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Der Geschichtsprofessor und die beiden Frauen
Als Scott Freeman den Brief, den er im Zimmer seiner Tochter in der obersten Kommodenschublade gefunden hatte, zusammengeknüllt hinter alten, weißen Sportsocken, zum ersten Mal las, begriff er mit einem Schlag, dass jemand sterben würde.
Er hätte dieses Gefühl nicht wirklich benennen können, aber es überkam ihn wie eine böse Ahnung und nistete sich eiskalt in seinem Hinterkopf ein. Er stand wie erstarrt und las immer wieder dieselben Worte: Keiner könnte dich jemals so lieben wie ich, weder heute, noch irgendwann. Wir sind füreinander bestimmt, und daran wird nichts und niemand etwas ändern. Gar nichts. Wir werden für immer zusammen sein. So oder so.
Der Brief trug keine Unterschrift.
Er war auf gewöhnlichem Computerpapier getippt - kursiv gesetzt, so dass es an eine altmodische Handschrift erinnerte. Da Scott keinen Umschlag dazu finden konnte, gab es weder Absender noch Poststempel, die ihm weitergeholfen hätten. Er legte den Brief auf den Schreibtisch und versuchte, die Knitter zu glätten, die dem Blatt Nachdruck und Bedrohlichkeit verliehen. Er betrachtete die Worte aufs Neue und versuchte, sie in einem harmlosen Licht zu sehen. Die Liebesbeteuerungen eines Grünschnabels, nichts weiter als die Vernarrtheit eines Kommilitonen, eine Schwärmerei, die Ashley nur deshalb vor ihnen verschwiegen hatte, weil sie selbst nur eine alberne Gefühlsduselei darin erkennen konnte. Im Ernst, versuchte er sich einzureden, du siehst Gespenster.
Doch nichts konnte verhindern, dass es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief.
Scott Freeman hielt sich nicht für einen unbesonnenen oder leicht aufbrausenden Mann. Er neigte weiß Gott nicht zu Kurzschlussreaktionen, sondern war ein Mensch, der grundsätzlich das Für und Wider jeder Entscheidung abwog und jede Facette seines Lebens unter die Lupe nahm wie einen geschliffenen Diamanten. Er war durch und durch Akademiker. Als Reminiszenz an seine Jugend in den späten sechziger Jahren trug er sein Haar zottelig lang, meist lief er in Jeans und Turnschuhen herum, dazu standesgemäß ein abgetragenes Kordjackett mit Lederflicken an den Ärmeln. Zum Autofahren wie zum Lesen brauchte er jeweils eine Brille, und er achtete darauf, dass er sie immer bei sich hatte. Mit täglicher sportlicher Betätigung hielt er sich fit - bei gutem Wetter durch Joggen, im langen New England-Winter auf einem Laufband im Haus. Teils machte er das zum Ausgleich dafür, dass er sich zuweilen einsam betrank und sich manchmal zum Scotch on the Rocks eine Marihuanazigarette gönnte. Scott war stolz auf seine Lehrtätigkeit, die ihm jeden Tag aufs Neue Gelegenheit bot, sich vor einem vollen Hörsaal wirkungsvoll in Szene zu setzen. Außerdem liebte er sein Fachgebiet und fieberte jeden Sommer dem September entgegen, statt den müden Zynismus vieler seiner Kollegen zu teilen. Er führte, fand er, ein äußerst geregeltes Leben, und da er den Details der Vergangenheit vielleicht allzu viel Begeisterung entgegenbrachte, leistete er sich als Kontrastprogramm einen zehn Jahre alten Porsche 911, den er - außer wenn es schneite - tagtäglich zu plärrender Rock-and-Roll-Musik fuhr. Für den Winter hielt er sich einen ramponierten Pick-up. Er hatte die eine oder andere Affäre, allerdings nur mit Frauen seines Alters, die ihre Erwartungen nicht allzu hoch schraubten und ihn nicht daran hinderten, seine ganze Passion den Red Sox, den Patriots, den Celtics und den Bruins sowie sämtlichen Sportmannschaften am College zu widmen.
Er hielt sich für einen Mann der Routine, und manchmal kam ihm der Gedanke, dass er in seinem ganzen Leben als Erwachsener nur drei richtige Abenteuer erlebt hatte: Einmal hatte ihn, als er mit Freunden vor der Felsenküste Maines Kajak fuhr, eine starke Strömung und ein plötzlicher Nebel von seinen Gefährten getrennt, und er war stundenlang in einer grauen, stillen Dunstglocke dahingetrieben, in der die einzigen Geräusche, die ihn begleiteten, das Klatschen der Wellen an die Plastikwände seines Kajaks und das gelegentliche Luftschnappen einer Robbe oder eines Tümmlers in seiner Nähe waren. Die feuchte Kälte war ihm den Rücken hochgekrochen und hatte ihm die Sicht getrübt. Er hatte gewusst, dass er sich in Gefahr befand, vielleicht sogar weit mehr, als er ahnte, doch er hatte nicht die Nerven verloren, sondern gewartet, bis das Boot der Küstenwache aus dem Nebel auftauchte. Der Kapitän hatte ihm klargemacht, er hätte sich nur noch wenige Meter von einer starken Meeresströmung befunden, die ihn aufs offene Meer hinausgezogen hätte, und so hatte er nach seiner Rettung bedeutend mehr Angst gehabt als mitten in der prekären Lage.
