Wie aus heiterem Himmel überfiel es sie wieder, dieses unangenehme Schwindelgefühl, das sie so hilflos machte.
Bettina Schaller lehnte sich gegen die Wand.
Wo, um Himmels willen, gab es einen freien Sitzplatz?
Ihr Blick erfasste das Sofa im großen Wohnraum. Sich einfach darauf sinken lassen und die Augen schließen, das würde sie jetzt am liebsten tun. Aber dann müsste sie den anderen sicher auch Fragen nach ihrem Befinden beantworten. Nein, lieber nicht.
Die Geräusche um sie herum klangen jetzt gedämpft, als hätte sich eine dicke Watteschicht über Benedikts Party gelegt. Die Furcht, ohnmächtig zu werden und einfach umzukippen, nahm zu.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Doch zu ihrer großen Erleichterung verschwand die unangenehme Empfindung schon nach kurzer Zeit wieder. Durfte sie sich schon erleichtert fühlen?
Zur Probe machte sie ein paar vorsichtige Schritte in Richtung offene Terrasse, dann gleich noch ein paar. Im Freien angekommen, atmete sie tief durch.
Die Stimmen um sie herum wurden deutlicher. Die Sonne schaute durch einen Wolkenspalt. Bettinas Unsicherheit verschwand, und niemand sah ihr an, dass sie sich gerade noch so elend gefühlt hatte.
Letzte Nacht hatte sie schlecht geschlafen, am Morgen kaum gefrühstückt und nur einen schwarzen Kaffee getrunken. Und auch mittags war sie nicht zum Essen gekommen.
Kein Wunder, dass sie nun von einem Schwächeanfall heimgesucht wurde!
"Ein gutes Frühstück ist die beste Grundlage für den ganzen Tag", hatte Omi Adele ihr immer gepredigt. Bettina nahm sich vor, in Zukunft strenger auf eine regelmäßigere Nahrungsaufnahme zu achten.
Vergiss diesen Vorsatz nicht wieder!, ermahnte sie sich stumm.
Weiter hinten im Garten sah sie Nico an einem Tisch mit anderen sitzen. Er erzählte gerade eine der vielen Geschichten aus seinem reichhaltigen Fundus. Seine volle Baritonstimme übertönte die anderen Geräusche. Die Leute um ihn herum lauschten fasziniert.
Wie immer wirkte seine Anziehungskraft geradezu magisch auf seine Umgebung. Nie blieb er unbeachtet. Er dominierte jeden Raum, den er betrat, stand immer im Mittelpunkt, ohne dass er etwas dafür tun musste.
Seine große Gestalt, seine weit tragende Stimme, seine charismatische Art, all das erregte bei anderen Menschen Aufmerksamkeit. Kaum traf er irgendwo ein, so wie heute auf der Party eines Freundes, scharten sich gleich die Gäste um ihn, bombardierten ihn mit Fragen nach seinen nächsten Projekten und gestanden, wie sehr er ihnen in der Rolle des Kommissars Bender gefiel.
Wie die sprichwörtlichen Motten das Licht umschwirrten, so suchten andere seine Nähe, sobald sie ihn sahen. Seine Aura zog alle an.
Bettina war längst nicht mehr eifersüchtig. Sie wusste, dass sie die öffentliche Person Nico Weinberger mit einem großen Publikum teilen musste. Noch während der allerersten leidenschaftlichen Begegnung hatte sie das begriffen.
Nur in ganz wenigen, privaten Momenten gehörte der prominente Fernsehschauspieler ihr allein. Leider wurden diese wenigen Augenblicke in letzter Zeit immer noch seltener. Aber das war jetzt nicht wichtig. Sie wollte zu ihm.
Mit langsamen Schritten ging sie auf den Tisch zu. Nico war so sehr in seinem Element, dass er sie nicht bemerkte. Er gestikulierte, lachte, sprach laut und manchmal breitete er die Arme ganz weit aus, als wollte er die ganze Welt umarmen.
Sie trat hinter ihn und legte mit leichtem Druck ihre Hände auf seine Schultern. Er wusste sofort, dass sie es war, und griff nach ihrem linken Handgelenk.
Liebevoll drückte er einen Kuss auf den Brillantring, den er ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Den Umsitzenden aber erklärte er mit dem charmantesten Lächeln der Welt: "Das ist mein ganz persönlicher Schutzengel."
Bettina errötete vor Freude. Sie genoss es, wenn er sich in aller Öffentlichkeit zu ihr bekannte. Sie lebte auf. Der Schwindelanfall war schon wieder vergessen.
Einer der jungen Männer holte noch einen zusätzlichen Stuhl für sie, der unbesetzt in der Nähe stand. Bettina nahm Platz, obwohl sie Nico gern unter vier Augen gesprochen hätte. Als jemand anderer aus der Runde sprach, drückte sie schnell Nicos Arm. Er neigte sich zu ihr.
"Bleiben wir noch lange?", flüsterte sie in sein Ohr.
"Willst du schon gehen?", fragte er erstaunt zurück. "Aber der Abend fängt doch jetzt erst an! Und endlich wird es etwas kühler nach diesem heißen Tag. Soll ich dir was zu trinken besorgen?"
