"Alles Gute zum Geburtstag, Stella! Ohne dich wären wir ganz arme Wichtel. Du bist spitze, und wir wissen, was wir an dir haben!"
Gerührt nahm Stella Wagner die herzliche Gratulation ihrer Kollegen entgegen. Sie überraschten sie mit einem improvisierten Geburtstagskaffee in der Übergabezeit zwischen Früh- und Spätdienst. Das hatte es zuvor noch nie auf der Station gegeben.
Die drei Tische des Schwesternzimmers der neurologischen Station der Berling-Klinik in München waren zusammengeschoben worden zu einer Art Tafel. Mehrere Kerzen brannten, und es lief eine CD mit schöner Klaviermusik, die Stella besonders mochte.
Kuchen und salziges Gebäck standen bereit. Es duftete nach Kaffee. Der Frühdienst blieb extra länger, um mit dem Spätdienst feiern zu können. Man half rasch zusammen, damit auf der Station alles seinen geregelten Gang ging und man ungestört etwas Zeit zusammen verbringen konnte.
"Ihr seid unglaublich!", bedankte sich Stella, und man sah ihr an, wie sehr sie sich freute. "Danke!"
"Umgekehrt wird ein Schuh daraus", sagte da Karl-Heinz Schreiner, der die Dienstpläne koordinierte und die Pflege der Station leitete.
Im Normalfall galt der fünfzigjährige Karl-Heinz als äußerst zurückgezogen und streng, aber nun war seine Miene weich.
"Wann immer einer von uns Probleme hat, bist du zur Stelle. Du hörst zu, springst ein, wenn es eng wird, und machst nie eine große Sache daraus. Ohne dich würde der Laden hier nur halb so gut laufen. Du bist unglaublich!", lobte er sie, und ein Lob war bei ihm die Ausnahme.
Alle klatschten und nickten zustimmend.
Stella war sehr beliebt, obwohl sie zu den eher stillen Kolleginnen zählte und sich so gut wie nie in den Vordergrund spielte. Sie war einfach da, wenn man sie brauchte, und ansonsten machte sie auf ihre gründliche und liebevolle Weise ihre Arbeit.
"Wie wirst du deinen dreißigsten Geburtstag begehen? Ich glaube, an dem Tag hänge ich mich auf! Meinen Dreißigsten erkläre ich jetzt schon zu meinem persönlichen Volkstrauertag, nehme Urlaub und bedauere mich. Spätestens dann ist es mit dem schönen Leben vorbei, und das Ende nimmt seinen Anfang", stellte Schwester Karin düster fest, und falls es als Scherz gedacht war, wurde er von echtem Entsetzen überdeckt.
Sie war zweiundzwanzig und dachte fast nur daran, Spaß im Leben zu haben. Die dunklen Schatten unter ihren Augen nach ihren freien Wochenenden führten immer wieder zu Gelächter und Spott unter den Kollegen. Gutmütig ließ sie das über sich ergehen. Das Einzige, was ihr wirklich Angst machte, war die Vorstellung, einmal alt zu sein und keinen Spaß mehr haben zu können. Dreißig schien ihr geradezu uralt, und Stella gehörte ihr volles Mitgefühl.
"Na, herzlichen Dank für die frommen Wünsche! Hast du einen Strick für mich? Am Anfang vom Ende steht man doch immer wieder gerne", konterte Stella amüsiert. "Übrigens, Karin, alt wird man von ganz alleine. Zum Weisewerden gehört dann natürlich einiges mehr", neckte sie.
"Da droht bei Karin keine Gefahr", kommentierte eine ältere Krankenschwester giftig.
Alle lachten, und Karin lachte am lautesten. Man konnte ihr einfach nicht böse sein.
Auf der Station gab es viel zu tun, und so löste sich die heitere Runde schon nach einer Stunde auf, aber alle hatten das Zusammensein genossen.
"Das hat gut getan, und wir sollten es öfter machen - auch ohne besonderen Anlass!", meinten einige beim Abschied.
Karl-Heinz nickte zustimmend und nahm sich vor, solche Kaffeestündchen auf seiner Station regelmäßig anzuregen. Er überlegte sogar, mit Dr. Stefan Holl, dem Leiter der Berling-Klinik, darüber zu sprechen, ob die zusätzliche Stunde von der Klinikverwaltung als Sondervergütung bezahlt wurde.
Solche Begegnungen waren auch für andere Stationen ratsam, um ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zu erhalten, davon war er überzeugt. Im stressigen Alltag auf den Stationen konnte man leicht vergessen, dass man nicht alleine stand.
Früh-, Spät- und Nachtdienst kämpften alle für sich darum, irgendwie mit der Arbeit über die Runden zu kommen und die Patienten gut zu versorgen. Ein gesundes Gemeinschaftsgefühl konnte da viel Druck herausnehmen, was für alle Beteiligten ein Segen war.
Stella räumte rasch das Geschirr in die Spülmaschine, als die anderen gegangen waren. Dann sah sie wie an jedem Tag nach ihren Patienten. Einige wussten, dass sie Geburtstag hatte, und so dauerte es etwas länger als gewöhnlich, bis sie ihre Runde abschließen konnte.
