und etwas über dreizehn Stunden durch einen einzigen Satz gekillt: Sex mit dir ist langweilig.
Die Landschaft zieht an mir vorbei wie ein breiter, borstiger Pinselstrich, mittendrin ein rotes Blinken, ich drehe mich um. Auch wenn ich mir vorgenommen habe, ab heute nicht mehr zurückzuschauen. Das Leuchtreklameblinken kommt von einem Wohnwagen, der am Rand eines Feldwegs parkt. An seinem Rückfenster klebt ein Herz, durchbohrt von einem Pfeil: »Open.« Allzeit bereit und ganz bestimmt nicht langweilig. Ich schlucke. Und kann nicht wegsehen, bis das Herz kleiner wird und ich es irgendwann nicht mehr erkennen kann.
Der A-Plan, an den ich lange Zeit geglaubt habe, ging so: Simon und ich sind noch ein paar Jahre zu zweit und in Hamburg glücklich, dann heiraten wir, kriegen Kinder, ziehen raus aus der Stadt und leben zusammen, bis ans Ende unserer Tage. Ich dachte, das wäre so einfach.
Jetzt ziehe ich allein raus. Und viel weiter weg, als meine Vorstellung jemals gereicht hat.
Der Bus rumpelt weiter über die holprige Fahrbahn, das Gummi des Scheibenwischers quietscht auf dem Glas. Knut schaltet ihn ab und wischt mit einem Lappen über die beschlagene Windschutzscheibe. Knut Groß ist pensionierter Landwirt und ehrenamtlicher Fahrer des Bürgerbusses. Er hat mich an der winzigen Bahnstation, drei Dörfer vor Büttelsbüttel, eingesammelt. Nur mich, sonst keinen.
»Einfach Knut«, hat er gesagt und gelächelt, als ich mit Sack und Pack und der aktuellen Landlust-Ausgabe aus dem Zug stieg und nicht so recht wusste, nach wem ich Ausschau halten sollte. Mit Knut werde ich jetzt wohl häufiger zu tun haben, denn er ist auch mein neuer Vermieter.
»Willkommen in Büttelsbüttel« steht auf dem dreckig weißen Banner, das die Fahrbahn überspannt.
»Willkommen in Büttelsbüttel«, sagt auch Knut, tritt auf die Bremse und lenkt den Bus in eine schmale Straße. Dabei nimmt seine Stimme einen so dynamischen Tonfall an, dass ich unwillkürlich an meinen Vater denken muss. Der hatte in den letzten Wochen einen neuen, unnatürlichen sprachlichen Schwung entwickelt, vor allem wenn er sein Lieblingsmantra »Neuanfang« aus dem Hut zauberte und mir wie ein Geschenk hinhielt. Als müsste ich sogleich freudestrahlend zugreifen, in die Hände spucken und mit was auch immer unverzüglich loslegen.
Die großen knorrigen Bäume links und rechts neigen sich zur Straßenmitte, ihre Kronen treffen sich im Himmel. An einem prangt ein beuliges Blechschild, auf dem »Schiefe Bäume!« steht und ein LKW abgebildet ist, der einen Baumstamm rammt.
Knut folgt meinem Blick. »Is' mal passiert, 87.«
Er kurbelt das Fenster ein Stück herunter, frische Luft strömt ins Wageninnere. Sehr frische Luft. Sommerregen und geschnittenes Gras oder einfach nur sehr saftiges, ungemähtes Gras. Und noch mehr Gülle, die alles übertüncht, so wie die Ausdünstungen von Pissoirs, wenn man in schrammeligen Clubs das Herrenklo benutzt, um sich nicht in die Schlange vor der Damentoilette einreihen zu müssen.
Ich ziehe den Zettel mit der Projektskizze aus der Tasche und falte ihn auf. Sofort will etwas in mir loswinseln: Ich will nach Hause, unter die Bettdecke, mich nicht mehr bewegen, bis alles wieder richtig ist. Ich beiße die Zähne zusammen, bis meine Kiefermuskeln anfangen zu schmerzen. Nein, heute wird nicht gewinselt.
Oben auf dem Blatt steht: »Mein neues Leben ohne Simon.« Doppelt unterstrichen. Als ich den Projektplan vorgestern erstellt habe, habe ich mich kurz gefragt, ob es nicht vielleicht hilfreich wäre, sich für ein Projektmanagement-Seminar anzumelden. Den Gedanken habe ich gleich wieder verworfen. Nicht nur weil die Zeit bis zum Projektstart, also bis heute, zu knapp gewesen wäre, sondern weil mir beim Sichten der Seminarangebote schnell klar geworden ist, dass da auch nur mit Wasser gekocht wird. Am Ende hätte ich vielleicht ein schickes, womöglich farbiges Hierarchie-Diagramm gehabt, so ein Ding mit Kästchen, die sich zu immer mehr Kästchen verzweigen, mit Teilaufgaben und Arbeitspaketen, vielleicht hätte ich sogar an einem Rollenspiel mit differenzierter Videoanalyse teilgenommen - und was wäre dadurch gewonnen?
