Es war ein warmer, sonniger Frühlingsnachmittag. Ermelinde Meier, von allen Freunden und Bekannten liebevoll Mutsch Meier genannt, lag im Wintergarten in ihrem bequemen Ohrensessel, dessen Fußteil aufgestellt war. Sie hatte sich in eine Decke gewickelt und döste in der Sonne mit geschlossenen Augen vor sich hin. Ein Lächeln flog über das rosige Gesicht der alten Dame, das kaum Falten hatte. Sie träumte sich wieder einmal in glücklichere Zeiten.
"Mutsch, Mutsch!", ertönte die helle Stimme der kleinen Silja. "Bitte, bitte erzähl mir eine von deinen schönen Geschichten!"
Erschrocken blieb die Sechsjährige stehen, als Mutsch Meier ganz vorsichtig die Augen öffnete und in die Sonne blinzelte.
"Hab ich dich geweckt?"
"Nein, meine Kleine", wehrte Mutsch rasch ab. "Komm, setz dich zu mir! Wir machen es uns hier im Sonnenschein gemütlich!"
"Au ja, und die Mami kocht uns einen Kakao!" Begeistert zog die Kleine einen Hocker heran. "Erzählst du mir dann wieder von früher? Ich meine, wo du doch wach bist ."
Ein zärtliches Lächeln verschönte das faltige Altfrauengesicht und schenkte ihm einen besonderen Zauber.
"Ja, Herzchen, das werde ich! Ach, Kind, das tue ich viel zu gern, wenn es dich nicht langweilt."
"Nie", versicherte Silja im Brustton der Überzeugung. "Du kannst richtig gut so Sachen erzählen."
So Sachen! Mutsch Meiers Lächeln wurde breiter. In ihre Stimme schlich sich ein Glucksen ein.
"Tja, sie sind halt echt, die Sachen!"
Lisa de Boor, die vor wenigen Monaten die Pflege von Ermelinde Meier übernommen hatte, brachte ein Tablett mit Kaffee und Kakao in den Wintergarten. Sie hatte auch die Lieblingskekse von Mutsch Meier nicht vergessen.
"Hallo, meine bezaubernden Ladys, hier ist euer Wunschgetränk!" Sie strich ihrer kleinen Tochter zärtlich über den Kopf. "Es ist so schön, hier in der Sonne zu sitzen, nicht wahr?"
Lisa reichte der Hausherrin eine Tasse Kaffee und setzte sich in einen der hübschen Korbsessel.
"Ja, Lisa, die Wärme der Sonnenstrahlen streichelt die Seele", erwiderte Mutsch Meier leise.
Dann schloss sie einen Moment lang die Augen. Sie seufzte kaum hörbar, ehe sie von früher erzählte, als ihre Familie noch intakt war, als ihr Mann Heribert noch lebte und Gereon, ihr Sohn, daheim war.
"Mein Heribert war ein bekannter Mann in München", begann sie, und Lisa spürte die Sehnsucht, aber auch den Stolz in Mutschs Stimme. "Er war einer der besten Optiker - nein, er war der beste!"
"Was ist ein Opziga?", zwitscherte Silja.
"Ein Optiker, meine kleine Silja, stellt fest, wie gut du sehen kannst. Wenn du eine Brille haben musst, passt er sie dir an. Und - schwups - siehst du wieder richtig gut und kannst viel besser Lesen und Schreiben lernen."
"Brauch ich nicht", stellte Silja fest. "Ich kann richtig gut gucken! Und lesen kann ich auch schon - na ja, ein bisschen!"
Mutsch Meier schwärmte von dem gemeinsamen Leben mit ihrem Mann, dem schönen Geschäft und der kleinen Fabrik, in der Heriberts eigene Brillenkreationen gefertigt worden waren. Die junge Ermelinde hatte ihrem Mann geholfen und an seiner Seite einen festen Platz in der Münchner Gesellschaft gefunden.
Heribert war ein gutherziger Mann gewesen, der aus Dankbarkeit für seinen beruflichen Erfolg gern denen etwas gab, die nichts hatten und seine Unterstützung brauchten.
Als Gereon geboren wurde, dauerte es nicht lange, bis Ermelinde auch bei ihren karitativen Einsätzen nur noch "Mutsch Meier" genannt wurde. Und in jedem ihrer Worte klang eine unbändige Sehnsucht und tiefes Leid mit.
"Hat Gereon nicht Mami gesagt?" Siljas helle Stimme wirkte tröstlich auf die gequälte Seele der alten Dame.
"Als er sprechen lernte, nannte er mich natürlich Mama. Aber später fand er es lustig, dass alle Mutsch zu mir sagten. Sogar seine Lehrerin in der Schule und die Verkäuferin im Supermarkt."
Sie ließ sich von Lisa das alte, ein bisschen zerfledderte Fotoalbum geben und streichelte zärtlich über den abgegriffenen Einband, ehe sie Silja die ersten Fotos ihres Sohnes zeigte.
"Er war ein süßer Kerl, fast so niedlich wie du, mein Mäuschen ."
Eine Weile schwieg sie. Sie schloss die Augen, als wollte sie die Fotos nicht mehr anschauen. Zu lange hatte sie von ihrem Sohn nichts mehr gehört. Sie fand keine Worte, die ihre geheimsten Wünsche tränenlos hätten ausdrücken können.
