"Amelie, kommen Sie in der Pause, bitte, kurz in mein Büro!", bat der Intendant der Kleinbühne in München eine seiner besten Nebendarstellerinnen, während die Probe noch lief. Alle hörten es und warfen ihrer Kollegin bedauernde Blicke zu.
Vermutlich bedeutete es das, worüber man nie sprach und das jedem von ihnen zu jeder Zeit passieren konnte. Kaum einer hatte eine Festanstellung. Die Verträge liefen von Spielzeit zu Spielzeit. Wurde jemand nicht mehr gebraucht, musste er sehen, wie er wieder an Arbeit kam.
Die Probe forderte den Schauspielern wie immer alles ab. Musical bedeutete Tanzen, Singen und Spielen. Es war harte Arbeit, war man talentiert und dazu bereit, alles zu geben, dann machte es große Freude.
Amelie liebte es und wollte nichts anderes tun. Mit neunundzwanzig zählte sie allerdings bereits zu den Älteren. Ihr lief die Zeit davon, wenn sie noch Karriere machen wollte.
Nach der Aufforderung des Intendanten konnte sie sich nicht mehr voll und ganz auf die komplizierten Tanzschritte der Einlage konzentrieren, die gerade geprobt wurde. Der Regisseur warf ihr mehrere ungehaltene Blicke zu, sagte aber nichts. Im Normalfall war sie seine beste Tänzerin.
Er war Perfektionist und hatte schon in Tränen aufgelöste Schauspieler von der Probebühne gejagt, wenn sie seinen Anforderungen nicht gerecht wurden. Seine Nachsicht erschreckte Amelie noch mehr.
Bisher hatte es geheißen, dass ihr Engagement auf jeden Fall noch um eine Spielsaison verlängert wurde. Hatte sich daran etwas geändert? Stand sie zum Ende dieser Saison in gut zwei Monaten auf der Straße, obwohl die Spielzeit des Musicals noch einmal verlängert worden war?
Bange ging sie im Geiste die letzten fünf, sechs Vorstellungen durch. War sie schlechter gewesen als gewöhnlich? Hatte sie sich mehr Fehler geleistet? Ihr war nichts aufgefallen. Im Gegenteil, sie war recht zufrieden mit ihren Leistungen gewesen, aber das musste schließlich nichts heißen.
Für eine Schauspielerin war es hart, sich über Wasser zu halten. Der Traumberuf erforderte erbarmungsloses Training, ließ so gut wie keine Freizeit und wurde erbärmlich bezahlt, wenn man nicht zu den Glücklichen gehörte, die sich einen Namen gemacht hatten. Sie gehörte zu denen, die mit jedem Cent rechnen mussten und dennoch kaum über die Runden kamen.
Amelie hatte Angst. Sie hatte ihrem Vermieter gesagt, dass sie die Wohnung noch für ein Jahr mieten wollte, und einen entsprechenden Vertrag unterschrieben. Verlor sie ihr Engagement, hatte sie keine Ahnung, wohin es sie verschlug. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in München bleiben konnte, war dann eher gering.
Die schlimmste Möglichkeit war streng genommen, dass sie in München bleiben musste, weil sie bei keinem anderen Theater in Deutschland unterkam. Ein Rauswurf so kurz vor Spielzeitende war eine Katastrophe. Sie hätte sich längst nach einer neuen Stelle umsehen müssen.
Wie sollte sie ohne Arbeit durchkommen? Sie musste sich eben wieder einmal ein paar Jobs als Kellnerin suchen, aber dafür war die Miete für die zwei mickrigen Zimmer deutlich zu hoch. Konnte sie vielleicht ihr zweites Zimmer untervermieten? Es waren immer Kolleginnen auf der Suche nach Möglichkeiten, günstig unterzukriechen. Es ging vielen wie ihr.
Amelie atmete auf, als endlich das Pausenzeichen gegeben wurde und sie von der Bühne eilen konnte. Rasch zog sie sich einen leichten Pulli über und ging auf direktem Weg zum Büro des Intendanten. Es war besser, es gleich hinter sich zu bringen.
Dann wusste sie, was Sache war, und konnte anfangen, konkret über weitere Schritte nachzudenken. Den Kopf in den Sand zu stecken hatte ihr noch nie geholfen, und sie hatte es sich auch nie leisten können. Ungewissheit war immer am schlimmsten.
"Amelie, setzen Sie sich!" Der Intendant bot ihr einen Stuhl an und zeigte sein väterlich freundliches Gesicht.
"Danke!" Amelie ließ sich davon nicht täuschen. Er war ein knallharter Rechner, und wenn er den Rotstift ansetzte, dann war es ihm vollkommen egal, wen seine Kürzungen um die Existenz brachten. Sie gestand ihm zu, dass er seinen Job gut machte, aber das änderte nichts daran, dass sie ihn nicht mochte.
"Wir hatten Besuch in der letzten Vorstellung", begann er. "Rainer Klausensteiger war da, um sich die Vorstellung anzusehen. Er wollte sich, ohne dass jemand aus dem Ensemble es erfährt, unvoreingenommen und ohne im Vorfeld für Aufregung zu sorgen, einen Eindruck verschaffen."