Das war eines seiner Abenteuer gewesen. Die anderen beiden hatten länger gedauert. Mit achtzehn, als frischgebackener Studienanfänger, hatte Scott es abgelehnt, sich vom Wehrdienst zurückstellen zu lassen, weil er es nicht mit seiner Moral vereinbaren konnte, dass andere sich einer Gefahr aussetzten, die er selbst mied. Damals erschien ihm dieses jugendlich hochfliegende Ehrgefühl moralisch geboten, doch als der Musterungsbescheid kam, war alle Romantik verflogen. In kürzester Zeit fand er sich zuerst als Rekrut wieder und wenig später bei einer Versorgungseinheit in Vietnam. Ein halbes Jahr lang diente er bei der Artillerie. Seine Aufgabe bestand darin, Koordinaten über Funk zu empfangen und an den Frontkommandeur weiterzuleiten, der Schusshöhe und -weite darauf abstimmte und unter lautem Zischen die nächsten Salven abfeuern ließ - worauf ein Grollen folgte, das ihm immer viel tiefer in den Ohren hallte als jeder Donner. Später verfolgten ihn Alpträume, in denen er Teil einer Tötungsmaschinerie war, die außerhalb seiner Sicht- und Reichweite ablief und die er zuweilen nicht einmal hören konnte, so dass er mitten in der Nacht erwachte und sich fragte, ob er Dutzende, Hunderte oder auch niemanden umgebracht hatte. Im Zuge eines turnusmäßigen Truppenwechsels kam er nach einem Jahr heim, ohne auch nur einen einzigen Schuss auf jemanden abgegeben zu haben, den er hätte sehen können.
Nach dem Wehrdienst hatte er um die Politik, die in seinem Land hohe Wellen schlug, einen großen Bogen gemacht und sich mit einer Zielstrebigkeit in sein Studium gestürzt, die ihn selbst überraschte. Nachdem er den Krieg aus eigener Erfahrung kannte, fand er Trost in der Geschichte, in Entscheidungen, die vor langer Zeit gefallen waren, in großen Passionen, die nur noch als Echo widerhallten. Er sprach nicht über seine Zeit beim Militär, und jetzt, im mittleren Alter, als unkündbare Respektsperson, bezweifelte er sehr, ob auch nur ein einziger seiner Kollegen wusste, dass er im Krieg gewesen war, zumal es ihm selbst oft wie ein Traum, vielleicht ein Alptraum vorkam und nicht wie ein tatsächliches, todbringendes Lebensjahr.
Sein drittes Abenteuer war natürlich Ashley gewesen.
Scott Freeman nahm den Brief, ging zu Ashleys Bett und setzte sich auf die Kante. Auf dem Bett lagen drei Kissen, und eins davon, das er ihr vor über drei Jahren zum Valentinstag geschenkt hatte, war mit einem Herzen bestickt. Außerdem saßen da noch die beiden Teddybären, die sie Alphonse und Gaston getauft hatte, und eine ausgefranste Steppdecke, die sie zu ihrer Geburt bekommen hatte. Beim Anblick der Decke musste Scott daran denken, wie sie in den Wochen vor Ashleys Geburt Witze darüber gemacht hatten, dass beide Großmütter dem noch ungeborenen Kind Steppdecken schenkten. Die andere befand sich auf einem ähnlichen Bett in einem ähnlichen Zimmer im Haus ihrer Mutter.
Sein Blick wanderte durch das Zimmer. An einer Wand hingen Fotos von Ashley mit Freunden, außerdem alle möglichen Trophäen, einschließlich Zetteln in der flüssig akkuraten Handschrift von Schülerinnen. Da prangten Poster von Athleten und Poeten, ein gerahmtes Gedicht von William Butler Yeats, das mit den Worten endete: Ich leide, wenn ich dich küsse,/Da ich wissen muss,/Dass ich Dich vermissen werde,/Wenn du erwachsen bist.Er hatte es ihr zum fünften Geburtstag geschenkt und oft beim Einschlafen ins Ohr geflüstert. Es gab Fotos von ihren verschiedenen Fußball- und Softball-Teams sowie ein Bild vom Highschool-Abschlussball, das genau in der Blüte ihrer jugendlichen Schönheit entstanden war, Ashley in einem Kleid, das sich eng an jede neu entdeckte Kurve schmiegte, das Haar fiel ihr anmutig auf die nackten, schimmernden Schultern. Scott Freeman wurde bewusst, dass er hier das typische Sammelsurium an Erinnerungen vor Augen hatte, die klassische Dokumentation einer Kindheit, so wie vermutlich in jedem x-beliebigen anderen Jugendzimmer, und doch auf seine Weise einmalig. Eine Archäologie des Erwachsenwerdens.
Auf einem Foto posierten sie alle drei. Ashley war sechs, als es, vielleicht einen Monat bevor ihre Mutter ihn verließ, entstand. Es stammte vom Strandurlaub der Familie, und es schien ihm, als läge etwas Hilfloses in dem Lächeln, das sie alle drei aufgesetzt hatten. Ashley hatte an diesem Tag zusammen mit ihrer Mutter eine Sandburg gebaut, doch die Flut hatte ihre Mühe zunichte gemacht und ihr ganzes Gebäude unterspült, obwohl sie in wildem Eifer Burggräben angelegt und Sandwälle aufgetürmt hatten.
Er suchte die Wände, die Schreibtischplatte und die Schubladen ab und konnte absolut nichts Ungewöhnliches entdecken. Das beunruhigte ihn erst recht.
Scott sah noch einmal auf den Brief. Keiner könnte dich jemals so lieben wie ich.
Er schüttelte den Kopf. Das stimmte nicht, dachte er. Jeder liebte Ashley.
Was ihm Angst machte, war die Vorstellung, dass jemand von diesem Unsinn überzeugt war. Für einen Moment versuchte er sich noch einmal einzureden, er leide nur an einem...
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