Vorsichtig nahm Lisa das Album an sich und zog die leichte Wolldecke ein wenig höher, sodass Mutsch Meier nicht frieren musste. Dann gab sie ihrer Tochter einen Wink. Leise zogen sie sich zurück und überließen die Hausherrin ihren Erinnerungen.
Die Fünfundachtzigjährige hatte nicht bemerkt, dass sie allein im Wintergarten saß. Sie spürte die Sonne wie eine zarte Berührung, die jedoch die Kälte, die sie im Herzen empfand, nicht verscheuchen konnte.
Gereon war erwachsen geworden und hatte sich mit seinem Vater überworfen. Er hatte sich geweigert, den Beruf des Optikers zu ergreifen und die Firma zu übernehmen. Mutsch hatte hilflos zusehen müssen, wie ihr Familienglück zerbrach.
Als der Sohn sich unversöhnlich zeigte und bei Nacht und Nebel verschwand, war die Kälte in ihr Leben eingezogen. Heribert hatte es nie verwunden, dass Gereon stillschweigend das Haus verlassen hatte. Er war erkrankt und hatte täglich an Kraft verloren, Kraft, die auch Ermelinde ihm nicht mehr geben konnte.
Heribert Meier hatte seine Firma verkauft und dafür gesorgt, dass seine Frau ein gutes Leben haben würde, wenn er einmal gehen musste. Seinen Sohn hatte er nicht mehr wiedergesehen.
Gereon hatte sich erst zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters aus Amerika gemeldet. Zurückgekommen war er nicht mehr. Er hatte geheiratet und war Vater eines Sohnes geworden.
Viel mehr wusste seine Mutter nicht. Die seltenen Kartengrüße oder auch das eine oder andere Foto aus dem fernen Amerika verrieten nichts von seinem neuen Leben.
Mutsch Meier wischte sich über die Augen und schaute sich suchend um.
"Wo seid ihr denn, Lisa? Silja? Ich schlafe nicht, Kinder! Bitte, lasst mich nicht allein!"
Besorgt eilte Lisa herbei und sprach beruhigend auf ihren Schützling ein.
Frau Ermelinde lächelte. Dennoch sah sie unendlich traurig aus. Dann fielen ihre Augen wieder zu. Im nächsten Moment war sie eingeschlafen.
Lisa de Boor betrachtete die alte Dame eine kleine Weile voller Sorge. Wenn sich doch wenigstens dieser Gereon mal melden würde! Es konnte doch nicht sein, dass er seine Mutter vergessen oder aus seinem Leben gestrichen hatte! Hätte sie seine Telefonnummer finden können, sie hätte ihn längst angerufen!
***
Es war einer jener Tage, an denen in der Berling-Klinik alles ein bisschen durcheinanderging. Im Kreißsaal war die Hölle los. Gleich drei werdende Mütter lagen in den Ruheräumen, und bei jeder konnte die Geburt im nächsten Moment einsetzen.
Auch auf der Chirurgie gab es alle Hände voll zu tun, da es zu einem Unfall in der Innenstadt gekommen war. Ein Motorradfahrer hatte einem Omnibus die Vorfahrt genommen. Dr. Daniel Falk hatte alle Ärzte des Hauses in die Ambulanz gerufen, damit möglichst schnell Ordnung in das Chaos kam und jedem der Verletzten schnell geholfen werden konnte.
Im Sekretariat des Chefarztes Dr. Stefan Holl bemühte sich Moni Wolfram, möglichst viele Termine des Klinikchefs zu verlegen, als Dr. Holl hereinschaute und um eine Tasse Kaffee bat.
"Das erste Baby ist da und bei Frau Sanders in besten Händen", erklärte er strahlend. "Und die frischgebackene Mama, Frau Sellmann, ist in bester Verfassung."
"Und Herr Sellmann? Er hatte so große Angst vor der Geburt seines ersten Kindes", erinnerte sich Moni Wolfram.
"Schauen Sie nachher mal bei der jungen Familie vorbei. Die Sellmanns mit ihrer kleinen Sophie werden sich freuen."
"Chef!", rief Schwester Annegret ein wenig außer Atem. "Es geht los bei Frau Hollerstein!"
"Ich bin sofort da, Annchen!" Dr. Stefan Holl stellte die Kaffeetasse auf den Empfangstresen und eilte mit der alten Schwester davon.
Moni Wolfram sah ihrem Chef mitfühlend nach. Dann ging sie ins Wartezimmer und vertröstete die beiden Damen, die auf Dr. Holl warten wollten.
"Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis Dr. Holl aus dem Kreißsaal kommt. Aber ich gebe Ihnen gern einen neuen Termin."
Magdalene Venninghoff erhob sich.
"Machen Sie sich um mich keine Gedanken, liebe Frau Wolfram. Ich komme gern ein anderes Mal wieder. Ist ja nur die jährliche Vorsorgeuntersuchung. Da kommt es auf einen Tag nicht an. Die kleinen neuen Erdenbürger sind wichtiger als ich alte Frau!"
Die Sekretärin protestierte lachend "Von wegen alt! Sie stecken so manche jüngere Frau in die Tasche! Darf ich Sie anrufen, wenn ein Termin frei wird? Morgen ist Dr. Holl leider schon ausgebucht."
Damit war...