"Irgendwo habe ich mein Glas stehen lassen", gab Bettina zurück.
Vielleicht war es wirklich etwas übertrieben, jetzt schon zum Aufbruch zu drängen. Es konnte durchaus noch ein angenehmer Abend werden. Auch die Stimmungswellen schlugen immer höher.
"Ich hole dir ein Glas Wein", entschied Nico und eilte davon, ehe Bettina ihn zurückhalten konnte.
Benedikt Großmann, Gastgeber und einer der engeren Freunde Nicos, kam näher. Er musterte Bettina aufmerksam.
"Alles okay?", wollte er wissen.
"Ja, natürlich. Es ist eine Super-Party."
In seinem Blick glaubte sie zu sehen, dass er an ihrer Aussage zweifelte. Hatte er womöglich sogar etwas von ihrer Schwäche bemerkt?
Demonstrativ wedelte sie sich mit der Hand ein wenig Luft zu.
"Aber es ist heute auch unglaublich heiß."
Benedikt grinste breit. "Dafür hatten wir letzte Woche einen Kälteeinbruch mitten im Sommer. Die Wärme ist mir auf jeden Fall lieber. Und in ein paar Wochen kommen eh schon die ersten Herbststürme. Also genießen wir nach Kräften die sonnigen Tage."
Bettina musste ihm recht geben. Doch bevor sie etwas äußern konnte, läutete ihr Handy. Eigentlich hätte sie es ausschalten sollen, aber nun war es zu spät.
Robert Merwald rief an, einer ihrer Patienten. Sie nahm den Anruf entgegen, stand auf und suchte Deckung hinter einem Rhododendron-Busch.
"Herr Merwald, was gibt's denn?"
"Frau Schaller, kann ich zu Ihnen kommen? Mir geht es ziemlich schlecht ."
Sie zögerte kurz. "Aber Sie wissen doch, dass es bestimmte Abmachungen gibt, an die wir uns halten müssen. Morgen haben wir einen Termin. Dann können wir reden."
"Ich weiß nicht, ob ich bis dahin durchhalte ."
"Das werden Sie müssen", sagte Bettina eindringlich. "Ich bin zwar Ihre Therapeutin, das bedeutet aber nicht, dass ich Ihnen ständig zur Verfügung stehe. Haben Sie Ihre Medikamente genommen?"
Darauf gab er keine Antwort, sondern stöhnte nur.
"Ich fühle mich so elend. Mir ist, als wäre ich in einen tiefen Brunnen gefallen. Und die Wände sind so hoch und glitschig, dass ich aus eigener Kraft nicht mehr nach oben komme."
"Wir werden morgen darüber reden ."
"Nein, jetzt. Sonst kann ich für nichts garantieren."
"Was soll das heißen?"
"Es ist wohl besser für alle, wenn ich tot wäre."
"Das will ich nicht gehört haben. Außerdem ist das keine Lösung Ihrer Probleme."
"Vielleicht nicht, aber dann belastet mich nichts mehr ."
"Hören Sie auf, Herr Merwald!", verlangte Bettina. "Und bitte tun Sie nichts Unüberlegtes! Sie dürfen Ihr Leben nicht wegwerfen. Sie haben nur das eine. Bitte, beruhigen Sie sich! Wenn es Ihnen hilft, komme ich kurz vorbei, aber ich werde nicht lange bleiben."
"Das ist mir egal, Hauptsache, Sie machen mir so viel Mut, dass es bis morgen reicht."
"Ich kann Sie in die psychiatrische Klinik bringen lassen ."
"Um Himmels willen, nein!" Der Mann schrie so laut, dass sie das Telefon vom Ohr weghielt.
"Beruhigen Sie sich! Es war nur ein Vorschlag. Wo sind Sie jetzt?"
"Zu Hause."
"Gut, dann erwarte ich Sie in einer Stunde in der Praxis. Bitte, seinen Sie pünktlich! Wir legen eine zusätzliche Sitzung ein. Fünfzig Minuten, nicht länger."
Bettina wusste, dass ein gewisser Abstand zwischen ihr und den Patienten nötig war, ein Abstand, der immer eingehalten werden musste. Sie durften sich nicht zu nahekommen.
Robert Merwald schien das noch nicht begriffen zu haben. Seine Therapeutin, so glaubte er, musste Tag und Nacht für ihn verfügbar sein. Sie musste ihm noch mal in aller Deutlichkeit klarmachen, dass er sich in diesem Punkt irrte.
Die junge Psychotherapeutin beendete das Gespräch. Soeben kam Nico mit einem Glas Rotwein zurück und schaute sich suchend nach ihr um. Schnellen Schrittes ging sie auf ihn zu. Das Schwindelgefühl war vollkommen weg, dafür bekam sie jetzt Kopfschmerzen. Hoffentlich wurden sie nicht so heftig wie beim letzten Mal! Heute schien wirklich nicht ihr Tag zu sein.
"Ich muss gehen", sagte sie leise zu Nico. "Ein Patient rief gerade an. Er ist ziemlich verzweifelt. Ich muss ihm helfen."
"Ist das denn nötig?" Obwohl sich Nico während der Party noch kein einziges Mal wirklich um sie gekümmert hatte, machte er jetzt aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. Er...