Schließlich habe ich mir in Eigenregie einen neuen Kugelschreiber gekauft, meinen ersten Nicht-Plastik-Kugelschreiber, weil ich dachte, dass es passender sei, einen zu benutzen, den Simon ganz sicher noch nicht in der Hand gehabt hat, und einfach drauflosgeschrieben.
Projektziel: Glücklich sein. Das ist doch das Ziel eines jeden Projekts, oder?
Wann ist das Projektziel erreicht: Wenn mich der Gedanke an Simon nicht mehr traurig macht. Wenn ich mich umsehe und denke: Ja, das ist mein Leben, und es ist schön, so wie es ist.
Mit gefühlten zehn Kilometern pro Stunde passieren wir ein Plakat der Freiwilligen Feuerwehr: »Cool genug für einen heißen Job?« Können wir nicht schneller fahren?
Wie erreiche ich das Projektziel:
Sicherer Job.
Da kann ich gleich das erste Häkchen setzen, schließlich habe ich einen Job. Meine erste Festanstellung. Als Redakteurin beim, äh, Büttelsbüttler Boten. Eine Dreiviertelstelle. Da bleibt mir genügend Zeit für all die anderen Projektschritte.
Leute kennenlernen.
Der Bus tuckert an einer Rollatorparade vorbei, bestehend aus vier grau gelockten und zwei fliederfarben frisierten Damen. Ich lockere mein Bein, als ich merke, dass ich meinen Fuß in die Gummimatte vor mir gestemmt habe, als wäre da ein Gaspedal. Die Straßen sind doch frei.
Na, ich bin ja mal gespannt auf die jüngeren Leute. Oder sollte ich sagen: auf die Leute mittleren Alters? Irgendwo hab ich gelesen, dass man ab fünfunddreißig offiziell zur Gruppe der Menschen mittleren Lebensalters gehört. Und dass jede Gruppe ihre eigenen Entwicklungsaufgaben bewältigen muss. Bei den jungen Erwachsenen, also bei denen zwischen achtzehn und vierunddreißig, sind das: heiraten, Kinder kriegen, im Berufsleben ankommen und einen eigenen Lebensstil finden.
Und wie alt bist du jetzt, Carolin Punke? Sechsunddreißig? Tja, damit hast du die Zielvorgaben leider nicht erreicht. Übrigens, wusstest du, dass manche Forscher den Schnitt zwischen frühem und mittlerem Erwachsenenalter sogar schon bei dreißig Jahren ansetzen? Für diese Einteilung spricht einiges, beispielsweise .
Aufhören! Sofort!
Rechts ein Feld mit Strohballen, die in Folie eingeschweißt sind, so sieht es zumindest aus, links eine Kuhwiese. Da, wer sagt's denn! Da ist ja schon ein jüngeres Exemplar. Mitten auf der Weide steht eine Frau. Anfang dreißig, würde ich sagen. Knut unterhält sich aus dem Fahrerfenster mit den Rollatorladys, während ich meine potenzielle neue Freundin aus der Ferne in Ruhe mustern kann. Also, da wäre erst mal ihr knielanges Sommerkleid, weiß mit rosaroten und lilafarbenen Blüten, das ziemlich, nun ja, bäuerlich aussieht. Vermutlich ist sie ja auch Bäuerin. Sie hält die Weide in Schuss und treibt die Kühe durch die Gegend und . Was tut sie denn jetzt? Die Frau hat die Arme ausgebreitet, ihre Handflächen zeigen in Richtung Himmel. So verharrt sie, als würde sie darauf warten, dass es regnet oder dass Blütenblätter aus den Wolken fallen oder Sterntalersterne. Nee, das ist keine Bäuerin, das ist eine nacktfüßige Esobraut, die im Übrigen nicht einmal ein Bäuerinnenkopftuch trägt.
Tragen Bäuerinnen überhaupt noch Kopftücher? Oh Mann, ich hab ja so was von keine Ahnung von Landwirtschaft und Landleben. Da muss ich mich ganz fix und möglichst unauffällig einarbeiten. Schließlich soll ich ja in Kürze für die Bewohner dieses Dorfes schreiben, da kann ich mich ja nicht gleich zu Beginn als komplett unwissend outen....
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