Die Besuchszeit war inzwischen angebrochen, und wenn es nicht sein musste, störte sie das Zusammensein mit Familie und Freunden nie. Sie wusste, dass es für die Genesung ihrer Patienten nichts Zuträglicheres gab, als die Zuwendung ihrer Lieben. Wer alleine mit Krankheit und Furcht zurechtkommen musste, tat sich in der Regel schwerer.
Stella nutzte die Zeit, um die Tabletten für den Abend zu richten, und hing dabei ihren Gedanken nach. Dreißig - war das wirklich schon so alt? Karins Reaktion hatte sie trotz allem etwas getroffen. Es stimmte schon. Irgendwie war das Leben bisher nicht so verlaufen, wie Stella es erträumt und geplant hatte.
Sie war ein Familienmensch und sehnte sich nach einem Mann und Kindern. Mit dreißig hatte sie eigentlich längst verheiratet und Mutter sein wollen. Was war passiert? Die Antwort war einfach. Theo war ihr passiert.
Der Gedanke an ihn tat ein wenig weh wie immer. Manchmal redete sie sich ein, die Beziehung gut verarbeitet zu haben, aber die Traurigkeit, die sie überkam, wenn sie an ihn dachte, sprach eine andere Sprache. Es war nicht so, dass sie ihn noch immer vermisste. Sie wollte ihn nie wieder in ihrem Leben sehen. Die Erfahrung mit ihm hatte sie grundlegend verändert.
Sechs Jahre hatte sie mit Theo in Kempten zusammengelebt, und es waren im Prinzip schöne Jahre für sie gewesen. Theo hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie einmal heiraten würden und dass sie sich etwas zusammen aufbauten. Stella hatte ihr Leben mit ihm verbringen wollen. Für sie war er ganz klar der Mann gewesen, den sie liebte und zu dem sie gehörte.
Vermutlich war er das damals auch gewesen, und tief in ihr war er das in gewisser Weise sogar noch. Leider hatte er sich aber als Lügner und Betrüger der übelsten Sorte entpuppt, und die vermeintlich schönen Jahre waren ein einziger Betrug gewesen.
Während Stella die Miete ihrer gemeinsamen Wohnung alleine bezahlt hatte, damit Theo etwas zurücklegen konnte für ihre gemeinsame Zukunft, hatte er sein Geld mit anderen Frauen großzügig ausgegeben. Sie hatte ihn versorgt - gekocht, geputzt, die Wäsche gewaschen -, und er hatte sich ein schönes Leben auf ihre Kosten gemacht.
Stella hatte es nicht glauben wollen, als sie ihn zufällig aus einiger Entfernung Arm in Arm mit einer anderen in der Stadt beobachtet hatte. Gleich am Abend hatte sie ihn direkt darauf angesprochen.
"Ich liebe nur dich, mein Schatz!", hatte er ihr treuherzig erklärt. "Das hat doch nichts zu bedeuten. Mir hängt sich gerne einmal eine Frau an den Arm, aber nur du zählst!"
Die Antwort hatte sie in keiner Weise beruhigt und befriedigt, sondern erst richtig alarmiert. Da hatte etwas ganz und gar nicht gestimmt. Sechs Monate danach hatte Stella ihn verlassen und sich die Stelle in der Berling-Klinik in München gesucht, um wirklich von ihm loszukommen und Abstand zwischen sich und ihn zu bringen.
Ganz offensichtlich hatte er unter Liebe etwas anderes als sie verstanden und nichts von Treue gehalten. Einmal aufmerksam geworden, hatte Stella all die Spuren der anderen nicht mehr übersehen können. Die zahlreichen Überstunden und Geschäftsreisen, für die sie ihn stets bedauert hatte, hatten sich als Erfindungen erwiesen. Die ganze Zeit über hatte er ein Doppelleben geführt.
Vier Jahre lebte und arbeitete Stella nun schon in München. Theo hatte anfangs ein paarmal angerufen, aber dann hatte er bald eine andere Dumme gefunden, die seine Miete übernahm und ihn versorgte. Sonderlich schwer war sie nicht zu ersetzen gewesen.
Stella dagegen gelang es nicht so leicht, wieder einem Mann zu vertrauen. Sie war eine schöne Frau, und natürlich wurde sie öfter eingeladen, und Männer bemühten sich um sie, aber sie blieb auf Distanz. Bisher hatte sie keinem eine Chance gegeben, ihr Herz zu berühren. Noch einmal wollte sie nicht die Betrogene sein, und ihrem strengen Blick hielt keiner stand.
Musste sie ihren Traum von Liebe, Glück und Familie zu den Akten legen und sich damit zufriedengeben, Freude an ihrem Beruf zu haben? Der Gedanke war nicht schön, denn da fehlte etwas in ihrem Leben. Sie wünschte sich mehr. Konnte sie noch den Richtigen finden und eine Familie aufbauen? Sie hoffte es sehr.
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"Du musst am Sonntag gewinnen! Rufus, du musst alles aus Agaran herausholen! Es ist sein letztes Rennen, und wenn er es siegreich beendet, dann haben wir es geschafft. Als Zuchthengst macht er dann selbst Monsun noch Konkurrenz. Von überall kommen Anfragen. Alle möchten, dass er ihre Stuten deckt. Agaran ist unser Schlüssel zu einem sorgenfreien Leben, und wir ."
Rufus Meisen ließ seine Verlobte Yvonne Gräve reden und musterte sie nachdenklich. Es war seltsam, aber...