Dr. Nico Baumgart kniff für einen Moment die Augen zusammen, als er zum wiederholten Mal das scharfe Brennen der Schweißtropfen spürte. Schwester Marion, aufmerksam wie immer, sah es und tupfte ihm mit einem Tuch über die Stirn.
"Danke", murmelte der Arzt, ohne sie anzuschauen, denn die Patientin auf der Tabula erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Seit Stunden stand er mit drei Kollegen im Operationssaal 2 der Berling-Klinik und versuchte, das Leben der Schwerverletzten zu retten.
In den frühen Morgenstunden war sie vom Notarzt eingeliefert worden. Erste Untersuchungen hatten ein Polytrauma ergeben, und noch immer war nicht sicher, ob die junge Frau ihre Verletzungen überleben würde.
Die Chirurgen kämpften mit allen ihren Kräften. Dr. Baumgart konnte nur hoffen, dass der Kreislauf und das Herz der Patientin durchhielten. Stumpfe Einwirkungen auf den Bauch hatten einen Riss in der Milzkapsel, die Durchtrennung eines großen Gefäßes und den Abriss eines Eileiters verursacht. Außerdem waren bis jetzt drei Knochenbrüche gezählt worden, darunter das rechte Schlüsselbein.
Zum Glück waren im Gehirn keine Blutungen erkennbar gewesen. Dennoch blieb abzuwarten, ob die sofort vorgenommene Notoperation das Schlimmste bei diesem Polytrauma verhindern konnte.
Die Frakturen wurden einstimmig als weniger kritisch betrachtet und ihre Versorgung auf später verschoben. Um sie behandeln zu können, sollten erst die Schwellungen in den betroffenen Regionen zurückgehen.
Zunächst versorgten die Ärzte die Milz und einen Lebereinriss unter Zufuhr von Blutkonserven. Der Bauchraum war eröffnet, geronnenes Blut entfernt und abgesaugt worden.
"Bei der Milz beschränken wir uns auf eine Resektion", sagte Dr. Baumgart. "Ist jemand anderer Meinung?"
Chefarzt Dr. Holl signalisierte Zustimmung, indem er ein kurzes Okay durch den Mundschutz vernehmen ließ.
"Wäre die komplette Entfernung nicht besser?" Kollege Michael Wolfram, ebenfalls Chirurg, stand auf der anderen Seite des OP-Tisches. Mit zwei Rundhaken hielt er die Wundränder auseinander. "So würden wir weiteren Komplikationen vorbeugen."
"Ich möchte die Blutgefäße erhalten, also versuchen wir es."
Dr. Nico Baumgart blieb bei seiner Einschätzung. Die Milz wurde an der offenen Stelle vernäht und mit Gewebeklebern verschlossen. Ebenso verfuhren die Ärzte beim Lebereinriss.
Nun versorgte Dr. Holl die inneren Geschlechtsorgane. Die Eierstöcke schienen unverletzt, aber den rechten Eileiter musste er zu seinem großen Bedauern entfernen. Den linken vernähte er mit feinen Stichen an der Uteruswand. Sollte die nun verbliebene Tube durch die Bauchraumverletzungen im Laufe der Zeit verkleben, konnte diese junge Frau nicht mehr auf natürlichem Wege schwanger werden. Aber zum Glück gab es ja mittlerweile gute Methoden der künstlichen Befruchtung.
Zwischendurch machte Dr. Andrea Kellberg, die gemeinsam mit ihrer Assistentin Hanna Hartmann am Kopfende saß, auf die Kreislaufwerte der Bewusstlosen aufmerksam, die ebenfalls Anlass zur Sorge gaben.
Nico Baumgart wusste, dass es typische Unfallverletzungen waren, die sie behandelten. Laut Notarzt hatte die Frau das Fahrzeug gesteuert, aber auch ein Mann war noch dabei gewesen. Der Begleiter der Verunglückten war mit leichteren Verletzungen in eine andere Klinik gebracht worden.
"Wir müssen sie in einen künstlichen Tiefschlaf versetzen", ordnete Chefarzt Dr. Holl an, der in seiner Eigenschaft als Gynäkologe ebenfalls anwesend war. Die Bauchverletzungen hatten ja auch die inneren Geschlechtsorgane in Mitleidenschaft gezogen.
"Hauptsache, wir können sie retten", sagte Nico Baumgart inbrünstig. Er wusste nicht, wie viele Stunden er und das Team schon am OP-Tisch standen. Die körperliche Anstrengung war ihm auch unwichtig. Er wollte dieses junge Leben retten. Dafür ging er gern bis an seine Grenzen.
Acht Stunden nach Operationsbeginn gab Dr. Kellberg die passende Dosierung für den Tiefschlaf.
Dr. Baumgart und Dr. Wolfram gönnten sich erst einmal einen Kaffee, während Dr. Holl gleich nach Hause fuhr. Seine Dienstzeit war wieder einmal um Stunden überschritten, aber das betraf nicht nur ihn allein, sondern eigentlich alle seiner Mitarbeiter.
Unterwegs überlegte er schon, wie er seine Entschuldigung formulieren sollte. Erst gestern war er von seiner jüngsten Tochter Juju dringend aufgefordert worden, in Zukunft wieder öfter zu Hause zu sein.