Rainer Klausensteiger - Amelies Herzschlag beschleunigte sich. Der Talentsucher war in der Branche gefürchtet, aber er war auch die große Hoffnung der Ehrgeizigen. Erklärte er jemanden für gut, dann standen ihm alle Türen offen. Er machte Stars, und er holte sie auch wieder vom Himmel und ließ sie in der Versenkung verschwinden, wenn sie zu alt geworden waren oder nicht brav in der Spur liefen und die Dinge nicht so machten, wie es von ihnen erwartet wurde.
"Amelie, Sie sind ihm aufgefallen. Eine der Inszenierungen, für die er das Casting macht, geht für ein Jahr auf Tournee durch Europa, und hinterher ist eine Tour durch Amerika angedacht. Ihm fehlt noch die Hauptdarstellerin. Sie sind im Rennen, wenn Sie das wollen", informierte sie der Intendant sachlich.
Er deutete ihr Schweigen und ihren fragenden Blick richtig, denn Amelie wunderte sich in der Tat über das tolle Angebot.
"Nein, ich stelle Ihnen keine Falle!", beteuerte der Intendant. "Was hätte ich davon? Selbstverständlich liegt es in meinem Interesse, dass Sie hier bei uns im Ensemble bleiben. Ich biete Ihnen eine deutliche Aufbesserung Ihrer Gage, sollten Sie in München bleiben. Aber ich stehe Ihrer Karriere auch nicht im Weg und lasse Sie am Ende dieser Spielzeit gehen, falls Sie das wünschen."
Amelies Misstrauen vertiefte sich noch. Gutmenschen hielten sich nicht in dieser Branche. Sie war für Haifische gemacht.
"Rainer und ich sind an diesem Punkt keine Konkurrenten. Ich habe Ihnen hier am Haus keine Daueranstellung zu bieten, und wenn das Musical ausläuft, werden wir vorerst kein neues ins Programm nehmen. Sie sind eine gute Schauspielerin, aber Ihr Schwerpunkt liegt auf Gesang und Tanz", fuhr er fort.
Amelie hatte ihm nachdenklich zugehört. Das klang sehr fair und freundlich, aber sie wäre jede Wette eingegangen, dass es für den Intendanten dabei etwas zu gewinnen gab. Was ihm Klausensteiger auch im Gegenzug geboten haben mochte, ihr konnte es einerlei sein. Das war die große Chance, auf die sie lange hingearbeitet und gewartet hatte.
"Sind Sie interessiert?"
"Ja!" Amelie nickte, hielt sich aber mit ihrer Begeisterung weiterhin zurück.
"Das dachte ich mir. Ich kann es Ihnen nicht verdenken", meinte er. "Die Guten wollen ganz nach oben und gehen. So ist das immer." Er lächelte sie an - ganz wohlmeinende Frustration.
Amelie wollte sich freuen, sich entspannen, Dankbarkeit zeigen, aber etwas an diesem Lächeln jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Wann kam der Haken? Wo lag der Haken versteckt, den sie bisher nicht entdecken konnte? Sie hatte ein ungutes Gefühl.
"Rainer ist noch für ein paar Tage in der Stadt. Es gibt kein offizielles Casting für die Rolle. Er möchte Sie gerne unverbindlich kennenlernen und ein Vorgespräch mit Ihnen führen. Falls es passt und die Chemie stimmt, haben Sie die Rolle und bekommen den Vertrag."
Das Vorgehen war unüblich. Amelie fragte sich, warum Grund zu dieser Eile bestand. Sie war vertraglich noch für zwei Monate an die Kleinbühne gebunden.
"Weiß er, dass ich noch für zwei Monate hier bin?", wollte sie wissen.
Der Intendant nickte.
"Ich habe gesagt, dass ich Sie nur zur Not vorher freigeben kann. Das ist alles Verhandlungssache. Die Proben für die Tournee laufen in München. Vielleicht ist es möglich, dass Sie hier noch die Aufführungen machen, aber tagsüber schon mitproben. Das wird man sehen!", sagte er und stellte eine ungewöhnliche Kompromissbereitschaft in Aussicht.
Äußerst nachdenklich und mit der mobilen Telefonnummer von Rainer Klausensteiger in der Tasche verließ Amelie das Büro. Noch bestand die Möglichkeit, ihr Engagement in München zu verlängern. Der Intendant hatte das vor ihrem Gehen extra noch einmal betont und ihr ein durchaus lukratives Angebot gemacht.
Nahm sie es an, konnte sie sich ganz normal nach einem neuen Engagement an einer anderen Stadtbühne umsehen, wenn das Musical aus dem Programm genommen wurde. So oder so stand sie gut da, und allmählich machte sich Feierlaune in ihr breit.
Vielleicht nahm ihr Leben nun eine entscheidende Wende und wurde etwas einfacher. Sie arbeitete gerne und klaglos Tag und Nacht, aber die finanziellen Engpässe und das endlose Sparen waren kräftezehrend.
***
"Bald kennen wir einen internationalen Musical-Star und bekommen für alle Aufführungen weltweit kostenlose Karten in der ersten Reihe!", freute sich Dani Holl.
"Die Flugtickets und Hotelzimmer bekommen wir natürlich auch noch gratis dazu, Amelie, oder?", fragte ihr Zwillingsbruder Marc Holl unschuldig.
"Aber selbstverständlich!", antwortete die Schauspielerin heiter. "Gegen eine Selbstbeteiligung von hundert Prozent bin ich geneigt, euch den...