"Sonst hab ich dich nicht mehr lieb, Papi", hatte sie ihren Worten eindringlich hinzugefügt und versucht, dabei ganz streng dreinzublicken. Lange konnte sie die Strenge aber nicht durchhalten. Im nächsten Augenblick wurde er umarmt und bekam süße kleine Küsse auf die Wange.
Dr. Stefan Holl, Chefarzt und Gynäkologe, liebte seine Arbeit, die für ihn eher eine Berufung war.
Die Klinik hatte er von seinem Schwiegervater Walter Berling übernommen, der schon längst gemeinsam mit seiner Frau Nessy den wohlverdienten Ruhestand genoss.
Kaum zu Hause angekommen, sprang Juju ihrem Vater schon entgegen. Er fing die Kleine auf und schwenkte sie ein paar Mal durch die Luft, was bei ihr ein fröhliches Kreischen auslöste.
"Was ist denn hier los?", rief Julia Holl, die im Hauseingang stand. "Geht's nicht auch ein bisschen leiser?"
Stefan trug das Mädchen hinein, gab seiner Frau im Vorbeigehen einen Kuss und teilte mit, dass er kurz vor dem Hungertod stehe.
"Ich habe Cäcilie beim Kochen geholfen", erklärte Juju ihrem heiß geliebten Papi, als der sie auf den Fußboden zurückstellte. "Du wirst sehen, heute schmeckt es ganz besonders gut."
Wenig später überkam den Chefarzt der Berling-Klinik wieder dieses wunderbare Gefühl inmitten seiner Familie, diesem Quell der Kraft, den er für seine anstrengende Arbeit so dringend brauchte. Das gelegentlich recht turbulente Leben mit Julia und den vier gemeinsamen Kindern bedeutete für ihn mehr Erholung als drei Wochen Urlaub.
Heute saßen außer Juju noch der fünfzehnjährige Chris und die zwanzigjährigen Zwillinge Marc und Daniela am Tisch. Klar, dass es recht temperamentvoll zuging. Doch Mutter Julia gelang auch diesmal wieder eine halbwegs ausgewogene Moderation.
***
Dr. Nico Baumgart betrachtete die junge Frau, die er gemeinsam mit den Kollegen so lange operiert hatte. Ein Arm war schon geschient worden, ein Bein lag auf einem Gipsbett, das Beatmungsgerät arbeitete im immer gleichen Rhythmus.
Die Frau hieß Tina Lindner, war fünfundzwanzig Jahre alt und wohnte in München. Das Fahrzeug war gegen einen Baum geprallt und später ausgebrannt. Bevor es in Flammen aufging, war es jedoch dem Beifahrer gelungen, seine Freundin aus dem Wagen zu bergen. Anschließend hatte er den Notarzt alarmiert. Mehr wusste Nico nicht.
Eine Weile blieb er noch neben der reglosen Gestalt des Unfallopfers stehen. Das Gesicht war geschwollen und wies einige Prellungen auf. Auf der Stirn befanden sich ein paar kleinere Schnittwunden, aber all das würde, ganz im Gegensatz zu den anderen Verletzungen, in ein paar Tagen wieder verheilt sein. Fraglich war auch, ob sie sich überhaupt noch an das schreckliche Geschehen erinnerte. Ereignisse dieser Art zogen nicht selten Gedächtnislücken oder gar den Gedächtnisverlust nach sich.
Nico Baumgart verließ die Intensivstation. Erst jetzt spürte er die Müdigkeit als Folge dieser langen Anstrengung und beschloss, sich einen Kaffee aus dem Getränkeautomaten zu holen. In seiner Hosentasche fand er ein passendes Geldstück, warf es ein und zog den Becher aus dem Fach.
Der Chirurg machte ein paar Schritte zum Fenster hinüber und schaute hinaus in den frühen Abend. Seit Wochen lag ein milder Herbst über dem Land. Laut Wetterbericht sollte es auch noch eine ganze Weile so bleiben. Das bunte Laub der Bäume setzte die schönsten Farbtupfer in die Landeshauptstadt. Schade, dass es nicht den Winter über so bleiben kann, dachte Nico.
Der schwarze und ungesüßte Kaffee schmeckte bitter, tat aber durchaus seine belebende Wirkung. Noch während Nico Schlückchen für Schlückchen den Becher leerte, hörte er aus dem gegenüberliegenden Raum ein erregtes Gespräch, in dem er auch Hannas Stimme zu hören glaubte.
Schließlich warf er das leere Gefäß in den Abfalleimer, machte ein paar Schritte über den Gang und schob die nur angelehnte Tür weiter auf.
"Hallo", sagte er und lächelte. "Kann ich irgendwie behilflich sein?"
Dr. Andrea Kellberg und Dr. Hanna Hartmann standen sich wie zwei Kampfhennen gegenüber und fuhren jetzt auseinander. Dr. Kellbergs Miene wirkte ausgesprochen ärgerlich, während Hanna etwas betreten zu ihm hersah.
Andrea Kellberg ergriff als Erste das Wort.
"Danke, Nico, aber ich glaube, wir haben die Differenzen geklärt." Während sie sprach, glätteten sich die Falten auf ihrer Stirn.
"Es ging um den Tiefschlaf bei der Patientin Lindner. Die Kollegin Hartmann hat nicht die wirkungsabhängige Dosierung vorgenommen, die ich angeordnet hatte. Darum habe ich dieses Versäumnis korrigiert und sie nun daraufhin noch mal angesprochen. Bei so einer OP auf Leben und Tod dürfen solche Fehler nicht passieren."
...